zurück
Ein Demonstrationszug läuft vor dem KaDeWe vorbei. Im Fokus steht eine gelbe Warnweste auf der 'Tarifverträge schützen!' in schwarzer Druckschrift steht. Pressemitteilungen

Appell zu den Koalitionsverhandlungen: Mehr als 120 Wissenschaftler*innen rufen zur gesetzlichen Stärkung von Tarifautonomie und Tarifbindung auf

14.03.2025

Mehr als 120 Wissenschaftler*innen rufen in einem gemeinsamen Appell die Verhandler*innen von Union und SPD dazu auf, die Tarifautonomie zu stärken und dazu im Koalitionsvertrag konkrete gesetzliche Regelungen für mehr Tarifbindung zu vereinbaren. Die Forschenden, überwiegend Professor*innen der Wirtschafts-, der Sozial, und der Rechtswissenschaften, argumentieren, dass eine hohe Tarifbindung Niedriglöhne, Armut und soziale Ungleichheit reduziere. Das hat nicht nur gesamtwirtschaftlich positive Auswirkungen, sondern stärkt nach Analyse der Unterzeichner*innen auch die Demokratie, weil ungleiche Gesellschaften von politischer Polarisierung gekennzeichnet sind. Auch ein Zusammenhang zwischen schlechten Arbeitsbedingungen und Entfremdung von demokratischen Institutionen ist in verschiedenen Studien belegt. Gleichzeitig könnten die Tarifparteien in Tarifverträgen am besten die vielfältigen Besonderheiten unterschiedlicher Branchen berücksichtigen und „auf Augenhöhe flexibel auf wirtschaftliche und soziale Veränderungen reagieren, um Arbeitsplätze zu sichern“, heißt es in dem Aufruf. Die internationale Forschung, allen voran der Industrieländerorganisation OECD, zeige, „dass in Ländern mit koordinierten Lohnsystemen und hoher Tarifbindung eine hohe Einkommensgleichheit mit vergleichsweise hohen Beschäftigungsquoten und geringer Arbeitslosigkeit einhergeht“, betonen die Fachleute. Zudem könne bessere Bezahlung nach Tarif wichtige Anreize zur Fachkräftequalifizierung setzen. 

Eine Erhöhung der Tarifbindung sei damit „nicht nur sozial erwünscht, sondern auch ökonomisch machbar und sinnvoll“. Als zielführende gesetzliche Instrumente nennen die Wissenschaftler*innen ein Bundestariftreuegesetz, die Erleichterung von Allgemeinverbindlicherklärungen (AVE), Tarifbindung als Kriterium für staatliche Wirtschaftsförderung, eine längere Nachwirkung von Tarifverträgen bei Ausgliederungen oder Betriebsaufspaltungen, verbesserte digitale Zugangsrechte von Gewerkschaften im Betrieb und die Stärkung von Arbeitgeberverbänden als Tarifvertragspartei.     

Aktuell haben 124 Wissenschaftler*innen den Aufruf gezeichnet (den Aufruf und die Liste der Unterzeichner*innen finden Sie unten verlinkt). Den Aufruf initiiert hat eine interdisziplinäre Forschungsgruppe „Stärkung der Tarifbindung“, die von der Hans-Böckler-Stiftung unterstützt wird. Ihr gehören an: Prof. Dr. Gerhard Bosch, Senior Professor an der Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr. Ingrid Artus, Professorin für Vergleichende Gesellschaftsanalyse an der Universität Erlangen-Nürnberg, Prof. Dr. Florian Rödl, Professor für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht an der FU Berlin, Prof. Dr. Till van Treeck, Professor für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen, Prof. Dr. Thorsten Schulten, Leiter des WSI-Tarifarchivs der Hans-Böckler-Stiftung und Honorarprofessor an der Universität Tübingen sowie sein Vorgänger beim WSI-Tarifarchiv, Dr. Reinhard Bispinck.

In ihrem Aufruf erinnern die mehr als 120 Wissenschaftler*innen daran, dass die Bundesrepublik bis Mitte der 1990er Jahre eine im internationalen Vergleich geringe Einkommensungleichheit auszeichnete. Der wichtigste Grund hierfür sei eine hohe Tarifbindung gewesen. Rund 85 Prozent aller Beschäftigten wurden nach einem Tarifvertrag bezahlt, den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ausgehandelt hatten. Aktuell gelten Tarifverträge hingegen nur noch für 49 Prozent aller Beschäftigten. 

Die Folgen sind nach Analyse der Forschenden gravierend: „Das Versprechen, mit harter Arbeit und einer guten Ausbildung zur Mittelschicht zu gehören, gilt vielfach nicht mehr.“ Der Niedriglohnsektor in Deutschland sei vergleichsweise groß. Die mittleren Einkommensgruppen schrumpften. Beschäftigte ohne Tarifvertrag verdienen nach aktuellen Untersuchungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung im Durchschnitt gut zehn Prozent weniger als vergleichbare Beschäftigte mit Tarifvertrag – und das, obwohl sie pro Woche auch eine knappe Stunde länger arbeiten müssen. Besonders groß sind die Unterschiede in der Bezahlung mit und ohne Tarifvertrag in Kleinbetrieben, bei Frauen, Migrant*innen sowie bei An- und Ungelernten. Das trage indirekt auch zu Fachkräfteengpässen bei: „In prekären Einkommensmilieus wird weniger in Bildung investiert, so dass Fachkräfte fehlen“, warnen die Fachleute.

