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Aktuelle Branchen-Bestandsaufnahme: ÖPNV: Wachsende Fahrgastzahlen, erschwerte Arbeitsbedingungen und ein enormer Investitionsstau

08.12.2015

Die Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) in Deutschland haben die Anpassung an die von der Europäischen Union geforderten Wirtschaftlichkeits- und Wettbewerbsbedingungen geschafft. Das zeigt sich unter anderem daran, dass die öffentlichen Träger die ÖPNV-Unternehmen durchweg auf dem Wege der Direktvergabe damit beauftragt haben, den lokalen ÖPNV für längere Zeiträume bis 20 Jahre zu organisieren. Voraussetzung dafür war eine wirtschaftliche Restrukturierung der kommunalen ÖPNV-Unternehmen. Allerdings haben die kostenorientierten Umstrukturierungen vielfach die Arbeitsbedingungen deutlich verschlechtert: Personalabbau und engere Schichtpläne erhöhen insbesondere im Fahrdienst und in den Werkstätten den Druck auf die Beschäftigten. Ein weiteres großes Problem sind Investitionsrückstände, die in einzelnen Städten bereits zu Einschränkungen im Fahrplan führen. Die Engpässe dürften sich in den kommenden Jahren noch verschärfen, weil die Mehrheit der ÖPNV-Unternehmen mit steigenden Kundenzahlen rechnet. Das zeigt eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte neue Analyse der ÖPNV-Branche.

Die Analyse stützt sich unter anderem auf zahlreiche Interviews mit Branchenexperten und eine Umfrage, an der sich Manager aus 55 Prozent der deutschen ÖPNV-Unternehmen sowie 207 Mitglieder von ÖPNV-Betriebs-und Personalräten beteiligt haben. Die Kernergebnisse:

Steigende Fahrgastzahlen bei großen regionalen Unterschieden.

Drei Viertel aller ÖPNV-Unternehmen in Deutschland rechnen bis zum Jahr 2020 mit einem erheblichen Zuwachs an Fahrgästen. Allerdings zeigt sich bei näherer Betrachtung ein großes Stadt-Land-Gefälle: Während unter den Nahverkehrsunternehmen in Großstädten und Metropolen 100 Prozent erwarten, dass künftig mehr Menschen am Ort mit Bussen und Bahnen fahren werden, sind es in kleineren Städten und in ländlichen Gebieten nur 24 bis 29 Prozent.

In der Finanzierung des ÖPNV gibt es erhebliche Lücken.

Allein bis 2015 ist nach der Branchenanalyse bei der Infrastruktur, also bei den Schienenanlagen, ein Investitionsrückstand von geschätzten 4 Milliarden Euro aufgelaufen. Laufend fehlen jährlich ca. 500 Millionen Euro für den Abbau der Investitionsrückstände und für Neuinvestitionen. Ein Riesenproblem ist zusätzlich die Ersatzbeschaffung von Fahrzeugen, denn hierfür sind keine Rücklagen gebildet worden. Anstatt regelmäßig Fahrzeuge zu kaufen, würden Busse und Bahnen einem höheren Verschleiß unterworfen, schreibt der Unternehmensberater Hubert Resch, Autor der Studie. Das habe Folgen, die längst auch die Fahrgäste belasten: So musste in Bremen aufgrund reparaturbedürftiger Straßenbahnen bereits der Fahrplan eingeschränkt werden. Die kürzlich in der Hansestadt beschlossene Beschaffung von 67 Bahnen mit einem Kostenvolumen von 260 Millionen Euro garantiere frühestens ab 2020 eine Entlastung durch neue Fahrzeuge.

Große Unsicherheit besteht der Analyse zufolge auch bei der Abgeltung der Betriebskosten durch die jeweiligen Kommunen. Drei Viertel der befragten Unternehmen befürchten eine Reduzierung der Investitionsmittel und zwei Drittel sehen bei der Abdeckung des laufenden Verlustausgleichs eine Absenkung auf sich zukommen.

Der ÖPNV steht außer bei den genannten Finanzierungsproblemen auch vor großen Herausforderungen bei der Modernisierung seiner Strukturen.

Zur Angebotsqualität klaffen die Einschätzung des Managements und die der Fahrer und Betriebsräte weit auseinander. Das Verkehrsangebot im ÖPNV wird von den Unternehmen als besser dargestellt als es die eigenen Beschäftigten bewerten: Während nur ein Viertel der befragten Unternehmensvertreter ihr Angebot als unzureichend ansehen, halten 75 Prozent der Betriebs- und Personalräte das ÖPNV-Angebot für verbesserungswürdig. Dies wiegt umso schwerer, als die Fahrer direkt wahrnehmen, wie die Fahrgäste das Angebot einschätzen.

Die soziale Flankierung und Strukturierung der wirtschaftlichen Restrukturierung steht dringend an. Diese hat zu deutlichen Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen geführt, so die Aussagen der Mitarbeiter. Das gilt insbesondere für die Schichtpläne des Fahrdienstes und der Werkstatt. Drei Viertel der Beschäftigten beurteilen die Restrukturierung negativ, „weil der Druck auf die Beschäftigten zu groß ist“. Die Branchenanalyse hat auch ergeben, dass innovative Ansätze wie zum Beispiel die Gruppenarbeit oder andere Formen der Mitarbeiterbeteiligung unter dem wirtschaftlichen Druck der Restrukturierung zurückgefahren oder eingestellt worden sind.

In einigen Unternehmen gibt es Ansätze für eine offensive mitarbeiterorientierte Personalpolitik, zum Beispiel bei der Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahnen AG (Bogestra) und der Düsseldorfer Rheinbahn mit Korrekturen an den Schichtplänen im Sinne eines besseren Gesundheitsschutzes. Andere Unternehmen versuchen derzeit einen ähnlichen Weg zu gehen. Aber überall fehlt es an finanziellen Mitteln, um neue Modelle wie zum Beispiel kürzere Tageslenkzeiten oder verträglichere Übergänge von Früh- auf Spätdienste über einen angemessenen Zeitraum zu finanzieren.

Die Ergebnisse der Branchenanalyse legen den Schluss nahe, dass der ÖPNV in eine äußerst schwierige Situation geraten wird, wenn die Finanzierung nicht zügig gesichert wird. Kommunen, Länder und Bund seien gefordert, denn einer Nutzerfinanzierung durch Fahrpreiserhöhungen werden angesichts wachsender Proteste nur geringe Aussichten eingeräumt.

Bei sich selbst müssen die ÖPNV-Unternehmen die Arbeitsbedingungen verbessern und neue Konzepte stärker in den Vordergrund rücken. Das heißt auch, die innovativen Chancen durch eine stärkere Einbeziehung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu erhöhen, lautet eine Schlussfolgerung der Branchenanalyse.

Weitere Informationen:

Hubert Resch: Branchenanalyse Zukunft des ÖPNV Entwicklungstendenzen und Chancen (pdf). Study der Hans-Böckler-Stiftung, Bd. 302. Düsseldorf 2015.

Kontakt:

Dr. Marc Schietinger
Abteilung Forschungsförderung

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

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