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Neue Konjunkturprognose: IMK: Durch Energiepreisschocks in die Rezession – Deutsche Wirtschaft wächst 2022 um 1,6 Prozent und schrumpft 2023 um 1,0 Prozent

28.09.2022

Der massive Anstieg der Energiepreise als Folge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und von eingestellten Gaslieferungen stellt einen in der Nachkriegszeit einmaligen Preisschock für die deutsche Wirtschaft dar. Der private Konsum wird aufgrund des drastischen Kaufkraftverlusts deutlich zurückgehen, was das Wachstum belastet. Zwar wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahresdurchschnitt 2022 noch um 1,6 Prozent steigen, im kommenden Jahr aber um jahresdurchschnittlich 1,0 Prozent schrumpfen. Das ergibt die neue Konjunkturprognose des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. Gegenüber der letzten Prognose vom Juni senkt das Institut damit seine Wachstumserwartung für dieses Jahr um 0,3 Prozentpunkte und für 2023 um 3,6 Prozentpunkte. Die Lage am Arbeitsmarkt bleibt trotz der Rezession relativ stabil, die Arbeitslosigkeit steigt lediglich moderat. Eine Preis-Lohn-Spirale ist laut IMK aktuell nicht zu erwarten, höhere Tarifabschlüsse als in den Vorjahren und die Anhebung des Mindestlohns leisteten „einen wichtigen Beitrag dabei, die Realeinkommen der abhängig Beschäftigten nicht noch stärker zurückgehen zu lassen“, schreiben die Ökonominnen und Ökonomen. Gleichzeitig bleibe die Fiskalpolitik weiter gefragt. Die Bundesregierung sollte Privathaushalte und Unternehmen durch wirkungsvolle Energiepreisdeckelungen entlasten, so die Forschenden. Dagegen müsse die Europäische Zentralbank (EZB) in ihrer Zinspolitik behutsam vorgehen. Schließlich könne die Notenbank gegen die Preisschübe durch importierte Energie nichts direkt ausrichten. Vielmehr riskiere sie, die Konjunktur noch weiter zu schwächen.

Der Börsenpreis für Erdgas ist gegenüber 2019 um mehr als 1000 Prozent gestiegen. Bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern ist das größtenteils noch nicht angekommen, da viele Haushalte längerfristige Verträge mit ihren Versorgungsunternehmen haben. Der überwiegende Teil der Preissteigerungen wird im kommenden Winterhalbjahr zu Buche schlagen, so das IMK. Die Inflation wird dadurch noch stärker zulegen als bisher: Im vierten Quartal wird der Anstieg der Verbraucherpreise rund 10 Prozent betragen, im Jahresdurchschnitt 2022 7,8 Prozent. Für das kommende Jahr rechnet das IMK mit einer etwas nachlassenden Inflation von 5,7 Prozent im Jahresmittel.

Der private Verbrauch wird infolge der Preissteigerungen deutlich zurückgehen: Nachdem sie im ersten Halbjahr 2022 noch relativ stark gestiegen waren, werden die Konsumausgaben im weiteren Jahresverlauf allenfalls stagnieren und im kommenden Jahr um 2,5 Prozent schrumpfen. Zugleich werden die Bauinvestitionen 2023 einbrechen, was vor allem an den gestiegenen Zinsen und Baukosten liegt und durch anhaltende Materialengpässe verstärkt wird. Besonders deutlich werden die Investitionen im Wohnungsbau sinken.

Nicht zuletzt aufgrund von Kurzarbeit dürfte die Lage am Arbeitsmarkt gleichwohl relativ stabil bleiben. Die Arbeitslosenquote steigt laut IMK von durchschnittlich 5,3 Prozent im Jahr 2022 auf 5,8 Prozent im Jahr 2023, was aber zu einem erheblichen Teil daran liegt, dass die erwerbsfähigen ukrainischen Geflüchteten in die Arbeitslosenstatistik einbezogen werden. Die von der Bundesregierung beabsichtigte Verlängerung des erleichterten Zugangs zum Kurzarbeitsgeld über den September 2022 hinaus sei richtig, könnte aber zu wenig sein, urteilen die Expertinnen und Experten des IMK. Denkbar sei, dass der Staat die Sozialversicherungsbeiträge für die ausgefallenen Arbeitsstunden wieder komplett oder zumindest teilweise übernimmt und das Kurzarbeitsgeld zeitweise anhebt.

