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Studie: Potenziale für mehr und bessere Beschäftigung nutzen: Belastungsanstieg durch demografischen Wandel lässt sich auf ein Drittel bis ein Fünftel reduzieren

18.04.2018

Die Auswirkungen des demografischen Wandels auf die deutsche Gesellschaft, gerade auch die Sozialsysteme, können durch eine bessere Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik auf etwa ein gutes Drittel bis ein Fünftel reduziert werden. Damit blieben die Auswirkungen der gesellschaftlichen Alterung bis 2060 finanziell gut beherrschbar, größere Eingriffe ins Rentensystem könnten dauerhaft vermieden werden. Der Schlüssel dazu liegt in einer besseren Erwerbsintegration, indem die Erwerbstätigenquote vor allem von Frauen und Migranten erhöht und Unterbeschäftigung mit sehr kurzen Arbeitszeiten, insbesondere in Minijobs, abgebaut wird. Dabei geht es um durchaus realistische Ziele: Die genannte Pufferwirkung um knapp zwei Drittel bis vier Fünftel (Berechnung dazu unten) lässt sich erreichen, wenn in Deutschland bis 2050 eine Erwerbsbeteiligung erreicht wird, wie sie Schweden bereits heute hat. Zu diesen Ergebnissen kommt eine neue Studie, die das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans Böckler Stiftung gemeinsam mit dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Stiftung, mit Forschern der Kammer für Arbeiter und Angestellte Wien sowie Prof. Dr. Camille Logeay (Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin und Senior Research Fellow des IMK) erarbeitet hat. Die Untersuchung wird heute in Berlin vorgestellt.

Viele gängige Prognosen zum demografischen Wandel und seinen Wirkungen auf die Alterssicherung verharrten ohne Not bei „Katastrophen-Szenarien“, konstatieren die Forscher. Zentrale Gründe dafür: Sie schreiben vermeintlich stabile demografische Trends über Jahrzehnte fort, obwohl es signifikante Änderungen gibt. Zudem setzen sie auf ungeeignete Indikatoren. So wird, anders als oft dargestellt, das für die Lastenverteilung sehr wichtige Verhältnis zwischen Erwerbstätigen und (Sozial-)Leistungsempfängern nicht nur durch den „Altenquotienten“ (Altersgruppe 65+ relativ zur Altersgruppe 15-64) bestimmt. Mindestens ebenso wichtig wie die Demografie ist der ökonomische Status der Menschen, so die neue Studie. Dazu komme, dass viele Einschätzungen auf Arbeitsmarktdaten beruhen, in denen die Erwerbstätigkeit über- und Arbeitslosigkeit unterschätzt wird. Ausgeblendet werde damit, dass in Deutschland trotz deutlich gesunkener Arbeitslosigkeit heute und in der Zukunft noch erhebliche Beschäftigungspotenziale brachliegen. Werden diese Potenziale ins Blickfeld gerückt, wird deutlich, dass dem Arbeitsmarkt die „Schlüsselrolle“ für eine „sozial und ökonomisch sinnvolle Bewältigung des demografischen Wandels“ zukommt, so die Wissenschaftlerin und die Wissenschaftler. Das hat erhebliche sozialpolitische Folgen: „Mit besserer Erwerbsintegration kann der demografisch bedingte Ausgabenanstieg ganz erheblich eingedämmt werden, ohne die Leistungsniveaus schmälern zu müssen und ohne das gesetzliche Rentenalter weiter nach oben zu verschieben“, schreiben Dr. Rudolf Zwiener (IMK), Dr. Florian Blank (WSI), Prof. Dr. Camille Logeay, Mag. Erik Türk und Dr. Josef Wöss (AK Wien) in ihrem Fazit.

Zu ihren Ergebnissen gelangen die Wissenschaftler über folgende Analyse- bzw. Rechenschritte:

1. Demografische Trends sind nicht in Stein gemeißelt
In der Rentendiskussion weit verbreitet sind Szenarien, die mit demografischen „Abhängigkeitsquoten“ („Altenquotienten“) arbeiten. Sie setzen die Zahl der Einwohner in unterschiedlichen Altersgruppen in Beziehung zueinander und erwecken oft den Eindruck, die Entwicklung stehe über die nächsten Jahrzehnte schon fest. Die Studie weist aber in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es bei den Prognosen zum „Altenquotienten“ für Deutschland in kurzer Zeit eine bemerkenswerte Revision gegeben hat: Noch 2014 ging das Statistische Amt der Europäischen Union Eurostat, eine maßgebliche Quelle, davon aus, dass sich in der Bundesrepublik der Anteil der über 65-Jährigen im Verhältnis zu den 15-64-Jährigen bis 2040 um 75 Prozent erhöhen werde. Bis 2060 wurde ein Anstieg um 86 Prozent vorhergesagt. In der aktuellen Prognose von 2017 rechnet Eurostat, unter anderem wegen der stärkeren Zuwanderung, nun mit spürbar niedrigeren Zahlen: Der Anteil erhöht sich demnach nur um 55 bzw. 73 Prozent (siehe auch Abbildung 1 in der pdf-Version dieser PM; Link unten).

