Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungIntegrationsangebote: „Wir wollen, dass sie bleiben“
Kommunen und Arbeitgeber haben verstanden, dass sie etwas tun müssen, um ihre ausländischen Beschäftigten auf Dauer zu halten. Der in manchen Regionen und Branchen schon spürbare Fachkräftemangel half beim Erkenntniszugewinn. Von Jeannette Goddar
Zwischen Obstbäumen und frei laufenden Hühnern steht ein junger Mann auf einem bayerischen Hof und sagt „Servus“. Und dann, gleich darauf, ein ihm doch leichter von den Lippen gehendes: „Hola!“ José Manuel Marmal Rodriguez heißt der 33-Jährige, der seine anfangs hoffnungsvolle Laufbahn als Elektriker in Barcelona zuletzt steil bergab gehen sah. Im Frühjahr 2012 hievte der junge Vater hauptberuflich am Flughafen Koffer auf das Band. Als er las, dass in Deutschland Fachkräfte gesucht würden, bewarb er sich. Nun installiert er in einem Landwirtschaftsbetrieb die Elektrik der neuen Fotovoltaik-Anlage. „Eine gute Entscheidung“, strahlt er, „es geht jeden Tag ein bisschen besser.“
IN MANCHEN BRANCHEN WIRD ES ENG
Zu verdanken hat der junge Spanier sein Leben in der 11 000-Seelengemeinde Wolnzach im größten Hopfengebiet der Welt der Vermittlung durch Uwe Holzvoigt. Der ist Geschäftsführer des 100-Mann-Betriebs Schäch Haustechnik, der zwischen München und Ingolstadt Heizungsbau, Sanitärinstallation und Solarenergie anbietet. Holzvoigt kam einst aus dem Harz in die Region, deren wirtschaftliche Struktur mit der seiner niedersächsischen Heimat wenig zu tun hat: Reich geworden durch den Hopfen und heute im Einzugsgebiet sowohl des Flughafens München als auch der Autostadt Ingolstadt liegend, gibt es in Wolnzach einen Mangel an Wohnungen und an Kita-Plätzen – aber kaum an Arbeit. Die Arbeitslosenquote pendelt seit Jahren um 2,2 Prozent. Ein Glücksgriff, meinte Holzvoigt. Bis er feststellte, dass die Liste der Stellen, die er ausschrieb, immer länger wurde – trotz Tariflöhnen, unbefristeten Verträgen und der Zusicherung, bei der Suche nach einer Unterkunft zu helfen. „In der Schule wird so dahergesagt: Wenn du nicht ordentlich lernst, kommst du auf den Bau“, sagt er. „Das merken sich die Leute offensichtlich.“ Tatsächlich kommen auch laut Bundesagentur für Arbeit im Bereich Klempnerei, Sanitär, Heizung, Klimatechnik im Mai 2013 auf 100 offene Stellen 61 Bewerber, bundesweit.
