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Hochregallager

: Schöne neue Arbeitswelt? Onlinehandel unter der Lupe

Leckere Pizza, eine neue Hose oder ein Buch? Es gibt kaum noch Waren, die sich nicht auch bequem vom Sofa aus über das Internet bestellen lassen. Das alles wird für Kunden immer attraktiver. Doch wie sieht es mit den Arbeitsbedingungen von der Produktion bis zur Lieferung aus – und welche Rolle spielen Online-Plattformen?

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts boomt der Online-Einzelhandel in Deutschland, die Corona-Pandemie mit ihren Lockdowns versetzte ihm einen weiteren Kick. An der Spitze der Käufergunst steht Kleidung, sehr beliebt ist auch der Online-Kauf von Computern und Software.

Allerdings wird die Bedeutung des Online-Segments im gesamten deutschen Einzelhandel manchmal überschätzt. Nach Berechnungen des Handelsverbands Deutschland (HDE) lag sein Anteil 2022 bei einem Umsatz von insgesamt 422 Milliarden Euro lediglich bei 18,6 Prozent – gerechnet ohne die Lebensmittelbrache. Das ist knapp ein Fünftel des Markts. Im Lebensmittel-Segment machte E-Commerce bei 210 Milliarden Euro Umsatz im vergangenen Jahr sogar nur 2,9 Prozent aus.

Onlinehandel ist erst durch digitale Plattformen möglich, die das Geschäft vermitteln. Grundsätzlich wird zwischen zwei großen Bereichen unterschieden:

B2B oder Business to Business. Der englische Begriff meint Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen. Dabei werden Produkte oder Services zum Beispiel zwischen Herstellern und dem Großhandel oder zwischen dem Groß- und Einzelhandel vertrieben.

B2C oder Business to Customer. Der englische Begriff beschreibt Geschäftsbeziehungen zwischen einem Unternehmen und Privatpersonen als Kunden (Endverbraucher).

Doch wie laufen diese Geschäfte ab? Wer profitiert, wer verliert? Welche Regeln gibt es, welche fehlen? Wer übernimmt Verantwortung, wer kontrolliert? Onlinehandel ist so vielfältig, dass es darauf nicht die eine geniale Antwort geben kann. Vom Tagelöhner-Niveau in der Logistik oder bei manchen Lieferdiensten bis hin zu hochqualifizierten IT-Mitarbeitenden in unbefristeten und gut bezahlten Jobs scheint je nach Branche alles möglich zu sein. Aber wo geht die Reise hin? Onlinehandel ist so dynamisch, dass auch Forschende kaum langfristige Prognose wagen.

  • Zeichnung Graphic Recording Onlinehandel
    Zeichnung: Christoph J. Kellner

Die kriegen wir nicht zurück in die Flasche: Meinungen über die Onlinebranche

Für ihren Forschungsverbund „Ökonomie der Zukunft“ hat die Hans-Böckler-Stiftung Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen eingeladen, über die Onlinehandels-Welt zu berichten. Die Beiträge werfen Schlaglichter auf eine vielschichtige Branche im Auf- und Umbruch.

Für Professor Elmar Kulke, Wirtschaftsgeograph an der Berliner Humboldt-Universität, ist die Dynamik im Online-Handel fast atemberaubend. Immer mehr Produktgruppen kämen hinzu, sagt er. Dazu auch neue, manchmal rein regionale Liefersysteme. Kulke vergleicht die klassische Arbeitswelt mit Fachverkäuferinnen und Fachverkäufern mit einer Zwiebel – breit aufgestellt, vor allem in der Mitte. Bei der Entwicklung des Online-Handels kommt ihm eher ein Stundenglas in den Sinn. Oben sitzen zum Beispiel gut bezahlte IT-Spezialisten, in der Mitte gibt es fast nichts und unten in der Breite finden sich gering qualifizierte Menschen in schlecht bezahlten und oft wenig sicheren Jobs. An den Willen der Konsumenten, durch bewusstere Kaufentscheidungen etwas an dieser Lage zu ändern, glaubt Kulke nicht. „Da gilt weiter billig, billig, billig.“

„Ich glaube nicht an eine generelle Geiz-ist-geil-Mentalität in Deutschland“, sagt dagegen Thomas Fischer vom DGB-Bundesvorstand, Leiter der Abteilung Grundsatz und gute Arbeit. „Es hat sich etwas verändert, seit eine breite Öffentlichkeit von den katastrophalen Produktionsbedingungen in der Textilindustrie wie zum Beispiel in Bangladesch erfahren hat. Wir beobachten in diesem Bereich eine hochgradige  Sensibilisierung der Kundschaft.“ Auch in anderen Bereichen gebe es vielversprechende Indizien dafür, dass sich etwas zum Besseren wandele - Stichwort Nachhaltigkeit und ökologische Tierzucht.

