Quelle: Stephen Petrat
StipendienPreisträger*innen 2024: Lea Elsässer: Was soziale Ungleichheit im Deutschen Bundestag bewirkt
„Wenn die Verteilung sozioökonomischer Ressourcen über politische Teilhabe und den Zugang zu politischen Ämtern entscheidet, ist das Gleichheitsversprechen der Demokratie verletzt“
Es ist eine Entwicklung, die man ohne Übertreibung dramatisch nennen darf. Hatte in den achtziger Jahren immerhin noch ein Fünftel der Abgeordneten im Deutschen Bundestag längere Zeit in einem nicht-akademischen Beruf gearbeitet, sind es heute gerade noch fünf Prozent. Ein Zwanzigstel also. Lea Elsässer will wissen, woran das liegt. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Mainz erforscht, welche Folgen die fast vollständige Akademisierung des Bundestags hat – und wie sich gegensteuern ließe. „Wenn die Verteilung sozioökonomischer Ressourcen über politische Teilhabe und den Zugang zu politischen Ämtern entscheidet, ist das Gleichheitsversprechen der Demokratie verletzt“, erklärt sie. „Dies hat nicht nur Folgen für die Legitimität des politischen Systems – insbesondere in den Augen der Schlechtergestellten –, sondern auch für die von der Politik getroffenen Entscheidungen.“
Elsässer weiß, wovon sie spricht, denn sie beschäftigt sich schon lange mit Fragen politischer Ungleichheit. Geboren 1986 in Marburg und mittlerweile zweifache Mutter, hat sie zunächst in Tübingen, Lissabon und Köln Volkswirtschaftslehre studiert, wechselte für ihre Dissertation dann jedoch zur politischen Ökonomie. „Inspiriert von der Forschung am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, wo ich erst wissenschaftliche Hilfskraft und dann Gastdoktorandin war, rückten die Auswirkungen ökonomischer Ungleichheit auf Politik immer mehr in mein Blickfeld“, sagt die Wissenschaftlerin. Ihre preisgekrönte Doktorarbeit erschien 2018 unter dem Titel „Wessen Stimme zählt?“ und kam zu einem für die Demokratie erschütternden Befund: Keine der Parteien, die in den vorangegangenen zwanzig Jahren an der Bundesregierung beteiligt waren, habe die Anliegen unterer Berufsgruppen vertreten – jedenfalls, soweit sie von denen höherer Berufsgruppen abgewichen seien.
Wenn sie sich in ihrem Habilitationsprojekt nun dem weitgehend durchakademisierten Bundestag widmet, schließt das inhaltlich nahtlos daran an. Insbesondere interessiert sich Elsässer für die Rolle, die die Gewerkschaften für die soziale Repräsentanz im Parlament spielen. „Gewerkschaftliches oder betriebliches Engagement kann als Sprungbrett in die parteipolitische Arbeit dienen, weshalb Gewerkschaften häufig als zentrale Akteure für die Förderung parlamentarischer Repräsentation von Arbeiter*innen gesehen werden“, erklärt die Forscherin. „Deshalb untersuche ich, durch welche Mechanismen Gewerkschaften in Deutschland die politische Mobilisierung und innerparteiliche Nominierung von Arbeiter*innen fördern und wie sich ihr Einfluss im Zeitverlauf gewandelt hat.“
Ihre Forschung versteht Elsässer dabei nicht nur als Erkenntnisgewinn, sondern ausdrücklich auch als ersten Schritt zur Veränderung. „In den letzten Jahrzehnten ist die ökonomische Ungleichheit vielerorts gestiegen und aktuelle Herausforderungen wie der Klimawandel stellen die Gesellschaft vor große Verteilungsfragen“, sagt sie. Vor diesem Hintergrund sei es fatal, wenn sozio-ökonomisch schlechter gestellte Menschen in der Politik nicht mehr vertreten seien und ihre Perspektiven bei wichtigen Zukunftsentscheidungen unterzugehen drohten. Eine Gefahr für die Demokratie. Aber die Wissenschaftlerin ist überzeugt: „Zu verstehen, wie diese Ungleichheiten zustande kommen, kann einen gesellschaftlichen Beitrag dazu leisten, sie zu verringern.“