Uwe Holzvoigt dachte sich: Der Bauboom in Spanien hat angesichts der Krise ja wohl ein Ende. Ob es dort junge, gut ausgebildete Leute gibt, die gern nach Deutschland kommen? Er frischte Kontakte nach Barcelona auf und wurde mithilfe einer Anwältin vor Ort fündig. Gleichsam von der anderen Straßenseite in Wolnzach verfolgte Roman Neuber, Chef von José Manuel Marmal Rodriguez und von Elektro-Neuber – zweite Generation, 70 Mitarbeiter, zehn Auszubildende – das Geschehen. Er schloss sich an. So kamen im vergangenen Sommer vier Spanier nach Wolnzach. Die erwartete weit mehr als ein Arbeitsplatz: Ihre Arbeitgeber marschierten mit ihnen zu Vermietern und in den Fußballverein. Von der Volkshochschule warb Holzvoigt die Spanischlehrerin Isabel Velasco an, die alle Neuankömmlinge bei ihren bürokratischen Wegen begleitete und zweimal in der Woche zum Deutschunterricht in den Betrieb kommt. Bei der Arbeit stellte er den spanischen Anlagetechnikern einen „Buddy“ zur Seite. „Wer neu ist, braucht einen Ansprechpartner“, sagt Holzvoigt, „und wenn es mit der Sprache hakt, auch einen, der ihn mal in Schutz nimmt.“ Auch die Kita wurde auf spanische Kinder vorbereitet; nach einem halben Jahr, das war von vornherein der Plan, holten die neuen Fachkräfte ihre Frauen und Kinder nach. „Wir wollen, dass sie bleiben“, sagt Roman Neuber. „Was nützt mir ein Elektriker, der, meilenweit von seiner Familie weg, hier unglücklich ist? Wer will, dass die Leute bleiben, muss etwas dafür tun. Der Fachkräftemangel wird nicht morgen wieder vorbei sein.“
Das sieht man auch in Deggendorf so, einer 30 000-Einwohner-Kreisstadt unweit der tschechischen Grenze. „Seit zwei, drei Jahren schlägt der Mangel richtig durch“, konstatiert Stefan Weinberger, Personalchef beim Bauunternehmen Streicher, das vor Ort mehr als 1000 Mitarbeiter beschäftigt, „trotz Ausbildungsvergütungen von mehr als 1000 Euro im zweiten Lehrjahr. Aber die ganze Zeit draußen, bei Wind und Wetter – das wollen viele Jugendliche nicht.“ Glaubt man der Agentur für Arbeit Deggendorf, standen 190 unbesetzte Stellen zu Beginn des Ausbildungsjahrs 2011 nur vier Bewerber gegenüber. Und auch wenn Edwin Urmann, DGB-Vorsitzender Donau-Wald, die Zahlen weder bestätigen noch dementieren mag, sagt er: „Die jungen Leute werden weniger. Sie gehen studieren oder in die Städte. In manchen Branchen wird es eng.“
Mit dem CSU-Landrat Christian Bernreiter flog Stefan Weinberger vor zwei Jahren nach Bulgarien – Stellenausschreibungen und Erklärfolien für Rohrleitungsbauer, Straßenbauer und Stahlbetonbauer im Gepäck. Dort, in der Stadt Burgas, war das Interesse der Jugendlichen, deren Schule seit Jahren eine Partnerschaft mit Deggendorf pflegt, groß. Noch vor Ort wurden Vorstellungsgespräche geführt; kurze Zeit später kamen die ersten bulgarischen Azubis. Ihre Zahl ist inzwischen auf rund 35 angewachsen. Auch in Deggendorf bezahlen die Betriebe Sprachkurse, zudem auch die Unterkunft und zwei Flüge nach Bulgarien pro Jahr. Das Landratsamt stellte eine Mitarbeiterin ab, die sich um die Behördengänge bis hin zur Befreiung von den Rundfunkgebühren kümmert, der Kreisjugendring organisiert Ausflüge und den Kontakt zu den deutschen Jugendlichen. Die Deggendorfer spendeten Fahrräder, mit denen die Auszubildenden ihre neue Heimat erkunden. Stefan Weinberger ist trotz des Aufwands äußerst zufrieden: „Die Motivation der Jugendlichen ist bewundernswert“, sagt er, „und auch wenn das Modell mit Investitionen verbunden ist: Wir sind überzeugt, dass sie sich lohnen.“
Der Umgang mit den neuen Fachkräften signalisiert eine sehr andere Haltung, als sie beispielsweise bei der Anwerbung der einstigen Gastarbeiter üblich war, die als schlichte Arbeitskräfte auf Zeit betrachtet wurden. „Niemand will, dass die Leute aus Heimweh wieder weglaufen“, erklärt Marion Rang, Sprecherin der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung in Bonn, die im Auftrag von Arbeitgebern ausländische Fachkräfte sucht. „Im Gegensatz zu früher ist klar: Es soll auf Dauer sein. Betriebe und Kommunen haben das verstanden.“
ZAUBERWORT WILLKOMMENSKULTUR
Und die Menschen folgen dem Ruf aus Deutschland. Vor allem aus Griechenland und Spanien kommen von Jahr zu Jahr mehr Leute. Dass längst nicht alle bleiben, bewerten manche Experten in Zeiten der Freizügigkeit als völlig normal; unstrittig ist aber auch, dass man dafür, dass Menschen bleiben, etwas tun kann. Das Zauberwort, das sich damit verbindet, lautet: Willkommenskultur.