Bei Fleisch finde gerade ein Bewusstseinswandel statt, bis hin zu den Arbeitsbedingungen. „Ich wage zu prognostizieren, dass wir hier durch den Generationenwechsel auch ein geändertes Käuferverhalten erleben.“ Es gehe also darum, mehr Bewusstsein dafür zu schaffen, welche Arbeitsbedingungen hinter Verkaufsgütern stünden – im stationären Handel wie auch auf digitalen Plattformen. Dabei gehe es auch um die, die diese Güter transportierten. „Das Problem sind nicht fehlende Gesetze. Viele Spediteure in Europa kümmern sich schlicht und ergreifend nicht um die rechtlichen Vorgaben.“ Es gebe schließlich die europäische Mindestlohnrichtlinie. Doch dafür seien funktionierende Aufsichtsstrukturen in der ganzen EU nötig. „Es ist also ein Umsetzungs- und Kontrollproblem, kein Regelungsproblem.“ Es gebe auch eine europäische Richtlinie zur Arbeit auf digitalen Plattformen samt  Mindeststandards für Beschäftigte im Bereich B2B. Wo dieser Rahmen noch weitgehend fehle, sei der Bereich B2C.

Dr. Florian Butollo, Soziologe am Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, glaubt auch nicht, dass es in der digitalen Welt mit Billig-Arbeit ungebremst so weitergeht – aus anderen Gründen. Der Fachkräftemangel werde dazu führen, dass die prekarisierte Arbeitswelt, oft von Migranten geprägt, nicht so bleibe wie sie ist. „Dass man Logistik gratis mitverkaufen kann, das funktioniert nicht mehr überall“, sagt er. In der Region Leipzig schließe sich dieses „arbeitspolitische Gelegenheitsfenster“ gerade. „Ohne ein bis zwei Euro mehr zum Mindestlohn findet sich da kaum noch jemand“, ergänzt Butollo. Es gebe jetzt verstärkt unbefristete Arbeitsverträge, um Beschäftigte zu halten. Ohne Geflüchtete wäre dieser Arbeitsmarkt, der in der Regel nicht auf Qualifizierung angelegt sei, wahrscheinlich schon mausetot. Selbst Roboter würden die Lücke im Moment nicht füllen. Nur ein Sechstel der Belegschaft, schätzt Butollo, könne im Moment durch Maschinen ersetzt werden.

Auch Flächen für Logistikzentren sind nach Meinung von Professor Martin Franz, Humangeograf an der Universität Osnabrück, nicht mehr so leicht zu haben wie früher. „Kommunen sind wählerischer geworden“, sagt er. „Sie denken auch an die Zahl der Arbeitsplätze und an die Steuern und geben mitunter anderen Bewerbern den Zuschlag.“ Die Möglichkeiten von Automatisierung verstärkten dieses Umdenken. „Manche Modelle für Onlinehandel kann das gefährden“, urteilt er. Auch Franz glaubt an ein „reinigendes Gewitter“, weil dem Onlinehandel in manchen Regionen die Arbeitskräfte ausgehen könnten.

Für die Wirtschaftsgeografin Alica Repenning sind Online-Plattformen im Handel nicht mehr wegzudenken. „Die kriegen wir nicht zurück in die Flasche“, sagt sie. Die Wissenschaftlerin beschreibt ein Machtungleichgewicht zwischen großen Social Media Plattformen und denjenigen, die dort Handel treiben. „Es fehlt an gemeinsamen Möglichkeiten, Arbeitsstrukturen zu schaffen.“ Dennoch sieht sie zum Beispiel im Bereich Mode auch ein hochqualifiziertes Segment wachsen. Eine Online-Präsenz biete die Möglichkeit, mit intensiver und regelmäßiger Arbeit über digitale Plattformen eine eigene Marke aufzubauen.  „Selbstständig heißt aber nicht selbstbestimmt“, schränkt sie mit Blick auf die Macht und Vorgaben der Plattformbetreiber ein. Die Mechanismen von Angebot und Nachfrage auf digitalen Plattformen seien auch sehr dynamisch: „Es ist schwer vorherzusehen, was im nächsten Monat gefragt ist.“

