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PressemitteilungenBundesarbeitsgericht legt Rechtsstreit in Luxemburg vor: Mitbestimmung bei SAP: BAG sieht Gewerkschaftssitze im Aufsichtsrat nach deutschem Recht geschützt. Nun ist der EuGH am Zug
19.08.2020
Das Bundesarbeitsgericht hat gestern entschieden, im Rahmen einer Rechtsbeschwerde gegen die Schwächung der Arbeitnehmermitbestimmung bei der Umwandlung des Softwarekonzerns SAP in eine Europäische Aktiengesellschaft (SE) eine Auslegungsfrage zum SE-Recht dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen. Nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) dürfen Unternehmen nach deutschem SE-Recht auch bei einer Umwandlung in eine SE die gesicherten Sitze für Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat nicht ausschließen – anders als SAP argumentiert. Ein prägendes Element der Mitbestimmung bliebe demnach gewahrt. Diese Sicht legt das Gericht nun zunächst dem Europäischen Gerichtshof zur Prüfung vor. Damit stütze das Gericht die Arbeitnehmerrechte und die Sicht der Gewerkschaften, und es werde zugleich der hohen europarechtlichen Relevanz des Verfahrens gerecht, betont Dr. Sebastian Sick, Experte für Unternehmensrecht im Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung.
Das deutsche System der industriellen Beziehungen baut auf belastbaren Mitbestimmungsrechten der Beschäftigten auf. Aber die nationalen Mitbestimmungsgesetze laufen immer häufiger ins Leere. Oft, weil sie über Konstrukte europäischen Rechts ausgehebelt werden. Die Erosion ist dramatisch und die SE ist mittlerweile ein zentrales Vehikel, um Mitbestimmung zu unterlaufen.
So zeigt eine aktuelle Studie des I.M.U.: Mindestens 1,4 Millionen Beschäftigte in deutschen Unternehmen können das Recht auf paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat durch betriebliche und überbetriebliche Arbeitnehmervertreter nicht ausüben, weil ihre Arbeitgeber Rechtslücken für eine legale Umgehung ausnutzen (Link zur Studie unten). Drei Viertel der Unternehmen mit legaler Mitbestimmungsvermeidung nutzen Lücken mit europarechtlichem Bezug, allein bei mindestens gut 370.000 Beschäftigten werden Mitbestimmungsrechte durch die Umwandlung in eine SE umgangen. „Wichtig ist, dass weitere Tendenzen gestoppt werden, Mitbestimmung durch europäisches Recht auszuhebeln. Das gilt etwa für den Fall SAP“, erklärt der Jurist Sick.
Beim Softwarekonzern wurde bei der Umwandlung in eine SE ausgehandelt, das Vorschlagsrecht von Gewerkschaften für die Besetzung von mindestens zwei Aufsichtsratsmandaten abzuschaffen. Dagegen haben die IG Metall und ver.di geklagt. Die Präsenz von „überbetrieblichen“ Gewerkschaftsvertretern in den Aufsichtsräten großer Unternehmen ist ein integraler Teil des deutschen Mitbestimmungsgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht hat die gesetzliche Vorschrift in einem Urteil von 1979 so gerechtfertigt: „…sie erleichtert es, auch auf der Arbeitnehmerseite besonders qualifizierte Vertreter zu entsenden, und erscheint namentlich geeignet, einem bei erweiterter Mitbestimmung nicht ohne Grund erwarteten „Betriebsegoismus“ entgegenzuwirken oder diesen doch zumindest abzumildern.“ Dass eine starke Mitbestimmung, die auch überbetriebliche Arbeitnehmervertreter umfasst, für das gesamte Unternehmen und auch gesellschaftlich positiv wirkt, belegen verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen. So zeigen mehrere aktuelle Studien von Ökonomen der Universitäten Göttingen, Marburg und Duisburg-Essen, dass stark mitbestimmte Unternehmen erfolgreicher durch die letzte große Wirtschaftskrise kamen als Firmen ohne Arbeitnehmermitsprache – ein Befund, der aktuell besonders bedeutsam sein dürfte. Zudem verfolgen sie häufiger eine qualitäts- und innovationsorientierte Strategie, sind im Schnitt rentabler und betreiben seltener aggressive Steuervermeidung (Links zu den Studien unten).