Die bestehe, sagt eine, die es wissen sollte, aus drei Teilen: der Vorintegration, der Unterstützung bei der Ankunft und der dauerhaften Begleitung. Die Juristin Birte Steller leitet in Hamburg ein Büro gleich neben dem Rathaus, das man sich so vor einigen Jahren nicht hätte träumen lassen: das Hamburg Welcome Center, getragen von der Arbeits- und Sozialbehörde. Mitten in der Stadt machen 13 Mitarbeiter vor, wie dieser Dreiklang geht. Wer sich – und zwar egal ob in Indien, Griechenland oder Wernigerode – für Leben und Arbeiten an der Elbe interessiert, bekommt schon vor der Anreise Auskunft. „Wer uns schreibt, erhält binnen 48 Stunden eine Antwort, die auf seine Situation passt“, erklärt Birte Steller, „zu Einreisemodalitäten, Wohnungsmarkt oder Schulsystem zum Beispiel.“
Für Zuwanderer firmiert das Zentrum nach kanadischem Vorbild als „One Stop Agency“ – Melde- und Ausländerangelegenheiten können unter einem Dach erledigt werden: von der Anmeldung des Wohnsitzes über die Verlängerung des Aufenthalts bis zu den Einladungen für die Ehepartner nach Deutschland. Außerdem erhält jeder ein Willkommenspaket: eine Hamburg-Tasche mit Informationen von der gesetzlichen Krankenversicherung bis zum Bildungssystem, einem Stadtplan mit Anlaufstellen und einem Magazin „New in the City“ – inklusive Schnellsprachkurs Deutsch-Englisch-Plattdeutsch. Bei Fahrradtouren oder Willkommenstagen der Neuankömmlinge sollen zudem dauerhafte Netzwerke angebahnt werden.
Vor allem herrscht in dem Welcome Center eine Atmosphäre, für die Ausländerbehörden bislang nicht gerühmt wurden: Freundlich und zugewandt holen die Mitarbeiter ihre Kunden in einem geräumigen Flur mit Sesseln, Lesesofa und Bücherecke ab: „Are you Mr. Singh? Would you come with me? Sprechen Sie Deutsch oder Englisch?“ „Wenn die Leute hier nicht mit offenen Armen empfangen werden, wird es schwer,“ sagt Birte Steller. Gari Pavkovic, gerade von einem Besuch in Hamburg zurück, gibt neidlos zu: „So etwas brauchen wir auch!“ Pavkovic ist seit mehr als zehn Jahren der Integrationsbeauftragte einer Stadt, die in dieser Hinsicht bisher immer als vorbildlich galt: Stuttgart. Nun arbeitet auch die Schwabenmetropole – wie übrigens auch München – an einem Willkommenszentrum. „Und zusätzlich“, kündigt Pavkovic an, „bekommt noch jeder Zuwanderer bei uns einen Stuttgarter Bürger als Mentor zur Seite gestellt!“
Ist also alles schön im neuen Willkommensland? Nicht ganz, sagt Pavkovic und gibt unumwunden zu: Es bleibt viel zu tun – vor allem bei der Integration derer, die schon in Deutschland sind, auch der Hochqualifizierten. „Es kommt vor, dass Ingenieure angeworben werden, während Master und Doktoranden aus denselben Fächern gehen, weil sie keine Wohnung finden.“ Seit 2012 können sich ausländische Hochschulabsolventen 18 Monate nach einem Job umsehen. „Nur: Wer keine Arbeit hat, findet in Städten wie Stuttgart keine Unterkunft. Da sind Lösungen gefragt“, so Pavkovic. Wie auch dabei, all jenen, die nicht erfolgreich aus der Schule kommen, Unterstützung zu bieten: „Auch unter Bildungsinländern gibt es noch viele Potenziale zu heben.“
