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Zum 1. Mai: Studie zu Arbeitnehmerrechten und neues Video: Mindestens 2,1 Millionen Beschäftigten in Deutschland wird paritätische Mitbestimmung vorenthalten – starker Anstieg seit 2015

29.04.2020

Unternehmen, in denen die Beschäftigten über Betriebsräte und Vertreterinnen und Vertreter im Aufsichtsrat mitbestimmen, bieten bessere Arbeitsbedingungen. Gleichzeitig verfolgen mitbestimmte Unternehmen häufiger ein forschungs- und qualitätsorientiertes Geschäftsmodell und weisen im Mittel bei zentralen betriebswirtschaftlichen Kennzahlen bessere Ergebnisse auf. Das gilt ganz besonders in Phasen von Krisen und Transformationsdruck, wie Forscher am Beispiel der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise ermittelt haben: Sowohl mit Blick auf die operative Rendite, die Bewertung am Kapitalmarkt, die Beschäftigungsentwicklung und bei den Investitionen schnitten im Aufsichtsrat mitbestimmte Unternehmen ab 2008 deutlich besser ab. Diese positiven Effekte, die auch aktuell für die Bewältigung der Corona-Krise bedeutsam sind, belegen zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen, die ein umfassender neuer Report der Hans-Böckler-Stiftung zum Stand der Mitbestimmung erschließt.

 

Die heute veröffentlichte Studie zeigt aber auch: Die eigentlich durch die deutschen Mitbestimmungsgesetze garantierte demokratische Beteiligung von Beschäftigten wird immer häufiger unterlaufen. Arbeitgeber nutzen rechtliche Lücken, über die Mitbestimmung umgangen wird, etliche ignorieren sogar geltendes Recht. Im Ergebnis besaßen zuletzt von rund 950 Unternehmen, die in Deutschland mehr als 2000 Beschäftigte haben und keinem „Tendenzschutz“ unterliegen, nur rund 650 den nach den Mitbestimmungsgesetzen ab dieser Größe vorgesehenen paritätisch besetzten Aufsichtsrat. Mitbestimmungsvermeidung hat wesentlich dazu beigetragen, dass heute etwa 120 Unternehmen weniger paritätisch mitbestimmt sind als zum Höchststand 2002. In Deutschland sind mindestens 2,1 Millionen Beschäftigte in insgesamt 307 Unternehmen, Stand Februar 2020, durch legale juristische Kniffe (bei 194 Unternehmen) oder rechtswidrige Ignorierung der Gesetze (bei 113 Unternehmen) von der paritätischen Mitbestimmung ausgeschlossen (siehe auch Grafik und Tabelle 1 in der pdf-Version dieser PM; Link unten). Der deutsche und der europäische Gesetzgeber müssen dringend handeln, damit der Standortvorteil Mitbestimmung erhalten bleibt, mahnen die Experten der Stiftung und skizzieren, wo gesetzlich nachgebessert werden muss.     

 

Allein mindestens 1,4 Millionen inländische Beschäftigte in 194 Großunternehmen werden durch legale juristische Konstruktionen um die paritätische Mitwirkung im Aufsichtsrat gebracht, berichtet Dr. Sebastian Sick. Der Unternehmensrechtler des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung stützt sich auf eine I.M.U.-geförderte Erhebung der aktuellsten verfügbaren Daten durch das Institut für Rechtstatsachenforschung an der Universität Jena unter Leitung von Prof. Dr. Walter Bayer. Die Zahl der durch legale juristische Tricks ausgeschlossenen Beschäftigten ist danach seit 2015 deutlich gestiegen.

 

Weitere knapp 660.000 inländische Beschäftigte in 113 großen Unternehmen können die gesetzlich vorgesehenen paritätischen Mitbestimmungsrechte nicht wahrnehmen, weil ihre Arbeitgeber geltendes Recht ignorieren, so Sick. Das Problem: Die Gesetze sehen für Unternehmen, die rechtswidrig keinen mitbestimmten Aufsichtsrat einrichten, keine spürbaren Sanktionen vor.

 

Nur eingeschränkte Mitbestimmungsrechte bieten schließlich 24 Großunternehmen mit gut 370.000 Beschäftigten im Inland, die als Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA) firmieren. Sie haben zwar einen paritätischen Aufsichtsrat. Der besitzt allerdings nur rudimentäre Kompetenzen.