2. Ökonomische Abhängigkeitsquoten sagen viel mehr aus als demografische
Viel wichtiger als der geringere Anstieg des „Altenquotienten“ ist nach Analyse der Forscher aber ein anderer Punkt: Die demografischen Abhängigkeitsquoten haben nur eine geringe Aussagekraft, wenn es um die ökonomischen Lastenrelationen und um die Finanzierung der Sozialsysteme geht. „Altenquotienten“ könnten zwar die sich ändernde Altersstruktur der Bevölkerung beschreiben, sagten aber wenig über die ökonomisch entscheidende Frage aus: Wie viele Erwerbstätige, die ins Sozialsystem einzahlen und Steuern entrichten, wie vielen Transferleistungsbeziehern gegenüberstehen. Denn auch unter den Menschen im erwerbsfähigen Alter gibt es einen erheblichen Anteil von Personen, die Transferleistungen benötigen – etwa Arbeitslose oder andere unterbeschäftigte Gruppen. In der Studie werden diese arbeitsmarktnahen Transferleistungsbezieher als „beschäftigungslos“ zusammengefasst.

Mit Hilfe eines Belastungsrechners, den die AK Wien entwickelt hat, machen die Wissenschaftler den wichtigen Schritt von der – gängigen – rein demografischen hin zu einer ökonomischen Betrachtungsweise. Sie berechnen eine ökonomische Abhängigkeitsquote, die ein realitätsnäheres Bild zeigt. Dazu ermitteln sie aus Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) jene Personen, die arbeitssuchend oder nur marginal erwerbstätig sind und daher nur ein minimales Arbeitseinkommen erzielen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Arbeitslose, inklusive der Personen, die in der BA-Statistik als „unterbeschäftigt im engeren Sinne“ ausgewiesen sind, etwa weil sie an BA-Maßnahmen zur Weiterbildung teilnehmen oder unter die Sonderregelungen für Ältere fallen. Außerdem werden aus der Zahl der Erwerbstätigen diejenigen Menschen, die ausschließlich in einem Minijob arbeiten, herausgerechnet. Im Ergebnis ist die angepasste Erwerbstätigenquote deutlich niedriger als die Quote nach den Labour Force Survey Daten bei Eurostat: Insbesondere bei Frauen, die besonders oft nur Minijobs haben, ist die Differenz groß: ihre aktuelle Erwerbsbeteiligung sinkt um 11 Prozentpunkte auf nur noch knapp 58 Prozent (siehe Abbildung 2 in der pdf-Version).

Aus der Studie lassen sich zwei Schlüsse ziehen, zeigen die Forscher: Erstens kommen im Vergleich zum simplen „Altenquotienten“ schon heute deutlich mehr Rentner und Rentnerinnen und Beschäftigungslose auf die relevante Vergleichsgruppe der erwerbstätigen Personen unter 65. Im Zeitverlauf steigt das zahlenmäßige Verhältnis zwischen beiden Gruppen aber deutlich schwächer an als der „Altenquotient“. Auf Basis der Annahmen des Ageing Reports 2015 errechnet sich eine Zunahme des Anteils der Rentner und Beschäftigungslosen gegenüber den Erwerbstätigen um 42 Prozent bis 2040 und um 51 Prozent bis 2060 – und dabei ist sogar noch die „pessimistische“ und überholte Bevölkerungsprognose von Eurostat (2014) zugrunde gelegt (Abb. 1).

3. Der Arbeitskräftepool wird auch in Zukunft nicht „austrocknen“, es gibt erhebliche Potenziale.
Zweitens macht die realistischere Rechnung deutlich, dass auf dem deutschen Arbeitsmarkt trotz sinkender Arbeitslosigkeit weiterhin eine erhebliche Unterbeschäftigung besteht. Vor allem Frauen und Migranten, aber auch Ältere, sind im internationalen Vergleich relativ schwach in den Arbeitsmarkt integriert. Berücksichtigt man die Arbeitszeit, lag etwa die Erwerbstätigenquote in Deutschland 2013/2014 EU-weit lediglich auf dem 11. Rang. Dieser Rückstand zeige aber auch das erhebliche Potenzial für mehr Beschäftigung. Es besser zu nutzen, sei eine Chance, den demografischen Wandel auf dem Arbeitsmarkt abzufedern, betonen die Autoren der neuen Studie.