Wie Plattformen und Digitalisierung eine kleine Branche verändern können, hat Techniksoziologe Dr. David Seibt von der Technischen Universität Berlin für ein ganz spezielles Segment untersucht: die Orthopädietechnik. Für die Produktion von Prothesenschäften gebe es heute 3-D-Scanner statt Gipsabdrücke, berichtet er. Das erlaubt eine Verlagerung der Produktion von lokalen Werkstätten zu zentralen Dienstleistern. Im Bereich der Passteilfertigung zeichne sich stattdessen eine Dezentralisierung ab. Wenn es Strom, Internetzugang und Material erlaubten, könne ein 3-D-Drucker für Handprothesen auch im globalen Süden stehen, ohne lange Lieferwege. Neben Plattformangeboten von Start-ups seien auch Zusammenschlüsse von Sanitätshäusern für die kooperative Anschaffung digitaler Technik möglich. Es gebe sogar die Möglichkeit, sich in Open-Source Communities privat an der Produktion bestimmter Hilfsmittel zu beteiligen. Im Gegensatz zu anderen Branchen sieht Seibt für die Orthopädietechnik wenig der sonst oft typischen Machtasymmetrie zu Gunsten der Plattformen. „Die Plattform muss auf Orthopädietechniker und Endnutzer eingehen, nicht umgekehrt“, sagt er.

Unternehmer René Otto bietet strategische E-Commerce Beratung an. Mit Blick auf seine Hamburger Firma sagt er:  „Es geht nur über eine hohe Verantwortung des Einzelnen und über Vertrauen bei den Mitarbeitern.“ Patriarchale Strukturen seien von gestern. Noch immer begeistern ihn die Möglichkeiten des Online-Business. „Früher gab es Mikromärkte, heute kann ich national und international loslegen“, ergänzt er. Es sei möglich, um 14.30 Uhr mit Merchandising zu starten und um 14.32 Uhr die erste Bestellung zu bekommen. Ein Wermutstropfen bleibt. 30 bis 35 Prozent der Einnahmen gingen an die große digitale Plattform, auf der er anbiete, sagt Otto. „Die drehen an den Preisschrauben und das ist für die kleinen Online-Unternehmen echt schwierig.“ Und da ist noch etwas. Der Innovationsdruck im dynamischen E-Commerce hinterlässt seine Spuren. „Ich bin nicht pessimistisch, aber manchmal aufgerieben“, gibt Otto zu. „Doch ich muss unternehmen und nicht unterlassen.“

  • Peter Dannenberg

Interview

„Das geht dann letztendlich an die Würde“

Onlinehandel verändert die Arbeitswelt. Für Professor Peter Dannenberg, Humangeograf und Regionalforscher an der Universität Köln, ist E-Commerce aber nicht schuld daran, dass in vielen Innenstädten Läden leer stehen. Diese Entwicklung spiele mit hinein und mache es mit Sicherheit nicht besser, sagt er. Doch den Rückgang der kleinen inhabergeführten Läden habe es deutlich vor dem Onlinehandel gegeben. Grund seien oft die großen Shoppingcenter am Stadtrand, die mit ihrem Alles-unter-einem-Dach-Konzept bequemer für Kunden seien.

Die einen halten digitale Plattformen und Onlinehandel auch in Deutschland für Raubtier-Kapitalismus, andere sprechen von Chancen für Mini-Unternehmen mit guten Ideen. Was stimmt davon und wie könnte es weitergehen?

In dieser dynamischen Branche wage ich nicht, weit in die Zukunft zu schauen. Wir sehen im Moment sehr, sehr viele unterschiedliche Geschäftsmodelle, bei denen auch die Arbeit sehr unterschiedlich ist. Im Moment gibt es immer noch ein Austesten, welche Modelle sich durchsetzen. Da gibt es diese Quick-Commerce-Ansätze, also zum Beispiel die Essens-Auslieferung per Fahrrad unter oft problematischen Arbeitsbedingungen. Da versteht kaum jemand, wie die momentane Vielfalt in Großstädten eigentlich funktionieren soll. Es sei denn, ein Anbieter setzt sich durch und alle anderen haben Pleite gemacht. Dann wird es teurer, man kann damit Geld verdienen und im besten Fall dann auch gute Arbeit anbieten. Aber hier ist zu erwarten, dass viele Anbieter verschwinden werden, und das kann auch relativ schnell gehen.

Trifft das auf alle Online-Bringedienste im Lebensmittelbereich zu?

