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Magazin MitbestimmungFolgen der Krise : Zwischen Flut und Flaute
In Betrieben mit Beschäftigtenvertretung und Tarifvertrag kommen Beschäftigte besser durch die Krise, wie Umfragen der Hans-Böckler-Stiftung zeigen. Sie können Einkommensverluste mit Vereinbarungen oft abfedern. Manchen Unternehmen brachte die Krise aber auch unerwarteten Aufschwung. Von Fabienne Melzer
Die Krise kann Holger Junge, Konzernbetriebsratsvorsitzender bei Airbus, nicht schönreden. Er hat sie jeden Tag vor Augen. Auf dem Werksgelände in Hamburg stehen die neuen Flieger dicht an dicht, die von den Auftraggebern nicht mehr abgenommen wurden. „Im Moment haben wir wirklich große Probleme in der Fertigung, und es ist kein Geld da.“ Die Airlines haben ihre Bestellungen nicht storniert, aber aufgeschoben. „Wer weiß heute schon, ob er die Krise überlebt“, sagt Junge. Der Betriebsrat schätzt, dass sie frühestens in drei bis vier Jahren wieder bei den Produktionszahlen von vor der Krise sind.
Airbus hat angekündigt, 15 000 Stellen abzubauen, davon 6000 in Deutschland. Alle Leihbeschäftigten werden bereits abgemeldet, befristete Verträge lässt der Konzern auslaufen. „In einem Jahr ist das trotzdem nicht ohne betriebsbedingte Kündigungen zu machen“, sagt Junge. Deshalb setzen sich Betriebsrat und IG Metall für 24 Monate Kurzarbeit ein. Sollte die Krise andauern, favorisieren sie im Anschluss eine kollektive Arbeitszeitverkürzung mit entsprechend weniger Geld. „Wir haben angefangen, darüber mit den IG-Metall-Mitgliedern zu diskutieren“, sagt Junge. „Wenn die Alternative betriebsbedingte Kündigungen heißt, verzichten sie lieber auf Geld.“
Auch Daniel Friedrich, Leiter des IG-MetallBezirks Küste, will beim Flugzeugbauer Airbus alle Instrumente nutzen, um betriebsbedingte Kündigungen zu verhindern. „Wenn es wieder losgeht, brauchen wir Fachkräfte, um den Neustart anzugehen“, sagt Friedrich. Statt Geld in den Personalabbau zu stecken, sähe es der Betriebsrat lieber, wenn es in neue Technik fließt. Schließlich geht es auch darum, ob das Flugzeug der Zukunft noch in Deutschland gebaut wird.
Das produzierende und verarbeitende Gewerbe gehört zu den Branchen, die stark von der Krise getroffen wurden. Das zeigen Zahlen der Erwerbstätigenbefragungen aus April und Juni der Hans-Böckler-Stiftung. Danach mussten im April knapp 27 Prozent der Beschäftigten dieser Branche mit Einkommensverlusten leben. Unter Leihbeschäftigten traf es sogar mehr als 37 Prozent. Insgesamt hatte sich im April für ein Fünftel aller Erwerbstätigen die Pandemie negativ auf das Einkommen ausgewirkt, im Juni für mehr als ein Viertel.
Noch verhandelt der Betriebsrat bei Airbus. Er hält es für möglich, die Krise mit der Belegschaft zu überstehen, wenn der Arbeitgeber guten Willen zeigt. Denn eins hat Holger Junge die Erfahrung gelehrt: „Ich habe schon mehrere Krisen hinter mir, und im tiefsten Tal sahen sie immer schlimmer aus, als wenn wir aus dem Tal wieder heraus waren.“
Kurzarbeit gab es eigentlich nicht
In ein besonders tiefes Tal stürzte die Krise das Gastgewerbe. Dort erlitten laut Befragung im April gut 70 Prozent der Beschäftigten Einkommensverluste. Manche Arbeitnehmervertretung stellte die Krise vor ganz neue Aufgaben.
