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Podcast Folge 78 mit Johanna Wenckebach und Yvonne Lott Service aktuell

Systemrelevant Podcast: Wieso das Arbeitszeitgesetz dem Schutz der Gesundheit dient

Johanna Wenckebach und Yvonne Lott sprechen mit Marco Herack über das Arbeitszeitgesetz, dessen Nutzen für Gesundheit oder Vereinbarkeit von Familie und Beruf und wieso es äußerst kritisch wäre, wenn es geschwächt würde.

[02.11.2021]

Im Sondierungspapier von SPD, Grünen und der FDP wurden zehn Ergebnisse der gemeinsamen Vorverhandlungen festgehalten – einer der Punkte lautet: Respekt und Chancen in der modernen Arbeitswelt. Bei der sich dort befindenden Formulierung, dass eine „Möglichkeit zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit“ in Zukunft gewollt ist, würden bei ihr als Arbeitsrechtlerin alle Alarmsirenen läuten, so Johanna Wenckebach, Direktorin des HSI.

Das Papier würde schon gute und wichtige Ansätze beinhalten, auch wenn vieles wenig konkret wäre, aber dieser Punkt sei hochkritisch. Die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes stellen seit 1918 zentrale Grenzen dar, für die lange gekämpft wurde. Sie gewährleisten ein besseres Leben für arbeitenden Menschen, das Recht auf ein gutes Leben und darauf, sich von der Arbeit erholen zu können – und so die eigene Gesundheit zu schützen. Weiterhin sei es essenziell für die Teilhabe an einer demokratischen Gesellschaft, wichtig für ein gutes Familienleben und auch um einfach Freizeit für kreative Tätigkeiten zur Verfügung zu haben.

All das, was Menschsein ausmacht. Viele Jahrhunderte war dies ein Privileg von wenigen Menschen. Jeder arbeitende Mensch hat seitdem ein Recht auf arbeitsfreie Zeit – eine zentrale Errungenschaft in der Arbeitswelt. Das kann nicht einfach „mal so wegen Digitalisierungs- und Modernisierungs-Aspekten weggestrichen werden“, so Wenckebach.

Auch für Yvonne Lott vom WSI war dieser Punkt im Sondierungspapier ein großes Ärgernis. Es würde nicht darum gehen, dass flexibleres Arbeiten grundsätzlich abzulehnen wäre. Nur sei es so, dass es genügend Befunde, auch internationale Studien, dazu gäbe, wann flexiblere Arbeitszeiten den Beschäftigten in ihrem Sinne wirklich helfen, etwa bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Eine grundsätzliche Abschwächung des Arbeitszeitgesetzes im Sinne einer Ausweitung der täglichen Höchstarbeitszeit würde bedingen, dass weniger auf Ruhezeiten geachtet wird. Es braucht aber nach wie vor klar geregelte Ruhezeiten, eine zeitnahe, elf Stunden lange Erholung von der Arbeit. Unabhängig von Digitalisierungs- und Modernisierungs-Wünschen benötigt der Mensch rein biologisch diese Pausen, so die Expertin für Arbeitszeitforschung Lott.

Zeitnah bedeutet hier auch, dass eine tägliche Grenze wichtig sei. „Schlafen ist schon schön, wenn man das jeden Tag machen kann“, so Johanna Wenckebach. Eine Arbeitszeitbegrenzung bringt einen Schutz der Gesundheit mit sich. Wenn Menschen nicht abschalten können, steigt die Gefahr eines Herzinfarkts oder die psychische Gesundheit leidet.

Arbeitsschutz ist nicht verhandelbar

Johanna Wenckebach verweist darauf, dass es eindeutig die Arbeitgeberlobby ist, die durch eine Änderung ihre Flexibilitätsinteressen umgesetzt bekommen möchte. Es ginge auch um einen dicken Kostenpunkt: Die Begrenzung und die Regelung von Arbeitszeit bei vorhandenen Tarifverträgen bedeutet Zuschläge für Mehrarbeit und Überstunden.

Will man nun wirklich aus dem vorhandenen Personal alles rausquetschen oder sollte man nicht vielleicht einfach auch mehr Menschen einstellen, um die Schichten zu bewältigen? Bei den Pflegekräften konnte in den vergangenen Monaten am eindeutigsten gesehen werden, wohin dies führt: Die Beschäftigten verlassen ihre Berufe, weil sie einfach nicht mehr können. Das ist keine Lösung. Auch aufgrund des Fachkräftemangels in einigen Branchen.

Zum Ende bleibt festzuhalten: Flexibilisierungsinteressen der Arbeitgeberseite sind ungleich Zeitautonomie und Vereinbarkeit für Beschäftigte. Arbeitsschutz ist nicht verhandelbar, hier gibt es keine Kompromisse, denn dem Körper können keine Kompromisse angeboten werden.

Zusätzliche Informationen zu dieser Folge

Pressemitteilung »Flexible Arbeitszeiten: Ohne tägliche Grenze leidet Erholung, deutlich mehr Überstunden ohne Zeiterfassung«

Die komplette Studie »Flexibilisierung der Arbeitszeit«

Systemrelevant Folge 63: Ist das Arbeitszeitgesetz noch zeitgemäß?

Hier das Transkript zur Folge 78 als PDF herunterladen!

Alle Informationen zum Podcast

In Systemrelevant analysieren führende Wissenschaftler:innen der Hans-Böckler-Stiftung gemeinsam mit Moderator Marco Herack, was Politik und Wirtschaft bewegt: makroökonomische Zusammenhänge, ökologische und soziale Herausforderungen und die Bedingungen einer gerechten und mitbestimmten Arbeitswelt – klar verständlich und immer am Puls der politischen Debatten.

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