Quelle: HBS
Service aktuellSorgearbeit: Arbeit in ihrer Vielfalt
Was zeichnet eine Tätigkeit aus, damit sie als Arbeit gilt? Überraschenderweise sehen viele Beschäftigte die Erwerbsförmigkeit nicht als entscheidendes Kriterium – anders als es im öffentlichen Diskurs häufig dargestellt wird. Bettina Kohlrausch beleuchtet den Begriff der Arbeit aus einer neuen Perspektive.
[23.09.2024]
Beim näheren Hinsehen oder aus einer anderen Perspektive betrachtet, werden viele Dinge, die aus der Ferne klar und konturiert erscheinen, unklarer und verschwommener – aber auch vielschichtiger und interessanter. Als Research-Fellow am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) hat Hans J. Pongratz zusammen mit Karin Schulze Buschoff und Sebastian Graf beides gemacht: Er hat sowohl genauer hingeschaut als auch eine neue Perspektive eingenommen und sich dabei eine Tätigkeit vorgenommen, die uns alle sehr beschäftigt: die Arbeit.
Die Autor*innen haben untersucht, welche Merkmale eine Tätigkeit eigentlich haben muss, um als Arbeit gelten zu können. Sie haben hierbei die Perspektive gewechselt, indem sie die Arbeitenden selbst gefragt haben, welche Tätigkeiten für sie eigentlich als Arbeit gelten, welche Eigenschaften den „Arbeitscharakter“ einer Tätigkeit stärken und welche diesen eher abschwächen. Dadurch konnte ein kulturelles Deutungsschema identifiziert werden, welches die „Arbeit in ihrer Vielfalt“ erfasst. Demnach sind Verpflichtung, Anstrengung und Regelhaftigkeit Charakteristika, die die Wahrnehmung einer Tätigkeit als Arbeit eher verstärken, während Befriedigung, Fraglosigkeit und Ungezwungenheit diese eher abschwächen.
Dies ist ein überraschender und spannender Befund, denn während in dem herausgearbeiteten kulturellen Deutungsschema die Erwerbsförmigkeit von den Arbeitenden selbst keineswegs als konstitutives Merkmal von Arbeit definiert wird, stellt sich das in öffentlichen Diskursen und auch in institutionellen Fassungen von Arbeit anders dar. So bleibt unbezahlte Arbeit ‒ insbesondere Sorgearbeit ‒ häufig ungesehen oder der Erwerbsarbeit untergeordnet, wobei nach dem Verständnis der meisten Menschen Sorgearbeit durchaus als Arbeit verstanden wird.
Während die Erwerbsförmigkeit von Arbeit von vielen Menschen eben nicht als konstitutives Merkmal von Arbeit wahrgenommen wird, ist die Verpflichtung, also die Tatsache, dass etwas getan werden muss, weil es von gesellschaftlichem oder privatem Nutzen ist, für viele Menschen ein zentraler Bestandteil von Arbeit. Es scheint, als sei das Alltagsverständnis ‒ die Autor*innen sprechen auch von „impliziter Alltagstheorie“ ‒ politischen und wissenschaftlichen Debatten voraus, denn die Idee der Notwendigkeit betont die Gleichwertigkeit von bezahlter und unbezahlter Arbeit. Eine Gesellschaft, in der Menschen nicht füreinander Sorge tragen, funktioniert genauso wenig, wie eine, in der nicht gebaut, entwickelt oder Landwirtschaft betrieben wird. Arbeit in ihrer Vielfalt ist eben viel mehr als Erwerbsarbeit!
Prof. Dr. Bettina Kohlrausch ist die Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung.
Weitere Informationen
WSI Study: Arbeit in ihrer Vielfalt: Der Arbeitsbegriff der Arbeitenden
Podcast: Was verstehen Menschen unter dem Begriff Arbeit?
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