Kurzarbeit war für Thorsten Braun, Betriebsrat im Steigenberger Hotel am Frankfurter Flughafen, kein Thema. Das gab es in der Branche eigentlich nicht. Gerade noch hatte er sich mit IT-Themen und der Übernahme durch den neuen chinesischen Eigentümer beschäftigt, da wurde er im Frühjahr von einem Tag auf den anderen auf den harten Boden der Kurzarbeit geworfen.
In der Schublade lag noch eine Vereinbarung aus der Krise 2008/2009, die sie damals nicht gebraucht hatten. „Darauf konnten wir aufbauen“, sagt Braun, der auch Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender ist. Der Betriebsrat verfolgte zwei Ziele: Alle Beschäftigten sollten gleichmäßig Kurzarbeit machen, und keiner sollte weniger als 80 Prozent seines vorherigen Nettogehalts bekommen.
Die Aufstockung war ihm besonders wichtig: „Die Tariflöhne in der Hotelbranche sind bedauernswert niedrig. Mit 60 Prozent wäre niemand ausgekommen, schon gar nicht hier, im Raum Frankfurt“, sagt Braun. „Selbst mit 80 Prozent müssen die Kolleginnen und Kollegen noch jeden Pfennig zweimal umdrehen.“ Mit Finanzvorstand und Arbeitsdirektor Heck war sich der Betriebsrat darin einig, und so konnte eine entsprechende Regelung für alle Steigenberger-Betriebe abgeschlossen werden.
In der Branche gibt es nur wenige, die aufstocken, sagt Braun. Darauf deuten auch Zahlen der Befragung der Hans-Böckler-Stiftung hin. Beschäftigte mit niedrigen Einkommen bekommen seltener eine Aufstockung: 33 Prozent mit weniger als 1500 Euro im Vergleich zu 46 Prozent der Befragten mit mehr als 3200 Euro monatlichem Nettoeinkommen. Einen Unterschied macht auch, ob der Arbeitgeber tarifgebunden ist und es einen Betriebsrat gibt. In Unternehmen ohne Tarifvertrag erhielten nur 31 Prozent eine Aufstockung ihres Kurzarbeitergelds.
Unter erschwerten Bedingungen
Der Betriebsrat der Steigenberger Hotels musste sich nicht nur in kurzer Zeit in das Thema Kurzarbeit einarbeiten, er tat es auch unter erschwerten Bedingungen. „Normale Betriebsratssitzungen waren ja von einem Tag auf den anderen nicht mehr möglich“, sagt Braun.
Bis zum Ende der Kurzarbeit sind die Arbeitsplätze bei Steigenberger gesichert. Wie es dann weitergeht, kann zurzeit niemand sagen. Dabei bereitet es Braun Sorgen, wenn er sieht, dass sich Menschen in der Öffentlichkeit nicht mehr an Abstandsregeln halten. „Einen zweiten Lockdown würden wir sicher nicht mehr ohne Arbeitsplatzverluste überstehen.“
Sozialpartnerschaftliche Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern spielen laut Bettina Kohlrausch, Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, neben einem handlungsfähigen Sozialstaat eine wichtige Rolle für die bislang noch relative stabile deutsche Gesellschaft in der Krise. Das zeige sich auch in den Befragungsergebnissen. Allerdings sieht die WSI-Direktorin Anzeichen dafür, dass die Stabilität kippen könnte, wenn durch die Krise ohnehin schon Benachteiligte weiter ins Hintertreffen geraten.