Nein. Es gibt in diesem Bereich auch Modelle, die sowohl für den Kunden als auch für die Zustellenden anders funktionieren. Da bestellt man zum Beispiel im Supermarkt und dann kommt auf festen Routen ein Elektrowagen vorbei. Der Fahrer klönt dann auch ein bisschen, um Stammkunden aufzubauen. Das ist zum Beispiel ein Superangebot für Familien mit Kindern, die wenig Zeit zum Einkaufen haben,  oder auch für alte Menschen. Das Geschäftsmodell sieht zumindest langfristige Einstellungen vor, allein schon wegen der Stammkunden. Große Proteste wie bei den Fahrradkurieren habe ich in diesem System noch nicht mitbekommen.

Noch macht Onlinehandel über digitale Plattformen lange nicht den Löwenanteil im Einzelhandel aus. Wo sehen Sie Hemmnisse, wo Chancen?

Auch auf digitalen Plattformen gibt es Probleme, zum Beispiel bei der Ausnutzung von Marktmacht. Aber es gibt eben auch die Möglichkeit für Anbieter, mit einer guten Idee schnell und mit wenig Kapital online ein Geschäft aufzumachen. Denn ich brauche keine eigene Marketing- und Logistikabteilung und kann auch mit geringen Mengen an den Markt gehen oder nur auf Bestellung produzieren. Dafür nehmen sich die Plattformen natürlich eine ordentliche Marge. Aber ohne Plattformen hätten sich in vielen Teilen des Onlinehandels wohl oft nur die ganz Großen durchgesetzt, weil sie diese Infrastruktur selbst an Bord haben. Damit will ich die Schattenseiten aber überhaupt nicht kleinreden.

Gibt es denn Qualifizierungschancen für Beschäftigte im Onlinehandel?

Mein Eindruck aus den Interviews, die ich geführt habe: Wenn jemand motiviert ist und aufsteigen will, gibt es Möglichkeiten. Oder es gibt die Chance, den Job zu wechseln. Es ist eine gewisse Form des Einstiegs in den geregelten Arbeitsvertrag. Gerade für Geflüchtete kann bei einem Wechsel ein erstes Arbeitszeugnis sehr wichtig sein als Einstiegschance. Andere Onlinehändler nehmen schon als Praktikanten nur Leute mit Abitur, viele Mitarbeitende werden langfristig gebraucht und dementsprechend gefördert. Die ganze Branche ist eben sehr heterogen. Es gibt Studien zu Fahrrad-Kurieren. Danach werden die Fahrer dort bewusst klein gehalten. Es gibt Versuche, Betriebsräte zu verhindern. Oder überwiegend Menschen einzustellen, die sich im System nicht so gut auskennen, sich nicht organisieren können und gar nicht auf die Idee kommen, ihr Recht einzufordern. Da wird dann gar nicht angestrebt, dass Leute da Karriere machen. Das geht dann in Richtung Prekarisierung.

Was genau verstehen Sie darunter?

Wenn Menschen wie in einigen großen Logistikzentren zum Beispiel nur vorgeschriebene Wege gehen dürfen wie ein Roboter. Wenn sie zur Kollegin noch nicht einmal mehr „hallo“ sagen können, weil das alles so durchgetaktet ist. Das geht letztendlich an die Würde, das ist kein gutes Arbeitsleben über acht Stunden. Wenn das zunimmt, geht es in Richtung Prekarisierung. Da  haben mir auch Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter gesagt: Das wollen wir so nicht. Da müssen wir gegen ankämpfen. All diese Strömungen wollen wir noch genauer untersuchen: Welche Formen der Integration gibt es für Menschen, die sonst schwer in den Arbeitsmarkt kommen? Und welche Formen der Prekarisierung gibt es? Wahrscheinlich gibt es sogar beides gleichzeitig.

Quellen für Brachenzahlen

https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Grosshandel-Einzelhandel/einzelhandel-online-handel.html

https://einzelhandel.de/online-monitor, Seite 10

Zum Weiterlesen:

https://www.boeckler.de/de/podcasts-22421-oekonomie-der-zukunft-49580.htm

https://www.econstor.eu/bitstream/10419/271009/1/1840612010.pdf

https://www.econstor.eu/bitstream/10419/271008/1/1840611677.pdf

Repenning & Oechslen (2023) ‘Creative digipreneurs: Artistic entrepreneurial practices in platform-mediated space’, Digital Geography and Society.

https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2666378323000107

Repenning (2022) ‘Workspaces of mediation: How digital platforms shape practices, spaces and places of creative work’, Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie (TSEG)

https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/tesg.12508

https://www.boeckler.de/de/suchergebnis-forschungsfoerderungsprojekte-detailseite-2732.htm?projekt=2017-464-2

https://www.boeckler.de/de/suchergebnis-forschungsfoerderungsprojekte-detailseite-2732.htm?projekt=2017-367-2

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