Quelle: Jens Volle
Magazin MitbestimmungBetriebsrätepreis: „Wir sind Knorr“ – immer noch
In der Heimatstadt der Traditionsmarke Knorr (Unilever) ging es jahrelang bergab mit der Produktion von Tütensuppen und Saucen. Als die Standortschließung drohte, schlossen Belegschaft und Betriebsrat die Reihen. Von Stefan Scheytt
Auf dem Weg zu Thilo Fischer, dem Betriebsratsvorsitzenden des Lebensmittelherstellers Knorr in Heilbronn, geht man an mehreren meterlangen Transparenten vorbei, die an den Zäunen des Firmengeländes hängen. „Komm’ zu uns!“, steht darauf, „Wir suchen Produktionsmitarbeitende, Auszubildende, Techniker“, oder: „Wir stellen ein und bilden aus!“ Drinnen, in Fischers Büro, stehen auf einem Schrank selbst gebastelte Demo-Plakate, die an andere Zeiten erinnern, zum Beispiel: „Werkschließung kommt nicht in die Tüte!“ Die widerstreitenden Aussagen – Jobangebote hier, drohende Jobverluste dort – liegen gut drei Jahre auseinander und sind eine Art Arbeitsnachweis für Thilo Fischer, den Betriebsrat und viele Mitstreiter: Nach Schließungsplänen des Mutterkonzerns Unilever sind die rund 600 Arbeitsplätze im Traditionswerk von Knorr bis mindestens 2030 gesichert. „Unsere Agenda hat sich um 180 Grad gedreht“, sagt Fischer. Dafür ist das Gremium für den Deutschen Betriebsräte-Preis 2023 nominiert. Hinter dem NGG-Betriebsrat liegt allerdings viel mehr Arbeit als die jüngste Werksrettung. Knorrianer zu sein, das war der permanente Kampf gegen Belegschaftsabbau und Verlagerung von Kapazitäten und Kompetenzen an andere Standorte. „Ende 2019, als die Standortschließung drohte, standen wir definitiv mit dem Rücken zur Wand“, sagt Fischer.
Aus der Drehung vom totgesagten Werk zum Investitionsstandort und zur europäischen Grundlastfabrik im Unilever-Produktionsnetzwerk leitet Betriebsrat Fischer drei Lehren ab:
Erstens: Laut sein und so viele Mitstreiter wie möglich mobilisieren. Der Protest im Werk und in der Stadt war unüberhörbar, Politiker aller Parteien und Heilbronns Oberbürgermeister solidarisierten sich, Tausende unterschrieben
gegen die Konzernpläne, es gab symbolische Werksschließungen, Kundgebungen in der Innenstadt und eine Belegschaftsversammlung, die Thilo Fischer als „einmaligen Gänsehautmoment“ beschreibt: Nachdem ein Unilever-Manager die unfrohe Botschaft verkündet hatte, „skandierten 650 Beschäftigte in der prall gefüllten Kantine stehend: Wir sind Knorr! Und dann ließen wir das versammelte Management stehen und gingen zurück an die Arbeit.“
Zweitens: Kolleginnen und Kollegen einbinden! Thilo Fischer: „Wir haben mehr als 20 Teil- und Betriebsversammlungen abgehalten, holten uns auf diese Weise Rückendeckung und besprachen, welchen Weg wir gemeinsam gehen wollen.“
Drittens: Nur Widerstand leisten reicht nicht, die Belegschaft und ihre Vertreter müssen selbst Vorschläge einbringen! Er sei ein Freund davon, Alternativen aufzuzeigen. Nur zu sagen: „Machen wir nicht“, sei zu wenig, lautet Fischers Credo. „Dabei hat uns die Mitbestimmung sehr geholfen“, findet der Betriebsrat, dessen Werk in Konkurrenz zu anderen Werken in Europa stand, von denen zwei im Zuge der Restrukturierung dichtgemacht wurden. Das Gremium in Deutschland holte sich die Expertise eines Juristen und einer Unternehmensberaterin. „In Arbeitsgruppen mit Standortverantwortlichen vom Werksleiter bis zum Abteilungsleiter und Meister haben wir Ideen entwickelt, wie wir effizienter werden können. Wir haben jeden Stein umgedreht“, berichtet Fischer. „Es ging darum, den Standort so zu modernisieren, dass er eine Perspektive hat und wir nicht in wenigen Jahren wieder in der gleichen Misere landen.“
Wir haben nicht nur die Schließung abgewendet, sondern den Standort zukunftsfähig gemacht.“
Entlassen wurde niemand, nur rund 30 Beschäftigte gingen freiwillig in den Vorruhestand oder mit Abfindungen. Schmerzhafte Einschnitte gab es durchaus: Die Entgelte wurden für die Belegschaft zwar nicht reduziert, allerdings für alle, die neu kamen. Außerdem wird von zukünftigen Tariferhöhungen nicht alles bei den Knorrianern landen. Zudem hat sich die Belegschaft zu mehr Flexibilität bei Samstagsarbeit bereit erklärt. All das und noch vieles mehr ist in einem neuen Entgeltrahmentarifvertrag, einem Ergänzungstarifvertrag, einem Zukunftstarifvertrag sowie in Betriebsvereinbarungen geregelt, die nun Stück für Stück Wirkung entfalten und unter anderem Millionen von Euro jetzt und in den kommenden Jahren in die Knorrstraße nach Heilbronn fließen lassen.
„Wir haben nicht nur die Schließung abgewendet, sondern den Standort zukunftsfähig gemacht“, sagt Fischer. Er sei deshalb guter Dinge, dass Knorr in Heilbronn es mindestens bis zur 200-Jahr-Feier 2038 schaffe. Manchmal muss er sich selber zwicken: „Wer hätte vor wenigen Jahren gedacht, dass wir uns heute damit beschäftigen, wie wir neue Fachkräfte gewinnen können und wo die nächsten Investitionsschwerpunkte gesetzt werden müssen.“
Mehr zum Betriebsräte-Preis 2023:
Der Deutsche Betriebsräte-Preis wird im Rahmen des Deutschen Betriebsrätetags am 9. November in Bonn verliehen. Aus 76 Bewerbungen wurden zwölf Projekte nominiert, eines davon ist das des Betriebsrats von Knorr, der in diesem Jahr den Deutschen Betriebsräte-Preis in Gold erhält.
Mehr über die nominierten Betriebsräte auf der Seite des I.M.U. zum Betriebsräte-Preis 2023
Das Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung der Hans-Böckler-Stiftung bietet ein Archiv mit zahlreichen Betriebsvereinbarungen.