Der vor gut zehn Jahren eingeführte gesetzliche Mindestlohn unterbinde zwar Dumpinglöhne am unteren Rand und habe dazu beigetragen, den Niedriglohnsektor etwas zu begrenzen. Als Lohnuntergrenze könne er aber nicht die Einkommensmitte sichern. Nur Tarifverträge mit ihren differenzierten Entgeltgruppen stellten sicher, dass unterschiedliche Qualifikationen, Arbeitsanforderungen und Funktionen angemessen entlohnt werden. Sie sorgten auch dafür, dass hohe Arbeitsbelastungen, wie etwa Schicht-, Nacht oder Feiertagsarbeit, durch Geld oder Freizeit kompensiert werden.

Die Tarifparteien sind nach Analyse der Forschenden in der Lage, für Kernbereiche der Wirtschaft gute Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Ihre Gestaltungsmacht reiche aber nicht mehr in die gewachsenen tariflosen Zonen des Arbeitsmarktes. Zur Wiederherstellung des sozialen Gleichgewichts sei politische Unterstützung notwendig. Aus der internationalen Arbeitsforschung leiten die Fachleute eine Reihe von Instrumenten ab, mit denen der Abwärtstrend bei der Tarifbindung gestoppt und die Tarifautonomie wieder gestärkt werden kann. Zum Teil werden diese Instrumente in anderen EU-Ländern bereits angewendet. Die Unterzeichner*innen des Appells „fordern daher die politischen Parteien der künftigen Koalitionsregierung auf, folgende Maßnahmen in ihrem Koalitionsvertrag aufzunehmen“: 

1. Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE).
Mit der Allgemeinverbindlicherklärung werde sichergestellt, dass alle Unternehmen gleiche tarifvertragliche Mindeststandards einhalten müssen und der Wettbewerb nicht auf Kosten der Beschäftigten ausgetragen wird. Um die AVE zu erleichtern, soll es zukünftig wieder ausreichen, dass nur eine Tarifpartei den Antrag auf AVE stellt. Zugleich soll eine AVE nur dann nicht erfolgen können, wenn sich der Tarifausschuss mehrheitlich dagegen ausspricht.

2. Einführung eines Bundestariftreuegesetzes.
Nach dem Vorbild vieler Bundesländer müsse auch bei Vergaben auf Bundesebene Tariftreue verlangt werden, so dass Auftrag- und Konzessionsnehmer im Rahmen ihrer Tätigkeit für die öffentliche Hand die am Arbeitsort einschlägigen Tarifverträge einhalten müssen. Zur Bekräftigung dieser Position solle Deutschland die ILO-Konvention Nr. 94 „über die Arbeitsklauseln in den von Behörden abgeschlossenen Verträgen“ ratifizieren.

3. Tarifbindung als Kriterium der Wirtschaftsförderung.
Öffentliche Fördermittel, Wirtschaftshilfen und Subventionen sollen ab einer bestimmten Fördersumme nur noch an Unternehmen vergeben werden, die Tarifverträge einhalten. In allen öffentlichen Förderprogrammen sollten Unternehmen mit Tarifbindung generell bevorzugt werden.

4. Erschwerung von Tarifflucht.
Unternehmen nutzen vielfach Ausgliederungen und Betriebsaufspaltungen, um sich einer Tarifbindung zu entledigen. Die bestehende Verkürzung der Tarifbindung bei Restrukturierungen solle beseitigt und die Nachwirkung von Tarifverträgen generell gestärkt werden.

5. Stärkung von Betriebsräten und Gewerkschaften.
Die Präsenz von Betriebsräten und Gewerkschaften im Betrieb ist in der Regel eine wichtige Voraussetzung für die Durchsetzung und verlässliche Anwendung eines Tarifvertrages. Deshalb müssten die (vor allem digitalen) Zugangsrechte von Gewerkschaften zu den Beschäftigten ausgebaut und Maßnahmen zur Behinderung von Betriebsräten stärker bestraft werden. Außerdem sollten Anreize zum Gewerkschaftsbeitritt dadurch gestärkt werden, dass Mitgliedsbeiträge vollständig steuerlich abgesetzt und in Tarifverträgen effektive Mitgliedervorteilsregelungen vereinbart werden können.

6. Stärkung von Arbeitgeberverbänden als Tarifvertragspartei.
Durch die Einführung der Mitgliedschaft ohne Tarifbindung (OT-Mitgliedschaft) hätten die Arbeitgeberverbände ihre originäre Funktion als Tarifvertragspartei immer mehr geschwächt, analysieren die Forschenden. Dies widerspreche der eigentlichen gesetzlichen Aufgabe der Verbände, an einem stabilen Tarifvertragssystem mitzuwirken. Die Möglichkeit zur OT-Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband sollte aufgehoben werden.

Kontakt

Prof. Dr. Thorsten Schulten
Leiter des WSI-Tarifarchivs

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

Zugehörige Themen