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Magazin Mitbestimmung

: Zwischen zwei Welten

Ausgabe 09/2011

DUALES STUDIUM Eine Alternative zur Standardausbildung ist die Kombination mit einem Bachelor-Studium. Der Boom dieses Modells trifft bei den Gewerkschaften auf ein gemischtes Echo: Positiv sehen sie die Nähe zum Betrieb – kritisch die Ausleseverfahren und die uneinheitliche Vergütung. Von Joachim F. Tornau

JOACHIM F. TORNAU ist Journalist in Kassel /Foto: Rainer Weisflog

Studium oder Ausbildung? Die schwierige Frage, vor der junge Menschen nach dem Abitur stehen, hat Sönke Vehring für sich ganz einfach beantwortet: Er machte beides. Beim Messtechnikhersteller Sartorius in Göttingen begann er eine Ausbildung zum Mechatroniker und studierte zugleich Elektro- und Informationstechnik an der örtlichen Fachhochschule. Zuerst, bis er nach zwei Jahren den Gesellenbrief in der Tasche hatte, wechselte er tageweise zwischen Werkbank und Vorlesungssaal. Danach studierte er während des Semesters und arbeitete in der vorlesungsfreien Zeit. Eine Doppelbelastung. Doch der 23-Jährige hat seine Entscheidung nie bereut. Gelegentlich, sagt er, sei es schon stressig gewesen. „Aber es ließ sich bewältigen – und es hat mir sogar Spaß gemacht, gleichzeitig zu arbeiten und zu studieren.“ Also Theorie und Praxis zu verbinden und auszuprobieren, wo die eigenen Stärken und Vorlieben liegen. „Niemals sonst“, meint Vehring, „kann man einen so guten Einstieg in die Industrie bekommen.“ 

Mit dieser Überzeugung steht der junge Mann nicht allein. Duale Studiengänge, wie er sie absolviert hat, erfreuen sich wachsender Beliebtheit – bei Betrieben wie bei Bewerbern. Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) hat im vergangenen Jahr fast 51 000 dual Studierende gezählt. Das waren knapp 7000 mehr als noch im Jahr 2008. Ein Plus von rund 15 Prozent. Die Zahl der beteiligten Unternehmen kletterte im selben Zeitraum sogar um 16 Prozent auf jetzt 28 400. Vor allem wirtschafts- und ingenieurwissenschaftliche Ausbildungen werden angeboten, aber auch Informatik oder Sozialwesen. 776 duale Studiengänge gab es im vergangenen Jahr insgesamt. Und die Tendenz ist weiter steigend. „Ich glaube nicht, dass das Ende der Fahnenstange erreicht ist“, sagt Jochen Goeser, Sprecher des BIBB-Projekts „AusbildungPlus“, das Informationen über duale Studiengänge und Zusatzqualifikationen sammelt und als Datenbank im Internet zur Verfügung stellt. „Die Unternehmen spüren die Konkurrenz um Fachkräfte immer stärker und verlagern den Wettbewerb um Talente deshalb vom Ende der universitären Ausbildung an den Anfang.“ 

STEIGENDER BEDARF_ Bei einer BIBB-Umfrage im vergangenen Jahr prognostizierten 41 Prozent der befragten Betriebe einen steigenden Bedarf an dual Studierenden für die eigene Firma. Die Vorteile für Arbeitgeber liegen auf der Hand: Der Nachwuchs wird passgenau ausgebildet, lernt das Unternehmen vom Ausbildungsbeginn an kennen und muss – anders als Kollegen, die erst nach ihrem Hochschulabschluss eingestellt werden – nicht mehr aufwendig eingearbeitet werden. Und: Die Arbeitgeber können darauf setzen, auf diese Weise besonders engagiertes Personal zu gewinnen. „Wer ein duales Studium absolviert, beweist ein hohes Maß an Eigenmotivation, Selbstdisziplin und Organisationsfähigkeit“, sagt Goeser. „Das ist von allen Unternehmen sehr gesucht.“ Heike Jansen, Ausbildungsleiterin bei Sartorius in Göttingen, bestätigt das. 

„Die Bewerber sind in der Regel hoch motiviert, bringen gute Noten mit, sind belastbar“, sagt Jansen. „Das sind genau die Leute, die wir uns wünschen.“ Sieben verschiedene Studiengänge bietet das südniedersächsische Unternehmen mittlerweile an: neben gewerblich-technischen und kaufmännischen Ausbildungen auch Biotechnologie und Informatik. Ausgebildet wird nach Bedarf. „Insbesondere besetzen wir mit den Absolventen Stellen, bei denen ein größeres Hintergrundwissen und mehr Abstraktionsvermögen gefordert ist“, erklärt Jansen. „Dual Studierende lernen, mit einer größeren Brille auf die Dinge zu schauen.“ Derzeit absolvieren 16 der rund 90 Auszubildenden bei Sartorius – fast jeder Fünfte also – ein duales Studium. Die meisten von ihnen werden auch danach im Betrieb bleiben. Wenn sie nicht doch noch ein Master-Studium draufsatteln wollen. 