Die Bundesregierung ist mehrfach gefordert: „Zur Verhinderung sozialer Schieflagen, aber auch zur Stabilisierung des privaten Konsums und damit der Konjunktur, ist in der aktuellen Situation insbesondere die schnelle Umsetzung von Preisbremsen bei Erdgas und Strom erforderlich. Allerdings sollte dabei der subventionierte Grundbedarf so bemessen sein, dass der Sparanreiz bei allen Haushalten bestehen bleibt“, heißt es in der IMK-Prognose. Neben dem akuten Energiepreisschock müsse die Bundesregierung dabei auch die Klimaziele weiter im Blick haben. Dies erfordere massive private und öffentliche Investitionen – auch in einer Zeit, in der die finanzielle Lage der öffentlichen Haushalte, der Unternehmen und der privaten Haushalte durch die Folgen des Ukrainekriegs angespannt ist.

Aus Sicht der Forschenden sind die Pläne, die Schuldenbremse 2023 ohne erneuten Rückgriff auf die Notlagenklausel einzuhalten, angesichts der hohen anstehenden Kosten für notwendige Maßnahmen wie die Gaspreisbremse und die Klimainvestitionen fragwürdig. „Insbesondere besteht das Risiko, dass durch den engen Finanzierungsrahmen eine Gaspreisbremse zu spät oder in zu geringem Umfang umgesetzt wird und damit eine effektive Stabilisierung der sich abzeichnenden Rezession verhindert wird“, schreiben die Volkswirtinnen und Volkswirte. Inflationäre Gefahren gingen von einem erneuten Aussetzen der Schuldenbremse für die hier diskutierten Stabilisierungsmaßnahmen nicht aus, weil es bei diesen Maßnahmen vor allem darum geht, den Einbruch der Konsumnachfrage zu begrenzen und eine deutliche Unterauslastung der Kapazitäten zu verhindern. Nicht darum, die Wirtschaft vom aktuellen Produktionsniveau weiter zu stimulieren.

Kerndaten der Prognose für 2022 und 2023

Arbeitsmarkt

Die negativen Auswirkungen insbesondere des Ukrainekrieges auf die Konjunktur beeinflussen auch die Arbeitsmarktentwicklung. Der positive Trend bei der Erwerbstätigkeit schwächt sich durch die Rezession stark ab. So legt die Zahl der Erwerbstätigen 2022 jahresdurchschnittlich noch um 1,3 Prozent zu. Für 2023 erwartet das IMK dann im Jahresmittel nur noch einen geringen Zuwachs um 0,2 Prozent. Bei den Arbeitslosenzahlen prognostiziert das IMK im Jahresdurchschnitt 2022 einen Rückgang um knapp 180.000 Personen, so dass im Jahresmittel rund 2,43 Millionen Menschen arbeitslos sein werden. Das entspricht einer Quote von 5,3 Prozent. Für 2023 veranschlagen die Forschenden einen Trendwechsel hin zu einem Wiederanstieg der Arbeitslosigkeit auf knapp 2,67 Millionen Arbeitslose, was einer Quote von 5,8 Prozent entspricht. Auch die Zahl der Kurzarbeitenden steigt, von 440.000 im Jahresmittel 2022 auf durchschnittlich 550.000 im kommenden Jahr.

Weltwirtschaft und Außenhandel

Trotz nach wie vor hoher Auftragsbestände deutscher Unternehmen entwickelt sich der Export sehr schwach. Das liegt an der aktuell relativ schwachen Auslandsnachfrage, den hohen Energiepreisen und auch an weiter angespannten Lieferketten, die es erschweren, ältere Bestellungen abzuarbeiten. Von wichtigen Handelspartnern kommen nur wenig Impulse, weil auch deren Konjunktur lahmt. In den USA schwächt sich das Wachstum auf 1,7 Prozent im Jahresmittel 2022 und auf 1,1 Prozent im kommenden Jahr ab. China weist mit 3,2 bzw. 5,1 Prozent im langjährigen Vergleich niedrige BIP-Zuwächse auf, auch weil die Null-Covid-Strategie und die Immobilienkrise bremsen. Die Wirtschaft im Euroraum verliert durch den Ukraine-Krieg ebenfalls drastisch an Dynamik: Das IMK veranschlagt hier für 2022 ein Wachstum von 3,0 Prozent. Doch für 2023 prognostizieren die Forschenden einen BIP-Rückgang um 0,3 Prozent.