 

„Das Mitbestimmungsrecht ist löchrig wie ein Schweizer Käse“

„Das Mitbestimmungsrecht ist mittlerweile löchrig wie ein Schweizer Käse. Diese Löcher muss der Gesetzgeber dringend schließen“, konstatiert Unternehmensrechtler Sick. „Sonst droht die nicht umkehrbare Erosion der Mitbestimmung.“ Dabei sei auch die europäische Politik in der Pflicht, betont der Experte. Denn vor allem „durch europäisches Recht sind neue Schlupflöcher entstanden“. Von den genannten 194 Großunternehmen mit formal legaler „Mitbestimmungsvermeidung“ nutzen nach Sicks Analyse 150 eine Rechtskonstruktion mit „europäischem“ Bezug.

 

„Die Mitbestimmung gehört zur DNA der sozialen Marktwirtschaft, gerade in der Wissensökonomie des 21. Jahrhunderts. Sie bringt Demokratie, unterschiedliche Kompetenzen und wirtschaftlichen Erfolg zusammen. Aber dieser Standortvorteil wird verspielt, wenn Mitbestimmungsrechte nicht endlich besser geschützt werden. Die Uhr läuft. Die Entscheidungsträger in Berlin und Brüssel, die schon oft besseren Schutz versprochen haben, müssen endlich handeln und konkrete Gesetzesinitiativen starten“, sagt Michael Guggemos, Geschäftsführer der Hans-Böckler-Stiftung und Mitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex. „Es wäre ein erstes Zeichen gewesen, wenn die Mitbestimmung als essenzieller Bestandteil guter Unternehmensführung in den Corporate Governance Kodex aufgenommen worden wäre. Es ist absolut unverständlich, dass die Kommission diesen Vorschlag der Arbeitnehmerseite abgelehnt hat.“

 

Verbreitete Konstruktionen: Auslandsgesellschaften & Co. KG, Einfrier-SEs, Familienstiftungen

Ein verbreitetes Vehikel, um Mitbestimmungsrechte über eine juristische Lücke legal zu unterlaufen, sind nach der I.M.U.-Analyse gesellschaftsrechtliche Konstruktionen mit ausländischen Rechtsformen wie beispielsweise die B.V. & Co. KG oder die Ltd. & Co. KG. Hintergrund: Die deutschen Mitbestimmungsgesetze stammen aus einer Zeit, als die weitgehende europäische Niederlassungsfreiheit noch nicht absehbar war. Deshalb beziehen sie sich in ihrem Wortlaut auf Unternehmen in deutscher Rechtsform. Kombinieren Firmen deutsche und ausländische Rechtsformen, fallen sie nach herrschender juristischer Meinung nicht mehr unter das Mitbestimmungsgesetz. Das ist nach europäischem Recht auch Firmen möglich, die ihren Sitz und den Schwerpunkt ihrer Geschäfte in Deutschland haben. Im Februar 2020 firmierten 62 Unternehmen mit jeweils mehr als 2000 inländischen Beschäftigten in einer hybriden Rechtsform, ein Zuwachs um 9 Prozent gegenüber 2015. Mindestens rund 432.000 dort Beschäftigten blieb dadurch die paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat versagt. Als Beispiele nennt der Report etwa den Entsorger ALBA, die Meyer Werft oder den Fleischfabrikanten Tönnies.

 

Ein weiteres großes Schlupfloch, durch das Mitbestimmung ausgehebelt werden kann, stellen lückenhafte Vorschriften zur Europäischen Aktiengesellschaft (SE) dar. Es wird nach Analyse der Forscher oft von jungen, wachsenden Unternehmen genutzt. Immer wieder würden Firmen kurz vor Erreichen der gesetzlichen Schwellenwerte von 500 inländischen Mitarbeitern für eine Drittelbeteiligung oder 2.000 für die paritätische Mitbestimmung zur SE umgewandelt. Da dabei das Vorher-Nachher-Prinzip gilt, der Status quo ohne mitbestimmten Aufsichtsrat also eingefroren wird, können sich Firmen auf diese Weise unwiderruflich aus dem System der Mitbestimmung verabschieden – auch wenn sie später deutlich mehr Beschäftigte haben. Das I.M.U. geht von 58 Unternehmen mit mindestens 236.000 Beschäftigten in Deutschland aus, die als SEs mit mehr als 2000 Beschäftigten im Inland nicht paritätisch mitbestimmt sind. Dazu zählt der Report etwa den Gesundheitskonzern Schön Klinik, die Pro Sieben Sat1 Media, das Wohnungsunternehmen Vonovia oder den Versandhändler Zalando. Insgesamt verfüge nur jede fünfte deutsche SE mit mehr als 2000 Beschäftigten über einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat – fast ausschließlich sind das etablierte Großunternehmen, die schon vor der Umwandlung mitbestimmt waren. Eine Variante ist die Rechtsform der SE & Co. KG. Unter dieser Konstruktion firmiert laut Studie unter anderem die Dachser Group. Insgesamt zählen die Forscher 24 SE & Co. KGs mit rund 138.000 Beschäftigten. Diese Gruppe ist in den letzten Jahren sehr schnell gewachsen. Zusammengenommen haben also 82 SEs mit jeweils mehr als 2000 inländischen Beschäftigten keinen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat. „Die SE ist deshalb ein Kernproblem für die Partizipation im Aufsichtsrat“, schreibt Sick.