AUSWAHL IM ASSESSMENT-CENTER_ Wer mit Bachelor-Abschluss plus IHK-Zeugnis auf Jobsuche geht, hat aber auch außerhalb des Ausbildungsbetriebs gute Chancen. Trotz der doppelten Belastung, die neben dem Verzicht auf Semesterferien auch eine Sechstagewoche bedeuten kann, erscheint vielen jungen Menschen ein duales Studium daher äußerst attraktiv. So viele sind es, dass sie zumeist harte Auswahlverfahren durchlaufen müssen – Assessment-Center inklusive. Nach Angaben des BIBB kommen im Bundesdurchschnitt zurzeit 50 Bewerber auf einen Studienplatz. In Einzelfällen können es auch mal 1000 sein. Dennoch sieht Winfried Heidemann, Bildungsexperte der Hans-Böckler-Stiftung und Herausgeber einer Untersuchung zu dualen Studiengängen, in dem neuen Modell nicht den Königsweg in die Zukunft der beruflichen Bildung. „Ich bin da etwas skeptisch.“ 

Denn auch wenn das duale Studium einen Boom erlebt, sei es immer noch marginal: Gut zwei Prozent aller Studierenden und knapp drei Prozent aller Auszubildenden würden derzeit zweigleisig fahren. Mehr nicht. Und das Wachstum habe wahrscheinlich auch eine natürliche Grenze. Bislang jedenfalls würden mit den Bachelor-Absolventen dualer Studiengänge vor allem untere und mittlere Führungspositionen besetzt, sagt Heidemann. Jobs also zwischen den klassischen Facharbeitern und den oberen Führungspositionen, für die – wie etwa in den Forschungslabors beim Chemiekonzern Bayer – nach wie vor Akademiker mit Master-Abschluss oder gar Promotion bevorzugt würden. „Die sind wissenschaftlich einfach besser ausgebildet.“ 

Zu welchen Konditionen dual Studierende nach ihrem Examen vom Ausbildungsbetrieb übernommen werden, kann sich von Unternehmen zu Unternehmen freilich ganz erheblich unterscheiden. „Das ist tarifpolitische Anarchie, was wir da erleben“, sagt Katy Hübner, Bundesjugendsekretärin der IG BCE. „Der Regelungsbedarf ist hoch – aber da stehen wir, ehrlich gesagt, noch ganz am Anfang.“ Beim jüngsten Tarifabschluss im Frühjahr hat sich die Chemiegewerkschaft mit dem Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) auf die Gründung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe geeinigt, die unter anderem ausloten soll, wie dual Studierende künftig ins Tarifsystem eingebunden werden könnten. Die zu klärenden Fragen sind zahlreich: Sie beginnen mit der Vergütung während der Ausbildung und enden noch lange nicht beim Verhältnis zwischen Lern- und Arbeitszeit. 

Tarifvertragliche Regelungen, die darauf eine verbindliche Antwort geben, sind bisher noch überall Mangelware – nicht nur im Zuständigkeitsbereich der IG BCE. 

„Dual Studierende fühlen sich im Betrieb oft wie das siebte Rad am Wagen“, sagt der Bildungsexperte der IG Metall, Klaus Heimann. Denn auch in der Metall- und Elektroindustrie sei der Status der Werkstudenten bislang nur „in einer Handvoll Unternehmen“ klar festgelegt. „Hochschule und Betrieb formulieren da jeweils ihre eigenen Ansprüche. Das sind zwei Welten – die zu regeln, ist nicht ganz einfach.“ 

HAUSTARIF FÜR STUDENTEN_ Das hat zu Beginn seiner Ausbildung bei Sartorius auch Sönke Vehring erfahren müssen. „Wir hatten damals massive Probleme mit den Arbeitszeiten“, erinnert er sich. „Das Unternehmen hatte andere Vorstellungen als wir.“ Doch der junge Mann wollte das nicht kampflos hinnehmen. 

Zusammen mit anderen dual Studierenden trat er in die IG Metall ein, um mit Gewerkschaft und Betriebsrat eine eindeutige und für alle Seiten überzeugende Regelung zu erstreiten. Mit Erfolg: Heute ist Sartorius eines der ganz wenigen Unternehmen in Deutschland, in denen für die wachsende Gruppe der, so die offizielle Bezeichnung, „Studierenden im Praxisverbund“ ein Haustarifvertrag gilt. Einfach, sagt Betriebsrätin Annette Becker, sei das nicht gewesen. „Das Unternehmen hatte zunächst gar kein Interesse an einem Tarifvertrag, sondern wollte lieber nur eine Betriebsvereinbarung abschließen“, erklärt die Betriebsratsvorsitzende der Sartorius Corporate Administration GmbH, der für Ausbildung zuständigen Tochterfirma des Göttinger Messtechnikherstellers. „Dabei sind Vergütungsfragen ja gar nicht in einer Betriebsvereinbarung regelbar.“ Doch nach halbjährigem Verhandeln stand der Vertrag. 

