Quelle: HBS
Service aktuellTagung zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen: Barrierefreiheit ist ein Menschenrecht, auf dessen Umsetzung Millionen Menschen nach wie vor warten
In Deutschland gibt es seit 2002 das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG). Wie wirkungsvoll es ist, hat eine Evaluation herausgefunden. Johanna Wenckebach erläutert die Ergebnisse und Handlungsempfehlungen für die Politik.
[23.10.2023]
Menschen mit Behinderung machen Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierung überall in unserer Gesellschaft. Diskriminierungsverbote wollen das verhindern. Doch wie gelingt das in der Praxis? Wie können Teilhabe und Inklusion von menschenrechtlichen Geboten – Gesetzestexten – zu gelebter Praxis werden? Diese Frage ist für Millionen Menschen mit Behinderung – zum Jahresende 2021 lebten in Deutschland rund 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen – von entscheidender Bedeutung für die Qualität ihres Lebens. Und natürlich betrifft das auch die Arbeitswelt und den Sozialstaat.
Der Frage, wie wirkungsvoll das geltende Recht das Erreichen seiner Ziele in der Praxis bewirkt, hat sich die Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes gewidmet, die das Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht (HSI) gemeinsam mit Prof. Felix Welti und Team (Universität Kassel) und dem Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) erarbeitet hat. Der Bericht, den das Bundesarbeitsministerium in Auftrag gegeben hat, stellt den Grad der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben – unter anderem zur Barrierefreiheit – fest und macht Handlungsempfehlungen für die Politik. Ergebnis: Es gibt einigen Handlungsbedarf. Höchst erfreulich ist deshalb, dass Dr. Annette Tabbara, Abteilungsleiterin des Bereichs Teilhabe im Bundesarbeitsministerium, auf einer Tagung des HSI zum Thema sehr konkret angekündigt hat: Die Bundesregierung wird einige der Reformvorschläge aufgreifen, um Inklusion und Teilhabe in Deutschland voranzubringen.
Zum Hintergrund: Das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (UN-Behindertenrechtskonvention) wurde 2006 durch die Vereinten Nationen verabschiedet und trat in Deutschland 2009 in Kraft. Es konkretisiert die bereits anerkannten allgemeinen Menschenrechte für die Situation von Menschen mit Behinderungen. In Deutschland gibt es seit 2002 zudem das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG). Es gilt in erster Linie für Behörden, Körperschaften und Anstalten des Bundes, also neben den Bundesministerien zum Beispiel auch für die Bundesagentur für Arbeit oder die Deutsche Rentenversicherung Bund, aber auch für andere Behörden, soweit sie Bundesrecht ausführen (z. B. Versorgungs- oder Sozialämter). Dennoch haben die Vereinten Nationen erst kürzlich die Bundesrepublik gerügt wegen der eklatanten Barrieren, die hier immer noch abgebaut werden müssen.
Was auch für Barrierefreiheit gilt: Mitbestimmung macht den Unterschied! „Schwerbehindertenvertretungen sind ein Motor der Inklusion.” Diese Aussage von Dr. Alexander von Boehmer, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Schwerbehindertenvertretungen des Bundes, auf dem Podium, deckt sich mit den Ergebnissen der Evaluation des BGG. Und für die Privatwirtschaft bestätigte das Walter Wendt, Vertrauensperson der Gesamt- und Konzernschwerbehindertenvertretung der Mercedes-Benz Group AG und Mitglied im Konzern- und Gesamtbetriebsrat. Er machte auch deutlich: In Zeiten des Fachkräftemangels können Arbeitgeber auf die Menschen mit Behinderung, deren Arbeitslosenquote sehr hoch ist, nicht verzichten. Beide Schwerbehindertenvertreter unterstrichen, dass die Arbeitgeber hier weitaus mehr tun müssen. Um hier nur ein Beispiel zu nennen: Ein Online-Portal für Bewerbungen, das nicht barrierefrei ist, schließt viele Menschen von vorneherein aus.
Wir sehen uns übrigens auch selbst in der Pflicht. Denn auch unsere Angebote sollen mit weniger Barrieren zur Verfügung gestellt werden. Bei der Tagung haben sich das HSI, allen voran unsere Kollegin Antonia Seeland, und die Veranstaltungsorganisation der Hans-Böckler-Stiftung intensiv bemüht, um nicht nur über Barrierefreiheit zu sprechen, sondern sie auch selbst zu voranzubringen: Zum Beispiel durch barrierefreie Einladungen im Netz, Zugänge für Rollstühle, Dolmetschen in Schrift und Gebärdensprache. Das positive Feedback vieler Teilnehmender mit Einschränkungen und ihre rege Teilnahme ist uns ein Ansporn, weiter besser zu werden.
Prof. Dr. Johanna Wenckebach ist die Wissenschaftliche Direktorin des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeits- und Sozialrecht der Hans-Böckler-Stiftung.
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