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Menschen halten Abstand im Domino Park in New York an einem warmen Frühlingstag während der Corona-Krise. Magazin Mitbestimmung

Internationales: "Wir stehen Giganten gegenüber"

Ausgabe 03/2020

In den Vereinigten Staaten formiert sich der gewerkschaftliche Widerstand gegen die laxen Hygiene- und Sicherheitsvorkehrungen vieler Unternehmen. Von Steven Hill

Die Coronavirus-Pandemie hat bereits jetzt verheerende Folgen für die arbeitende Bevölkerung in den USA und die US-amerikanische Wirtschaft. Anfang Juni hatte die Zahl der an Covid-19 Verstorbenen die Marke von 110 000 überschritten, und es wurden 1,9 Millionen Infektionen bestätigt, fast ein Drittel aller bestätigten Infektionen weltweit. Bei einer Arbeitslosigkeit von rund 16 Prozent – der höchsten seit der Weltwirtschaftskrise – hatten 41 Millionen Amerikaner Arbeitslosenunterstützung beantragt. Außerdem hat die Pandemie offengelegt, wie erschreckend schwach das soziale Sicherungsnetz der USA ist. 30 Prozent der Erwerbsbevölkerung haben keine arbeitgeberfinanzierte Krankenversicherung, ein Drittel der Beschäftigten erhält keinerlei Krankengeld, und die meisten Selbstständigen und selbstständigen Auftragnehmer haben nicht einmal Anspruch auf Arbeitslosengeld.

Zu den Arbeitnehmern, die das härteste Los gezogen haben, gehören allerdings nicht nur jene, die ihren Job verloren haben, sondern auch solche, die noch beschäftigt sind – zum Beispiel in fleischverarbeitenden Betrieben, wo durch beengte Arbeitsbedingungen sowie mangelhafte Schutz- und Hygienevorkehrungen tödliche Corona-Hotspots entstanden sind. Nach Aussage der Vereinten Internationalen Nahrungsmittel- und Handelsgewerkschaft, die in den USA und Kanada mehr als eine Million Arbeitnehmer vertritt, sind bereits mindestens 30 Beschäftigte von Fleischverarbeitungsbetrieben am Coronavirus gestorben, mehr als 10 000 haben sich infiziert oder waren dem Virus ausgesetzt. Mindestens 30 Betriebe mussten in den vergangenen zwei Monaten zeitweise schließen. 

Während sich Covid-19 in den Fleischverarbeitungsbetrieben des Landes rasant ausbreitete, wies US-Präsident Donald Trump am 28. April die Schlachthöfe und Fleischfabriken per präsidialer Verfügung an, als Teil der kritischen Infrastruktur wieder zu öffnen. Die Umwelt-NGO Environmental Working Group nannte die Verfügung ein potenzielles Todesurteil für die Beschäftigten.

Ähnlich ungeschützt waren auch Beschäftigte in anderen Branchen, zum Beispiel in der Automobilindustrie. In den Autofabriken arbeiten Menschen über viele Stunden auf engstem Raum. Ford, General Motors, Volkswagen und andere Autohersteller schlossen den Großteil der nordamerikanischen Automobilwerke für die Dauer von zwei Monaten. Einzig Tesla-Chef Elon Musk widersetzte sich der Schließungsanordnung und stellte die Produktion des Unternehmens und den Profit über die Sicherheit der Beschäftigten: Er fuhr das Tesla-Werk im kalifornischen Fremont eine Woche vor dem von den Behörden geplanten Termin wieder hoch, der angemessene Sicherheitsvorkehrungen ermöglichen sollte.

Gesundheit oder Einkommen

Wegen seiner langsamen Reaktion bei der Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen in seinen Logistikzentren steht insbesondere Amazon heftig in der Kritik. Unzureichende Schutzmaßnahmen hatten den Tod von sieben Beschäftigten zur Folge, bei schätzungsweise 800 Lagerarbeitern wurde das Coronavirus diagnostiziert. Nicht nur bei Amazon stehen viele Arbeitnehmer schlicht vor der Alternative Sicherheit und Gesundheit oder Einkommen – und entscheiden sich in vielen Fällen notgedrungen dafür, das Risiko einer Erkrankung in Kauf zu nehmen.

Inmitten dieses Trümmerfelds haben Arbeitnehmer begonnen, sich zusammenzuschließen, um Druck auf die Arbeitgeber auszuüben und die Öffentlichkeit für die Gesundheits- und Sicherheitsprobleme zu sensibilisieren, mit denen sie am Arbeitsplatz konfrontiert sind. 

An vorderster Mobilisierungsfront stehen die Flugbegleiter. Unter Führung ihrer Gewerkschaft Association of Flight Attendants haben sie sich gegenüber dem Kongress für die schnelle Verabschiedung des zwei Billionen Dollar schweren Konjunkturbelebungsgesetzes starkgemacht, das die verheerenden Folgen der Corona-Epidemie abfedern soll. Der Gesetzesentwurf gewährleistet unter anderem, dass die Beschäftigten der Luftfahrt weiterbezahlt werden.

„Unsere Gewerkschaft hat den Plan vorgelegt, und wir haben mit anderen Gewerkschaften aus der gesamten Luftfahrt- und Verkehrsbranche zusammengearbeitet“, erklärt Sara Nelson, die Vorsitzende der Flugbegleitergewerkschaft. „Zusammen haben wir etwas geschafft, das es in der amerikanischen Geschichte noch nie gab: Erleichterungen für Arbeitnehmer aus Arbeitnehmerhand.“

"Wir alle arbeiten an vorderster Front"

Auch in anderen Sektoren hat der Einsatz der Arbeitnehmer etwas in Bewegung gebracht. Die Gewerkschaft United Auto Workers übte Druck auf die Automobilhersteller in Detroit aus, ihre Werke so lange zu schließen, bis Arbeitsanweisungen zur Wahrung der Sicherheit ausgearbeitet werden konnten. Pflegekräfte in New York, Georgia, Illinois und Kalifornien organisieren Proteste und fordern mehr persönliche Schutzausrüstung wie Masken, Handschuhe und Kittel. 

Am 1. Mai, dem internationalen Tag der Arbeit, taten sich Beschäftigte von Amazon, Instacart, Shipt, Target und Whole Foods vielerorts in den USA zusammen und protestierten mit einem koordinierten Streik gegen die Reaktion ihrer Unternehmen auf Covid-19. Sie forderten besseren Schutz vor Corona durch ihre Unternehmen sowie Gefährdungszulagen, längere Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall und bessere Sozialleistungen. „Ein Lagerarbeitnehmer bei Amazon hat andere Rechte und einen anderen Schutz als ein Instacart-Shopper“, sagte Vanessa Bain, die bei Instacart arbeitet und an der Planung des Streiks beteiligt war. „Aber trotzdem sollten wir uns bei unseren Aktionen vernetzen. Wir alle sind Arbeitnehmer, die als systemrelevant gelten und an vorderster Front arbeiten – und wir stehen Giganten gegenüber.“ 

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