 

Weitere 50 Unternehmen mit zusammen mindestens 550.000 Beschäftigten in Deutschland ordnen die Experten verschiedenen anderen Rechtsformen zu, bei denen Mitbestimmungsrechte von Beschäftigten legal blockiert werden. Knapp die Hälfte verwenden Konstruktionen über (Familien-)Stiftungen, zum Beispiel die Einzelhändler Aldi und Lidl.

 

Hunderte Unternehmen ignorieren rechtswidrig Mitbestimmungsrechte

Zusätzlich zu den 194 „Mitbestimmungsvermeidern“ zählen die Forscher 113 Unternehmen mit je mindestens 2000 inländischen Beschäftigten, die qua Größe und Rechtsform zwar gesetzlich verpflichtet seien, einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat einzurichten, diese Vorgabe aber schlicht ignorierten. Als Beispiele nennt Unternehmensrechtler Sick die Drogeriekette Rossmann oder den Gebäudedienstleister Piepenbrock. Nach einer älteren Untersuchung am Lehrstuhl von Professor Bayer setzt sich diese „rechtswidrige Mitbestimmungsignorierung“ bei Hunderten mittelgroßen Unternehmen fort, in denen Arbeitnehmer nach dem so genannten Drittelbeteiligungsgesetz eigentlich Anrecht auf ein Drittel der Stimmen im Aufsichtsrat hätten.

 

Reformen gegen Aushebelung von Mitbestimmung

Der Standortvorteil Mitbestimmung sei durch die vielen Umgehungsmöglichkeiten und Verstöße in Gefahr, stellen die Experten der Hans-Böckler-Stiftung fest. Dabei habe der Gesetzgeber sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene etliche Möglichkeiten, der Mitbestimmung Geltung zu verschaffen. Nach Einschätzung der Fachleute ist der gesetzgeberische Aufwand eher gering. Sie empfehlen als zentrale Reformen:

  • Durch ein sogenanntes „Mitbestimmungserstreckungsgesetz“ müsse klargestellt werden, dass die Wahl einer Konstruktion mit ausländischer Rechtsform die Mitbestimmung nicht aushebeln kann. Es gelte sicherzustellen, dass alle Unternehmen mit mindestens 500 Beschäftigten in Deutschland die Mitbestimmungsgesetze anwenden. Das ist nach Einschätzung des I.M.U. europarechtskonform möglich.
  • Bei europäischen Rechtsformen wie der SE müsse der Gesetzgeber gewährleisten, dass das „Einfrieren“ auf einem Status ohne oder mit geringer Mitbestimmung durch taktische Umwandlung verhindert wird. Konkret heißt das: Wächst die Beschäftigtenzahl über die Schwellenwerte von 500 bzw. 2000 Beschäftigten, müssen die Mitbestimmungsrechte entsprechend mitwachsen.
  • Unternehmen, die Mitbestimmungsrechte rechtswidrig nicht anwenden, müssen effektiv sanktioniert werden.
  • Die EU-Kommission sollte eine Rahmenrichtlinie in Angriff nehmen, die europaweit generelle Mindeststandards für die Arbeitnehmerpartizipation setzt. Die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müsse als Kernelement der europäischen Corporate Governance verankert werden. 


Weitere Informationen

Die PM mit Grafik und Tabelle (pdf)

 

Mitbestimmung der Zukunft. Mitbestimmungsreport Nr. 58, April 2020
 

Einen kompakten, pointierten Überblick zur Mitbestimmung in Betrieben und Unternehmen und den aktuellen Herausforderungen bietet unser neues Video zum 1. Mai

 

Kontakt                         

Rainer Jung, Leiter Pressestelle

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