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) muss nun prüfen, ob die EU-Richtlinie zur SE das deutsche SE-Beteiligungsgesetz, das bei der Umwandlung in eine SE Sitze für überbetriebliche Arbeitnehmervertreter garantiert, stützt. I.M.U.-Unternehmensrechtler Sick ist optimistisch, dass die Luxemburger Richter bei ihrer Bewertung die Wichtigkeit überbetrieblicher Arbeitnehmervertreter für das Gesamtsystem der deutschen Mitbestimmung würdigen werden. „Der EuGH hat erst kürzlich in einem anderen wichtigen Fall bewiesen, dass er die Bedeutung nationaler Mitbestimmungsrechte und -praxis versteht und achtet“, sagt der Jurist. In dem Verfahren, bei dem es um die Aufsichtsratsbesetzung bei der TUI AG ging, erklärte der EuGH die deutsche Mitbestimmung im vollen Umfang für europarechtskonform.
Die Auseinandersetzung bei SAP zeigt nach Sicks Analyse aber auch jenseits des aktuellen Verfahrens, wie groß der Bedarf ist, Lücken in den Regelungen zur SE und im deutschen Mitbestimmungsrecht zu schließen. Dabei seien der deutsche und der europäische Gesetzgeber gefragt. Beispielsweise würden immer wieder Firmen in eine SE umgewandelt, kurz bevor sie die deutschen gesetzlichen Schwellenwerte von 500 inländischen Mitarbeitern für eine Drittelbeteiligung der Beschäftigten im Aufsichtsrat oder 2.000 für die paritätische Mitbestimmung erreichen. Da dabei das Vorher-Nachher-Prinzip gilt, der Status quo ohne mitbestimmten Aufsichtsrat also eingefroren wird, können sich Unternehmen auf diese Weise unwiderruflich aus dem System der Mitbestimmung verabschieden – auch wenn sie später deutlich mehr Beschäftigte haben. Bei 82 in Deutschland ansässigen SE mit mehr als 2.000 Beschäftigten, das entspricht rund 80 Prozent aller SE dieser Größe, fehlt die für deutsche Rechtsformen vorgesehene paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Darunter sind auch DAX-Konzerne wie Vonovia. Das sei ein Kernproblem für die Partizipation, weil das Nachwachsen mitbestimmter Unternehmen so verhindert wird, betont Sick.
„Der deutsche Gesetzgeber könnte dem durch eine Gesetzesänderung entgegenwirken: Wächst die Beschäftigtenzahl einer SE über die Schwellenwerte von 500 bzw. 2000 Beschäftigten, muss es die Chance geben, dass Mitbestimmungsrechte entsprechend wachsen“, sagt Dr. Daniel Hay, wissenschaftlicher Direktor des I.M.U. „Eine weitere Forderung an die Politik wäre, ausländische Rechtsformen durch eine gesetzliche Erstreckung der Mitbestimmung zu erfassen. Die EU-Kommission wiederum sollte eine Rahmenrichtlinie in Angriff nehmen, die europaweit generelle Mindeststandards für die Arbeitnehmerpartizipation setzt.“ Die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müsse als Kernelement der europäischen Corporate Governance verankert werden, so Hay. „Die deutsche Ratspräsidentschaft steht bei diesem Thema in der Pflicht.“
Kontakt:
Dr. Sebastian Sick, I.M.U., Experte für Unternehmensrecht
Dr. Daniel Hay, Wissenschaftlicher Direktor I.M.U.
Rainer Jung, Leiter Pressestelle
Hintergrundinformation: Aktuelle Studien zur Mitbestimmung
- Unternehmen, bei denen die Mitbestimmung durch Arbeitnehmer stärker verankert ist, verfolgen häufiger eine meist innovations- und forschungsorientierte Differenzierungsstrategie als Firmen mit schwacher oder ohne Mitbestimmung. Zudem schneiden stärker mitbestimmte Unternehmen über alle strategischen Ausrichtungen hinweg bei wichtigen wirtschaftlichen Kennziffern meist überdurchschnittlich ab. Zusammenfassung
- Unternehmen mit starker Mitbestimmung nutzen deutlich seltener legale Spielräume in Bilanzierungsregeln, um beispielsweise ihre Gewinnsituation kurzfristig positiver darzustellen, als das vergleichbare Firmen mit schwacher oder ohne Mitbestimmung tun. Auch aggressive Steuervermeidung betreiben mitbestimmte Unternehmen signifikant seltener. Zusammenfassung
- Mitbestimmte Unternehmen haben bereits die Finanz- und Wirtschaftskrise vor gut einem Jahrzehnt deutlich besser bewältigt als Firmen ohne Mitbestimmung, zeigt eine 2019 veröffentlichte, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte, Studie. Zusammenfassung
- In Deutschland sind mindestens 2,1 Millionen Beschäftigte durch legale juristische Kniffe oder rechtswidrige Ignorierung der Gesetze von der paritätischen Mitbestimmung ausgeschlossen. Zusammenfassung