JEDER DRITTE ARBEITSLOSE MIT MIGRATIONSHINTERGRUND
Das kann Edwin Urmann, der DGB-Vorsitzende aus dem Kreis Donau-Wald, nur bestätigen: Vor zwei Jahren, erzählt er, habe das DGB-Bildungswerk in Deggendorf ein Projekt zum Nachholen des Hauptschulabschlusses schließen müssen: „Die Gelder wurden gestrichen“, sagt Urmann, „eine völlig unverständliche Entscheidung, da wäre noch der ein oder andere geeignete Bewerber für die lokale Wirtschaft dabei gewesen.“ Sieben Prozent der Jugendlichen verlassen laut einer bundesweiten Übersicht des Bildungswissenschaftlers Klaus Klemm in Deggendorf jedes Jahr die Schule ohne Hauptschulabschluss. Vielleicht nicht dort, aber bundesweit sind unter ihnen überdurchschnittlich viele Enkel derer, die einst als billige Arbeitskräfte geholt wurden: Jeder zehnte Jugendliche mit Migrationshintergrund verlässt die Schule ohne Abschluss – unter den Schülern aus nicht zugewanderten Familien sind es halb so viele. Auch von den 2012 gemeldeten Arbeitslosen hatte jeder dritte einen Migrationshintergrund. Dahinter stecken viele Gründe, aber auch der, den die stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD, Aydan Özoğuz, so auf den Punkt bringt: „Bei gleicher Qualifikation bekommt Dietmar immer noch eher den Job als Mehmet.“
Weil viel zu tun bleibt, ist die Stimmung unter jenen, die sich im Juni mit Özoğuz bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin zu einer integrationspolitischen Tagung treffen, weiterhin skeptisch. Willkommenskultur, sagt der Berlin-Neuköllner Psychologe Kazım Erdoğan, sei ein „schrecklicher Begriff: Er meint zu häufig auch jene, die bereits seit 50 Jahren hier leben – und für die Deutschland längst der Lebensmittelpunkt ist. Sie heute willkommen zu heißen, ist geradezu zynisch.“ Klaus Bade, ehemaliger Vorsitzender des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Migration und Integration und so etwas wie das Urgestein der deutschen Zuwanderungsdebatte überhaupt, stößt in dieselbe Kerbe: „Willkommenskultur kann sich nicht in freundlicher Begrüßung erschöpfen. Dazu gehören Akzeptanz und Teilhabe. Solange es die nicht gibt, bleibt der Begriff ein Beitrag zum Märchen von des Kaisers neuen Kleidern.“
Der junge Spanier in Wolnzach hat von alledem natürlich noch nicht viel mitbekommen. „Ich fühle mich wohl“, sagt er, „ich habe einen guten Chef und nette Kollegen. Aus Deutschland und von überall.“ Mit ihm stehen ein Ägypter und zwei Polen auf der Baustelle. Ernst Geyer, sein deutscher Kollege, guckt nur kurz auf, als man ihn nach der bunten Truppe fragt: „Wenn sie ihre Arbeit gut machen: Das passt schon!“ Woran es noch hapert und was das A und O ist, das sagt hier jeder: die Sprache. Heute muss José Manuel leider auch noch den Sprachkurs ausfallen lassen – wenn auch aus einem guten Grund. In wenigen Monaten wird sein zweites Kind geboren. Heute werden seine Frau und er erfahren, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Ein Wolnzacher wird es werden. Oder eine Wolnzacherin.