Seitdem bekommen dual Studierende bei Sartorius eine Bezahlung, die sich an der normalen Azubi-Vergütung orientiert, aber höher einsteigt: Schon vom ersten Semester an liegt sie auf dem Niveau des zweiten Lehrjahrs. Dazu gibt es Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld und vermögenswirksame Leistungen. Der Betrieb übernimmt aber auch die kompletten Studiengebühren sowie die Fahrtkosten fürs Pendeln zur Fachhochschule. Und damit für Prüfungen gelernt werden kann, werden zusätzlich zum Jahresurlaub zwei Tage Sonderurlaub gewährt. Sönke Vehring schließt sein Studium in Kürze ab. Dass er danach zumindest für ein Jahr übernommen wird, wird ebenfalls von dem Tarifvertrag garantiert, für den er gekämpft hat. Tarifvertraglich lassen sich jedoch nur die sogenannten ausbildungsintegrierenden Studiengänge regeln, deren Teilnehmer wie Vehring gleichzeitig Azubi und Bachelor-Student sind. 

Gut 40 Prozent der dualen Studienangebote aber funktionieren anders: Sie verbinden das Studium an einer Berufsakademie oder Hochschule mit längeren Praxisphasen in einem Unternehmen, ohne dass am Ende zwingend der doppelte Abschluss steht. Wie das konkret aussieht, machen Betriebe und Hochschulen unter sich aus: Weil die Praktikanten als Studierende gelten, bleiben die Gewerkschaften außen vor. „Da können wir höchstens auf den betrieblichen Teil Einfluss nehmen“, sagt IG-BCE-Sekretärin Jennifer Mansey, die sich bei der Chemiegewerkschaft um Angebote für Berufseinsteiger kümmert. „Etwa, indem wir über den Betriebsrat Urlaubsregelungen treffen.“ 

Doch die Einstufung als Studierende hat auch Probleme auf einer ganz anderen Ebene aufgeworfen: Im Dezember 2009 entschied das Bundessozialgericht, dass Teilnehmer von praxisintegrierenden dualen Studiengängen nicht unter die Sozialversicherungspflicht fallen. „Danach mussten sie sich privat absichern, gleichzeitig aber wurde ihnen von manchen Krankenkassen der Studierendentarif verweigert“, berichtet Jan Duscheck, Jugendsekretär in der Bundesverwaltung der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. „Das war ein ziemliches Durcheinander.“ Erst von 2012 an – so sieht es ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor – sollen alle dual Studierenden wieder sozialversicherungspflichtig sein, unabhängig von der Art des Studiengangs. 

Derlei Ungereimtheiten tragen dazu bei, dass Duscheck in die Lobgesänge auf das duale Studium nicht vorbehaltlos einstimmen mag. „Wir sehen die ganze Entwicklung nicht ganz unkritisch“, sagt der ver.di-Sekretär. Die Gewerkschaft, die insbesondere in der IT- und Telekommunikationsbranche sowie bei Banken und Versicherungen mit einer wachsenden Zahl dual Studierender zu tun hat, fürchtet, dass dieser Boom zulasten normaler Ausbildungsplätze geht. Eine Sorge, die auch von den anderen großen Gewerkschaften geteilt wird. Zahlen, die das belegen, gibt es allerdings noch keine. Doch trotz aller Skepsis und Kritik, trotz Regelungslücken und offener Fragen: Von einem Verteufeln des dualen Studiums sind die Gewerkschaften weit entfernt. 

„Der Bildungsgang bietet die einmalige Chance, Theorie und Praxis zu verbinden – in einem Kopf“, bilanziert IG-Metall-Bildungsexperte Heimann. „Wenn wir jetzt noch ein bisschen an den Rahmenbedingungen feilen, kann das eine gute Alternative werden.“ Und ganz nebenbei kann es den Gewerkschaften vielleicht auch bei der schwierigen Suche nach höherqualifizierten Mitgliedern helfen: Anders als Hochschulabsolventen, die erst nach dem Examen ins Arbeitsleben starten, haben dual Studierende die Bedeutung von Gewerkschaften und Betriebsräten bereits am eigenen Leib erfahren können, hofft Heimann. „Die Frage: Tun die was für mich?, beantwortet sich dann ganz anders.“

Mehr Informationen

www.ausbildungplus.de Website des Bundesinstituts für Berufsbildung mit ausführlichen Informationen über duale Studiengänge und Zusatzqualifikationen

 

Winfried Heidemann (Hrsg.): Duale Studiengänge in Unternehmen. Sieben Praxisbeispiele. Arbeitspapier Nr. 236
der Hans-Böckler-Stiftung. Düsseldorf 2011. 89 Seiten, 16 Euro. Download unter www.boeckler.de/pdf/p_arbp_236.pdf

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