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Editorial Newsletter HANS 19-2022 Malte Lübker Service aktuell

Wiedervereinigung und Mindestlohn: Überproportional viele Menschen im Osten profitieren von der Mindestlohnerhöhung

Die Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro hilft enorm - insbesondere in Ostdeutschland. Gute Löhne für alle Beschäftigten in Ost und West lassen sich aber nur über Tarifverträge erreichen, schreibt Malte Lübker.

[3.10.2022]

Auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung klafft in Deutschland auf den Gehaltsabrechnungen noch immer eine große Lücke zwischen Ost und West: Nach einer aktuellen Analyse auf Basis der WSI-Lohnspiegel-Datenbank verdienen Beschäftigte in Ostdeutschland bei gleicher Qualifikation etwa 14 Prozent weniger als im Westen. Je nach Beruf macht der Unterschied für Vollzeitbeschäftigte ein paar hundert Euro im Monat aus, kann aber – im Fall von Maschinenbauingenieur:innen – auch bis zu rund 1.000 Euro betragen. Um einen belastbaren Vergleich zu erzielen, beziehen sich die Daten auf eine „Standardfall“ mit zehn Jahren Berufserfahrung. 

Der Mindestlohn von 12 Euro, der bundesweit ab dem 1. Oktober gilt, hilft am unteren Rand der Lohnverteilung, das innerdeutsche Lohngefälle abzubauen: Im Osten ist derzeit das Risiko besonders hoch, zu Löhnen unterhalb von 12 Euro zu arbeiten. Im Umkehrschluss profitieren dort auch überproportional viele Menschen von der Mindestlohnerhöhung, auch wenn die absolute Anzahl der Beschäftigten, die ab dem 1. Oktober höhere Löhne bekommen, wegen der höheren Einwohnerzahl im Westen deutlich höher ist, wie eine aktuelle Analyse des WSIs auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zeigt 

Gute Löhne für alle Beschäftigten in Ost und West lassen sich aber nur über Tarifverträge erreichen. Inzwischen liegt die tarifliche Grundvergütung in Ostdeutschland bei 98 Prozent des Westniveaus – ein oft unterschätzter Beitrag der Gewerkschaften zur Herstellung von gleichwertigen Lebensverhältnissen. Tarifverträge können aber nur wirken, wo sie auch verbindlich angewendet werden. Nach Zahlen des IAB-Betriebspanels lag die Tarifbindung im Jahr 2021 in Ostdeutschland nur noch bei 45 Prozent der Beschäftigten, verglichen mit 54 Prozent im Westen. Gleichzeitig liegen in Ostdeutschland die Entgelte in Betrieben ohne Tarifbindung besonders deutlich unter denen in vergleichbaren Betrieben mit Tarifvertrag. Die innerdeutsche Lohnlücke ist also auch darauf zurückzuführen, dass sich viele ostdeutsche Arbeitgeber der Tarifbindung entziehen. 

Tarifflucht ist aber längst auch im Westen zum Problem geworden. Das Paradebeispiel dafür ist der Einzelhandel, im dem die Löhne und Gehälter bis zur Jahrtausendwende über allgemeinverbindliche Tarifverträge (AVE) geregelt wurden. Inzwischen beträgt die Tarifbindung im Einzelhandel nur noch 28 Prozent (West) bzw. 21 Prozent (Ost). Deshalb ist es auch kein Trost, dass die Lohnlücke zwischen Ost und West in wichtigen Handelsberufen mit gut 5 Prozent vergleichsweise klein ist. Niedrige Löhne für alle sind kein Weg zur Vollendung der Deutschen Einheit. Eine Stärkung der Tarifbindung, auch durch neue Tariftreuegesetze und erleichterte AVE, hingegen sehr wohl. 

Dr. Malte Lübker ist Referatsleiter für Tarif- und Einkommensanalysen am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung  

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HANS. 19/2022

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