Wie groß der Effekt sein kann, berechnen sie anhand eines „High Employment Szenarios“, bei dem Deutschland bis 2050 die Erwerbsquoten erreicht, die Schweden heute bereits hat. So belegen die Skandinavier bei der Erwerbstätigkeit den 2. Platz in der EU. Zudem nehmen die Ökonomen in ihrer Modellrechnung an, dass die Quote der Unterbeschäftigung nach der BA-Definition über die nächsten drei Jahrzehnte schrittweise auf 4 Prozent sinkt. Dazu seien beispielsweise Investitionen in eine bessere (Aus-)Bildung notwendig, mehr Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie und mehr „alternsgerechte“ Arbeitsplätze.

Ergebnis: Legt man die „pessimistische“ ältere Bevölkerungsprognose von Eurostat (2014) zugrunde, steigt die ökonomische Abhängigkeitsquote, also der Anteil der Rentner und Beschäftigungslosen im Vergleich zu den Erwerbstätigen, im „High Employment Szenario“ à la Schweden bis 2040 um lediglich 19 und bis 2060 um 18 Prozent. Rechnet man mit der „optimistischeren“ neueren Variante der Bevölkerungsschätzung von 2017, sind es sogar nur 8 Prozent bis 2040 und 10 Prozent bis 2060. Im Vergleich zur Entwicklung der ökonomischen Abhängigkeitsquote auf Basis der überholten Eurostat-Prognose von 2014 und ohne veränderte Beschäftigungspolitik (51 Prozent Zunahme bis 2060, s.o.) wäre die Zunahme der Belastung durch die gesellschaftliche Alterung also auf ein gutes Drittel bzw. ein Fünftel reduziert – je nach Bevölkerungsprognose.

Zitat zur Studie von Prof. Dr. Gustav A. Horn, wissenschaftlicher Direktor des IMK

„Unsere Studie zeigt: Der demografische Wandel ist keine Monster-Welle, die auf den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland zurollt. Es ist vielmehr ein durchaus zu bewältigender Seegang, der unsere Sozialsysteme und insbesondere das Rentensystem nicht zum Kentern bringen wird – vor allem, nicht, wenn mit einer expansiven Wachstums- und Beschäftigungspolitik gegengesteuert wird.

Bei genauerer Betrachtung erweisen sich viele der gängigen Prognosen als relativ oberflächlich, weil sie nur drei vermeintlich alternativlose Stellschrauben in den Blick nehmen: Rentenniveau, Beitragssatz und Renteneintrittsalter. Tatsächlich spielt die Musik aber auf dem Arbeitsmarkt. Bei der Erwerbstätigkeit gibt es erhebliche Spielräume zur Gestaltung. Das entspricht auch den veränderten Bedürfnissen jüngerer Erwerbstätiger. Warum sollen zum Beispiel gut ausgebildete Frauen lange Zeit auf Minijobs oder unfreiwillig auf Teilzeitstellen verbringen oder wegen fehlender Kinderbetreuung oder unflexiblen Arbeitsverträgen teilweise ganz auf Erwerbsarbeit verzichten?

Wenn die Politik die aufgezeigten Spielräume entschlossen nutzt, wird der demografisch bedingte Kostenanstieg im Vergleich zu den gängigen Vorausberechnungen ganz erheblich reduziert und klar beherrschbar bleiben. Wir raten Politik und Wirtschaft deshalb dringend, eine Strategie mit mehr und besseren Arbeitsplätzen als zentrale Stellschraube zur Bewältigung des demografischen Wandels zu verfolgen.“

Weitere Informationen:

Erik Türk, Florian Blank, Camille Logeay, Josef Wöss, Rudolf Zwiener: Den demografischen Wandel bewältigen: Die Schlüsselrolle des Arbeitsmarkts (pdf). IMK Report 137, April 2018.

Videostatement zur Studie von Dr. Rudolf Zwiener

Kontakt:

Prof. Dr. Gustav A. Horn
Wissenschaftlicher Direktor IMK

Dr. Rudolf Zwiener
Rentenexperte, IMK

Dr. Florian Blank
Sozialversicherungsexperte, WSI

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

Die Pressemitteilung mit Grafiken (pdf)

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