Soziales Europa: EU-Kommission für angemessene Mindestlöhne und Stärkung der Tarifbindung
In der EU könnten bis zu 25 Millionen Niedriglohnbeschäftigte von einer Anhebung der Mindestlöhne profitieren. Von Thorsten Schulten
[19.04.2021]
Derzeit wird im Europäischen Parlament ein Vorschlag der EU-Kommission für eine Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union diskutiert, der zu einem Meilenstein für ein soziales Europa werden könnte. Erstmals in der Geschichte der EU liegt ein Gesetzesentwurf auf dem Tisch, der Mindestlöhne deutlich erhöhen und Tarifvertragssysteme stärken würde. Der Vorschlag steht damit für einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der europäischen Arbeitspolitik. Noch vor wenigen Jahren verfolgte die EU eine ganz andere Politik und drängte die Mitgliedsstaaten dazu, die Mindestlöhne einzufrieren oder gar abzusenken und die Tarifvertragssystem zu schwächen. Mittlerweile hat sich der Diskurs gedreht: Angemessene Mindestlöhne und eine hohe Tarifbindung gelten heute zu Recht als wichtige Voraussetzung für eine nachhaltige und inklusive Wirtschaftsentwicklung.
Im Kern beinhaltet der Vorschlag der EU-Kommission zwei Maßnahmen: Zum einen sollen die Mitgliedsstaaten verpflichtet werden, ihre Mindestlöhne auf ein Niveau anzuheben, dass allen Arbeitnehmer:innen entsprechend den jeweils nationalen Begebenheiten einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht. Hierbei sollen sie sich an den auf internationaler Ebene üblichen Indikatoren orientieren, wonach ein angemessener Mindestlohn nicht unterhalb von 60 Prozent des Median- bzw. 50 Prozent des Durchschnittslohns von Vollzeitbeschäftigten liegen darf. Für Deutschland, dessen Mindestlohn derzeit gerade einmal bei etwa 48 Prozent des Medianlohns liegt, würde dies eine Anhebung auf etwa 12 Euro pro Stunde nötig machen. Insgesamt könnten in der EU bis zu 25 Millionen Niedriglohnbeschäftigte von einer entsprechenden Anhebung der Mindestlöhne profitieren.
Darüber hinaus will die EU-Kommission die Tarifvertragssysteme fördern: Alle Mitgliedsstaaten, in denen weniger als 70 Prozent der Beschäftigten tarifgebunden sind, sollen verpflichtet werden, zusammen mit Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften nationale Aktionspläne zur Stärkung der Taftbindung auszuarbeiten. Hierbei können zum Beispiel Maßnahmen zur Stärkung von Gewerkschaftsrechten, einer besseren Nutzung von Allgemeinverbindlicherklärungen oder Tariftreuevorgaben bei öffentlichen Aufträgen beschlossen werden. Aktuell wären 17 von 27 EU-Staaten von einer solchen Regelung betroffen, darunter auch Deutschland, wo gerade einmal noch knapp die Hälfte aller Beschäftigten in einem Unternehmen mit Tarifvertrag arbeitet.
Insgesamt markiert der Kommissionsvorschlag sicherlich das aktuell wichtigste politische Projekt für ein sozialeres Europa, mit dem die EU nicht zuletzt bei der Masse der Beschäftigten verlorengegangenes Vertrauen zurückgewinnen könnte.
Prof. Dr. Thorsten Schulten leitet das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.
Der komplette Newsletter
Newsletter Hans.
Unsere Inhalte bequem alle 14 Tage in den Posteingang?
Jetzt hier unseren Newsletter HANS. abonnieren!