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Das Bild zeigt Dr. Jan Brülle, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Referat Verteilungsanalyse und Verteilungspolitik am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung Service aktuell

WSI-Verteilungsbericht: Soziale Teilhabe in Gefahr

Steigende Armut und soziale Unsicherheit belasten die Demokratie in Deutschland. Wie dringend eine Politik gebraucht wird, die Teilhabe für alle ermöglicht, zeigt der WSI-Verteilungsbericht. Jan Brülle erläutert zentrale Ergebnisse.

[18.11.2024]

Ein zentrales Versprechen unserer Demokratie ist es, allen Menschen ein Mindestmaß an Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Dies gilt für soziale Aktivitäten und das kulturelle Leben ebenso wie für politische Teilhabe. In unserem diesjährigen WSI-Verteilungsbericht untersuchen wir, wie es um die Teilhabe der unteren Einkommenshälfte bestellt ist. Zu dieser großen Gruppe gehören Arme, also Personen, die weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens haben; Menschen mit prekären Einkommen (60 bis 80 Prozent) sowie die untere Mitte (80 bis 100 Prozent).

Menschen in Armut sind dabei mit sehr unmittelbaren Einschränkungen ihrer materiellen Teilhabe konfrontiert: Jede*r Zehnte unter ihnen kann es sich nicht leisten, abgetragene Kleidung durch neue zu ersetzen. 17 Prozent von Ihnen müssen ihre sozialen Aktivitäten einschränken, weil sie nicht ins Kino oder zu anderen Veranstaltungen gehen können. Und das schon zum Befragungszeitpunkt 2021, also vor den deutlichen Preissteigerungen. Für Menschen oberhalb der Armutsschwelle sind solche direkten materiellen Einschränkungen seltener relevant. Allerdings fürchten sie sich oft davor, zeigen hier Daten der Lebenslagenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung von 2023: Menschen in allen drei Einkommensgruppen unterhalb des Medians machen sich große Sorgen darum, ihren Lebensstandard in Zukunft nicht halten zu können. Diese Zukunftssorgen haben sich seit 2020 deutlich verschärft.

Diese Verunsicherung spiegelt sich auch in den politischen Einstellungen wider: Nur etwa die Hälfte der Menschen in der unteren Einkommenshälfte stimmt der Aussage zu, dass die Demokratie in Deutschland im Großen und Ganzen gut funktioniert. Zudem zeigt sich eindeutig, dass die Distanz zum politischen System umso größer ist, je niedriger das Einkommen ist.

Wie kann eine Strategie aussehen, die sowohl die materiellen Nöte von Menschen in Armut lindert, die aber auch die Verunsicherung aufgreift, die bis in die Mitte der Gesellschaft hinein reicht? Im politischen Diskurs wird häufig ein Gegensatz zwischen einer Politik für Menschen in Armut und einer Politik für die „arbeitende Mitte“ konstruiert. Kürzungen beim Bürgergeld werden beispielsweise damit gerechtfertigt, dass sich Erwerbstätigkeit für die „Fleißigen“ sonst nicht mehr lohne. Diese Gegenüberstellung ist jedoch kontraproduktiv: Ein Rückbau sozialer Transferleistungen und wachsende Armut verstärken nicht nur die materiellen Schwierigkeiten derjenigen mit geringen Einkommen. Das verschärft auch die Angst vor dem sozialen Abstieg. Und dies – so ist zu befürchten – spielt am Ende vor allem den Populisten in die Hände.

Dr. Jan Brülle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Referat Verteilungsanalyse und Verteilungspolitik am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung.

Weitere Informationen

Ungleiche Teilhabe: Marginalisierte Arme – verunsicherte Mitte – WSI-Verteilungsbericht 2024

Wie Armut der Demokratie schadet – Podcast Systemrelevant Folge 216

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