Soloselbstständige fallen durchs Raster
Einige fallen bereits jetzt durch das Netz der schnell aufgelegten Hilfsprogramme, etwa Freiberufler der Kunst- und Kulturszene wie Veranstaltungstechnikerin Sandra Beckmann. Für sie fing die Krise im Februar an. Da sagte die Frankfurter Messe die Light and Building ab, bei der sie im Einsatz gewesen wäre. Nach der Absage telefonierte Sandra Beckmann ihre Kunden ab und dachte nur: „Da rollt eine riesige Insolvenzwelle auf uns zu.“
Ein Ende der Nullauftragszeit sieht sie derzeit nicht. Kleine Events können nur unter strengen Auflagen stattfinden, die sie oft unwirtschaftlich machen. Großveranstaltungen brauchen über ein Jahr Vorlauf. „Wenn wir jetzt eine Veranstaltung für 50 000 Leute planen, und am Ende dürfen nur 5000 kommen, bleiben wir auf unseren Kosten sitzen“, sagt Beckmann. Wie der Veranstaltungstechnikerin ergeht es zurzeit vielen, denn die Branche ist groß. Sandra Beckmann hat es ausgerechnet. Unterm Strich kam sie auf mehr als drei Millionen Beschäftigte, 320 000 Unternehmen und einen Jahresumsatz von 210 Milliarden Euro, schreibt sie auf ihrer Internetseite. „Damit sind wir die umsatzstärkste Branche in Deutschland.“ Ihre Zahlen legte sie im Mai Landtagsabgeordneten in Düsseldorf vor. „Wie groß unsere Branche ist, war ihnen neu.“
Als Verdi-Mitglied wandte sie sich auch an Veronika Mirschel, die sich beim Vorstand der Gewerkschaft um Soloselbstständige kümmert. Die Verdi-Fachfrau vermisst, wie viele in der Branche, ein Zeichen der Politik, dass Kunst und Kultur nicht verzichtbar sind. „Die Soloselbstständigen sind die Einzigen, denen die Politik nichts anderes als Grundsicherung bietet.“
Eine deutsche Besonderheit, wie Karin Schulze Buschoff vom WSI feststellt: „Während in der Mehrzahl der europäischen Länder Selbstständige durch die staatlichen Pflichtversicherungen systematisch erfasst werden, ist sie in Deutschland auf wenige Gruppen begrenzt.“ Zwar können Selbstständige seit 2006 die gesetzliche Arbeitslosenversicherung abschliessen, allerdings nur als Weiterversicherung aus einer vorangegangenen abhängigen Beschäftigung und zu einem fixen Betrag. Um Soloselbstständige besser abzusichern, müssten sie nach Ansicht von Karin Schulze Buschoff in der Arbeitslosenversicherung wie abhängig Beschäftigte behandelt werden. Solange es das nicht gibt, bleibt vielen nur Hartz IV. Auch Sandra Beckmann hat Grundsicherung beantragt. Anders kommt die alleinerziehende Mutter mit ihren drei Kindern nicht über die Runden.
Keine Option für Musiker Martin Ehrhardt aus Leverkusen: „Hartz IV ist für Menschen gedacht, die keine Arbeit haben und eine suchen“, sagt der Violinist. „Aber ich arbeite ja, ich übe täglich mehrere Stunden.“ Rund 70 Prozent seiner Aufträge sind weggebrochen. Er spielt häufig in Kirchen, wo schon zu Ostern alle Konzerte ausfielen. Opernfestspiele im Frühjahr und Sommer – alle gestrichen. „Eigentlich wäre ich im Mai bei den Schwetzinger Festspielen und im Juni in Bayreuth und auf dem Schleswig-Holstein-Festival gewesen“, erzählt Ehrhardt.
Anfangs hatte er sich gefreut über die schnelle und unbürokratische Soforthilfe von 9000 Euro. Nun fürchtet er, das Geld zurückzahlen zu müssen. „Nordrhein-Westfalen und Berlin hatten im Internet veröffentlicht, dass es auch für den Lebensunterhalt gedacht ist“, sagt Gewerkschafterin Mirschel. „Dann wurde es mit den Bundeshilfen zusammengelegt, und seither darf es nur für Betriebskosten ausgegeben werden.“ Doch bei Soloselbstständigen wie Martin Ehrhardt greift der übliche Betriebsbegriff nicht. Deshalb fordert Mirschel, ihn bei Corona-Hilfen zu ändern. Für Martin Ehrhardt, der auch stellvertretender Vorsitzender der Verdi-Fachgruppe Musik in NRW ist, heißt das: „Mein Betrieb bin ich.“ Wenn Soforthilfen gesunde Betriebe retten sollen, bedeute das im Fall von Soloselbstständigen, dass sie zu essen und ein Dach über dem Kopf haben; dass sie die Hilfen auch für ihren Lebensunterhalt verwenden dürfen.