Das hinterlässt tiefe Spuren im deutschen Außenhandel. Die Exporte stagnieren nahezu im Jahresmittel 2022 (0,1 Prozent Zuwachs). 2023 schrumpfen sie um 2,0 Prozent im Jahresdurchschnitt. Die Importe legen trotz der starken Preissteigerungen, vor allem bei Energie, zunächst noch zu: Im Jahresmittel 2022 steigen die Einfuhren um 3,6 Prozent. 2023 sinken sie dann aber ebenfalls um 2,0 Prozent. Trotz der Rückgänge bei den Ausfuhren weist die deutsche Leistungsbilanz weiter einen Überschuss aus, der in diesem und im kommenden Jahr jeweils zwischen drei und vier Prozent beträgt. 

Investitionen

Bei den Ausrüstungsinvestitionen wirken sich schwache Weltkonjunktur und hohe Energiepreise ebenfalls stark negativ aus. Hinzu kommt, dass sich mit den Leitzinserhöhungen der EZB die Finanzierungsbedingungen für Unternehmen verschlechtern. Andererseits sind gerade in der Investitionsgüterindustrie die Auftragsbestände außerordentlich hoch: Im Juli 2022 lagen sie um 33 Prozent über dem Niveau vor Beginn der Corona-Krise. Wenn sich, wie das IMK erwartet, die Engpässe bei Vorprodukten auflösen, dürften die Unternehmen diese Aufträge zunehmend abarbeiten können. Hinzu kommen höhere staatliche Investitionen, etwa für die Energiewende, sowie steigende Rüstungsausgaben. Unter dem Strich entwickeln sich die Ausrüstungsinvestitionen laut IMK-Prognose schleppend, aber positiv: 2022 steigen sie um 2,0 Prozent im Jahresmittel, 2023 um 1,0 Prozent.

Die in den Vorjahren kräftigen Bauinvestitionen brechen hingegen wegen der Kosten- und Zinssteigerungen ein, vor allem 2023. Nach einem geringen Wachstum von 0,5 Prozent im Jahresmittel 2022, gehen sie 2023 um jahresdurchschnittlich 5,0 Prozent zurück.

Einkommen und Konsum

Die starke Teuerung drückt drastisch auf die realen Einkommen. Für dieses Jahr veranschlagt das IMK nach Abzug der Inflation einen Rückgang um 2,4 Prozent im Jahresdurchschnitt. Da die privaten Haushalte in Summe aber deutlich weniger sparen, wirkt sich das 2022 noch nicht auf die durchschnittliche Veränderungsrate des privaten Konsums vollends aus. Der wächst im Jahresmittel um 4,0 Prozent, wobei dieser Wert die Dynamik weit überzeichnet (die Jahresverlaufsrate beträgt nur 0,4 Prozent). Im kommenden Jahr sinken die verfügbaren Einkommen real um durchschnittlich 3,9 Prozent, der private Konsum um 2,5 Prozent.

Inflation und öffentliche Finanzen

Der Ukraine-Krieg treibt die Inflation in diesem Jahr zeitweilig auf Rekordhöhen. Im Jahresdurchschnitt 2022 rechnet das IMK mit 7,8 Prozent Inflation. 2023 geht die Teuerungsrate etwas zurück, bleibt im Jahresmittel jedoch abermals weit über dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank: Das IMK prognostiziert 5,7 Prozent.

Die Steuereinnahmen entwickeln sich schwächer. Zugleich setzt der Staat zur Krisenbekämpfung viel Geld ein, unter anderem für Stützungsmaßnahmen für Bürger und Unternehmen, zur Flüchtlingsaufnahme und ab 2023 für höhere Verteidigungsausgaben. Das trägt zur Stabilisierung der Konjunktur bei, führt aber auch dazu, dass das Defizit im öffentlichen Budget höher ist als nach dem Abklingen der akuten Corona-Krise erwartet. Nach 3,7 Prozent 2021 ergibt sich für 2022 ein Haushaltsdefizit von 1,9 Prozent des BIP. Für 2023 prognostiziert das IMK ein Defizit von 2,1 Prozent.

Weitere Informationen:

Sebastian Dullien, Alexander Herzog-Stein, Peter Hohlfeld, Katja Rietzler, Sabine Stephan, Silke Tober, Thomas Theobald, Sebastian Watzka: Energiereisschocks treiben Deutschland in die Rezession. Prognose der wirtschaftlichen Entwicklung 2022 und 2023. IMK Report Nr. 177, September 2022.

Die Pressemitteilung mit Tabelle (pdf).

Kernergebnisse der Prognose im Audio-Statement von IMK-Konjunkturforscher Peter Hohlfeld.
 

Kontakt:

Prof. Dr. Sebastian Dullien
Wissenschaftlicher Direktor IMK

Peter Hohlfeld
IMK-Konjunkturexperte

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

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