Projektbeschreibung
Kontext
Die Widerspruchsausschüsse entscheiden jährlich an die 400.000 Widersprüche von Versicherten in den vier großen Sparten der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, der Rentenversicherung einschließlich der Alterssicherung für Landwirte und der Unfallversicherung. Die Ausschüsse haben für den Sozialrechtsschutz eine Schlüsselstellung. Sie kontrollieren die Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Bescheide. Mit ihren Widerspruchsbescheiden endet das Vorverfahren, das nach § 78 Sozialgerichtsgesetz vor Erhebung einer Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage zu durchlaufen ist. Damit bilden Widerspruchsausschüsse eine Filterstation auf dem Weg zu den Sozialgerichten. Als Einrichtungen der Sozialversicherungsträger können sie zur Qualitätssicherung des Sozialverwaltungsverfahrens beitragen. Durch ihre Ehrenamt und Hauptamt verbindende Zusammensetzung setzen die Ausschüsse den Grundsatz der Selbstverwaltung in der deutschen Sozialversicherung in Verfahrenspraxis um.
Fragestellung
Der Organisation, den Arbeitsweisen und Wirkungen der Widerspruchsausschüsse in der Sozialversicherung hat sich das rechtsempirische Forschungsprojekt unter vier Fragestellungen angenähert: (1) In welcher Besetzung, auf welche Weise und mit welchen Ergebnissen und Wirkungen überprüfen Widerspruchsausschüsse rechtliche Entscheidungen der Sozialversicherungsträger gegenüber ihren Versicherten auf Richtigkeit, Zweckmäßigkeit und Fairness? (2) Wie tragen die Ausschüsse durch ihre Kontrollpraxis zur Qualitätssicherung der Arbeit der Sozialversicherungsträger bei? (3) In wie vielen und in welchen Fällen hat die Tätigkeit der Widerspruchsausschüsse zur Folge, dass die Versicherten ihre Unzufriedenheit mit einem Sozialverwaltungsakt nicht in eine Klage zum Sozialgericht umsetzen? (4) Inwieweit tragen Widerspruchsausschüsse im Rahmen der Selbstverwaltung zur Verwirklichung des Gedankens der "sozialen Mitbestimmung" in der Sozialversicherung bei?
Untersuchungsmethoden
Das Forschungsprojekt legte mit Hilfe von Literatur und Rechtsprechung sowie Expertenauskünften die Grundlagen für einen Fragebogen zur Befragung aller Mitglieder von Widerspruchsausschüssen in der Sozialversicherung. Dieser wurde über die Sozialversicherungsträger an die Ausschussmitglieder verteilt. Durch die standardisierte Befragung konnten die Wahrnehmungen und Bewertungen der Verfahrenspersonen erhoben werden. Um zu einem von den Wahrnehmungen unabhängigen Bild des Verfahrens zu gelangen, erfolgten eine Aktenanalyse an drei Sozialgerichten sowie die Analyse der Satzungen der Sozialversicherungsträger. Die Zahlen zu den in Deutschland erhobenen und erledigten Widersprüchen in der Sozialversicherung und zu den Erfolgsquoten konnten aus den Statistiken des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales berechnet werden. Mit einem Kurzfragebogen erfolgten zudem die Erfassung oder zumindest belastbare Abschätzung der Gesamtzahlen von Widerspruchsausschussmitgliedern bei den Trägern.
Darstellung der Ergebnisse
Insgesamt bilden Widerspruchsausschüsse in der Sozialversicherung nach den Ergebnissen des Forschungsprojekts ein anschauliches Beispiel für die legitimierende Wirkung eines Verfahrens. Mit ihrer Zusammensetzung und ihren Verfahrensweisen können sie darüber hinaus für die Wirkung von Verfahrensgerechtigkeit sorgen.
Die Untersuchung kann aus der Innensicht der Mitglieder von Widerspruchsausschüssen ein selbstbewusstes, verantwortliches und zur Recht- und Zweckmäßigkeitskontrolle fähiges Verfahren belegen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass dem Widerspruchsausschuss als „Schnittstelle“ zwischen der Widerspruchsbearbeitung bzw. dem Widerspruchsbescheid durch die Verwaltung und dem Einreichen einer Klage bei Sozialgerichten eine wichtige Rolle zukommt. Kritische Punkte und weiterer Forschungsbedarf wurden identifiziert bei der Kommunikation der Widerspruchsausschüsse mit den Versicherten und dem Zusammentreffen ehrenamtlicher Mitwirkung mit den professionellen Wissensordnungen der Verwaltung und der Sozialmedizin.