Sandra Beckmann engagierte sich bei der Aktion Night of Lights, bei der weltweit Ende Juni 8000 Kulturstätten rot angestrahlt wurden. Damit wollten die Beteiligten einen Hilferuf an die Politik absetzen. „Wir wollen einen Dialog mit der Politik darüber, wie unsere Branche die Krise überstehen kann“, sagt Sandra Beckmann. Die Lage spitze sich weiter zu. „Die ersten haben inzwischen Insolvenz angemeldet“, sagt Beckmann. „Für uns ist es fünf nach zwölf.“ Deshalb demonstrieren sie weiter, in vielen Landeshauptstädten, mittwochs um fünf nach zwölf.
Plexiglas, der neue Star
Während die Pandemie den einen über Nacht ihre Existenzgrundlage unter den Füßen wegzog, holte sie andere vorübergehend aus der Krise. Beispiel Plexiglas – viele Jahre das Sorgenkind der Firma Röhm in Weiterstadt, seit April der Star der Produktpalette. Während viele Betriebe ihre Produktion im April aufgrund mangelnder Aufträge herunterfuhren, kehrten bei Röhm die Beschäftigten vorzeitig aus der Kurzarbeit zurück.
Betriebsratsvorsitzender Michael Hofmann konnte förmlich zusehen, wie sich die Auftragsbücher von Tag zu Tag füllten. Dabei hatte Plexiglas dem Betriebsrat jahrelang Sorgen bereitet. Immer wieder handelte er Zugeständnisse der Beschäftigten gegen Investitionszusagen des Arbeitgebers aus. „Nun stimmten wir einen Schichtplan im Vierschichtbetrieb ab“, sagt Hofmann. Selbst das reichte nicht, um die Auftragsflut zu bewältigen. Daher stimmte der Betriebsrat befristeten Neueinstellungen bis Jahresende zu. „Im Moment gehen wir davon aus, dass es ein vorübergehendes Hoch ist“, sagt Hofmann. „Bleibt der Bedarf, werden wir Ende des Jahres über Festanstellung der befristeten Kollegen reden.“
Ende des Jahres läuft auch die Vereinbarung aus, die der Betriebsrat 2016 zur Sicherung der Arbeitsplätze in der Produktion der Plexiglasplatten abgeschlossen hatte. „Die Vereinbarung hat uns in den ersten zwei Jahren richtig nach vorn gebracht. Wir haben unsere Produktpalette bereinigt und an den richtigen Stellen investiert“, sagt Michael Hofmann. Auch deshalb konnte Röhm die plötzliche Nachfrage bedienen – und weil der Betrieb über kurze Lieferketten verfügt. Das Vorprodukt liefert der Standort in Worms – kurze Wege ohne Staatsgrenzen.
Andere Produktionsbereiche spüren dagegen die Krise. Wo Beschäftigte Vorprodukte für die Autoindustrie fertigten, gibt es jetzt 20 Prozent Kurzarbeit. Die Produktion für Straßenmarkierungen leidet unter der Krise der südeuropäischen Märkte. „Insgesamt“, schätzt Hofmann aber, „kommen wir mit einem blauen Auge davon.“
Weitere Informationen
Andreas Hövermann: Soziale Lebenslagen, soziale Ungleichheit und Corona – Auswirkungen für Erwerbstätige. Eine Auswertung der HBS-Erwerbstätigenbefragung im April 2020. Policy Brief Nr. 44, Policy Brief WSI, 6/2020
Karin Schulze Buschoff: Solo-Selbstständigkeit in Deutschland. Policy Brief Nr. 4, Policy Brief WSI, 03/2016