Quelle: Cordula Kropke
StipendienPreisträger*innen 2023: Renate Hartwig: Von fehlenden Frauen und wütenden jungen Männern
„Diese Entwicklungen“, sagt Hartwig, „können sich disruptiv auf Familien und Familiengründung sowohl in den Heimat- als auch in den Zielländern auswirken – und in Konsequenz auch auf die gesamte Gesellschaft.“
China und Ostdeutschland mögen nicht allzu viel gemeinsam haben, doch in einem Punkt ähneln sie sich: Es gibt mehr Männer als Frauen im heiratsfähigen Alter. Und das sorgt für Probleme. „Studien zeigen, dass der durch die Ein-Kind-Politik in China verursachte Männerüberhang mit einem Anstieg der Kriminalitätsrate einhergeht“, sagt Renate Hartwig, Juniorprofessorin für Entwicklungsökonomie an der Georg-August-Universität Göttingen und Research Fellow am German Institute for Global & Area Studies (GIGA) in Hamburg. „Auch in den ostdeutschen Bundesländern wird das Geschlechterungleichgewicht mit Kriminalität in Verbindung gebracht – vor allem mit Hassverbrechen.“ Hartwig möchte verstehen, woher diese Zusammenhänge kommen, welche Konsequenzen sie haben und wie sich den negativen Folgen begegnen lässt. Ihrem Forschungsprojekt hat sie einen Titel gegeben, den sie selbst „kontrovers“ nennt: „Missing women & angry young men“. Fehlende Frauen und wütende junge Männer also.
Renate Hartwig aus Weiden ist so etwas wie eine wissenschaftliche Globetrotterin. Ihr Studium der Demografie und der Volkswirtschaft mit Schwerpunkt Entwicklungsökonomik absolvierte sie in London, Rotterdam, Den Haag und im schwedischen Lund. Während ihrer Promotion weilte sie für Forschungsaufenthalte an der Paris School of Economics und der Australian National University in Canberra. Anschließend forschte Hartwig an der Universität von Namur in Belgien sowie in den USA, leitete Forschungsprojekte in Georgien, in Indonesien und vor allem in Afrika. Ihre Aufenthalte in Burkina Faso und Ruanda zählt sie zu den einschneidendsten Etappen ihres Lebenslaufs. „Dort habe ich unglaublich viele wertvolle Freundschaften geschlossen mit Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Geschichten, Erfahrungen und Perspektiven“, sagt sie. „Viele der Geschichten sind Anstoß und finden sich in meiner Forschung wieder.“
Was Hartwig tut, bezeichnet sie als „angewandte Mikroökonomie mit besonderem Fokus auf Entwicklung, Gesundheit, Familiengründung und intra-familiärer Interaktion“. Das klingt vielleicht sperrig, doch die Relevanz ihrer Forschung macht die Ökonomin in wenigen Worten klar. Bis 2050, erklärt sie, werden in Afrika ähnlich viele Menschen leben wie in Asien. „Diese Umverteilung hat geopolitische Brisanz.“ Gleichzeitig nehme die weltweite Migration weiter zu, befeuert durch Klimawandel und Konflikte – und nicht selten geschlechterspezifisch ausgeprägt, wie aktuell die Flucht von Frauen und Kindern aus der Ukraine zeige. „Diese Entwicklungen“, sagt Hartwig, „können sich disruptiv auf Familien und Familiengründung sowohl in den Heimat- als auch in den Zielländern auswirken – und in Konsequenz auch auf die gesamte Gesellschaft.“
Wissenschaft soll für Hartwig nicht Wettbewerb und Konkurrenzkampf sein, sondern Austausch und Zusammenarbeit. „Ich möchte Vorbild sein“, sagt die dreifache Mutter, „für meine Kinder, meine Studierenden und Kolleginnen und Kollegen. Ich möchte den Weg ebnen für mehr Frauen und Mütter in der Wissenschaft und für einen kollaborativen Umgang miteinander werben.“ Einen Umgang, in dem Wissensgewinn, Wissenstransfer und Relevanz im Vordergrund stehen. Und der insbesondere auch die lokalen Partner*innen vor Ort nicht vergisst, wenn es um den Zugang zu Ressourcen und gute Forschungsbedingungen geht.