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WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch am Schreibtisch Magazin Mitbestimmung

Familienpolitik: „Wir reproduzieren Armut immer weiter“

Ausgabe 03/2024

Bettina Kohlrausch, Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, über Kinderarmut und nicht eingehaltene Koalitionsversprechen. Das Interview führte Fabienne Melzer.

In der Koalition wird weiter um die Kindergrundsicherung gerungen. Wie viel Grundsicherung wird am Ende noch herauskommen?

BETTINA KOHLRAUSCH: Es wurden ja bereits einige Konflikte gelöst. Allerdings hätten wir uns andere Ergebnisse gewünscht, auch weil es im Koalitionsvertrag anders vereinbart wurde.

Um welche Themen ging es da?

Einer unserer Hauptkritikpunkte ist die Orientierung der Höhe des einkommensabhängigen Teils der Kindergrundsicherung am Bürgergeld. Im Koalitionsvertrag hatten sich die Parteien darauf verständigt, das sozio-kulturelle Existenzminimum von Kindern neu zu berechnen.

Warum ist das wichtig?

Das derzeitige Existenzminimum orientiert sich an Einkommen und Verbrauch der 20 Prozent ärmsten Haushalte. Wir gehen nicht nur davon aus, dass damit die tatsächlichen Bedarfe systematisch unterschätzt werden. Mit der Orientierung am ärmsten Fünftel unserer Gesellschaft reproduzieren wir Armut immer weiter. Wir haben dazu ein Alternativkonzept erarbeiten lassen, nach dem der Bedarf bei Ausgaben für Grundbedürfnisse wie Ernährung, Bekleidung und Wohnen nicht mehr als 25 Prozent und bei sonstigen Bedürfnissen nicht mehr als 40 Prozent von der Mitte nach unten abweichen darf. Je nach Alter liegt der Satz in unserem Konzept zwischen 30 und 190 Euro höher als derzeit geplant.

Was kritisieren Sie noch?

Dass vor dem neuen Gesetz nicht alle Kinder gleich sind. Kinder aus geflüchteten Familien, die unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen, bekommen unterm Strich sogar weniger als bisher. Dagegen wurde der Steuerfreibetrag, von dem besonders Gutverdienende profitieren, nicht an das Niveau der Grundsicherung angepasst. Auch die Idee, dass Eltern alle Leistungen, auf die sie Anspruch haben, aus einer Hand bekommen, könnte auf der Strecke bleiben. Wie es im Moment aussieht, könnte es auch nach Einführung der Kindergrundsicherung mehrere Anlaufstellen geben.

Warum ist Kinderarmut besonders schlimm?

Weil Kindheit eine sehr verletzliche Phase ist. Was Kinder erleben, prägt sie fürs Leben. Armut ist eine sehr prägende Erfahrung. Viele werfen armen Eltern vor, dass sie sich nicht genügend um ihre Kinder kümmern. Das ist unfair, alle Eltern wollen das Beste für ihre Kinder, aber Armut beschränkt die Möglichkeiten der Eltern, ihre Kinder zu unterstützen, in vielerlei Hinsicht. Armut verursacht Stress, sie stigmatisiert, und darunter leiden Kinder. So hat eine Studie der Bertelsmann Stiftung gezeigt, dass arme Kinder sich häufig schämen, Freunde nach Hause einzuladen. Armut trifft Kinder zudem in einer Bildungsphase, in der die Weichen fürs Leben gestellt werden.

Lässt sich das Problem der Benachteiligung im Bildungssystem mit der Kindergrundsicherung lösen?

Natürlich müssen wir auch im Bildungssystem die Benachteiligung von armen Kindern bekämpfen. Aber wir müssen beides zusammen denken. Oft wird armen Eltern ja unterstellt, das Geld komme nicht bei ihren Kindern an. Das ist einfach falsch. Gegen Armut hilft wirklich Geld. Es nützt nicht nur den Kindern, es nützt auch gesamtgesellschaftlich. Unsere Studien zeigen: Die Zahl der Menschen, die einen mittleren oder höheren statt einen niedrigen Bildungsabschlusses besitzen, wäre durch die Grundsicherung im Jahr 2050 um 840 000 höher. Damit nimmt nicht nur die Zahl der Fachkräfte zu, auch ihre eigenen Einkommenserwartungen steigen, und das Armutsrisiko sinkt zukünftig.

Gibt es etwas Gutes an der Kindergrundsicherung – in der Form, in der sie jetzt vorliegt?

Sie wird Kinderarmut nicht abschaffen, aber sie ist besser als nichts. Es ist ein Schritt vorwärts, wenn Eltern der Zugang zu den finanziellen Leistungen, die ihnen zustehen, erleichtert wird. Gut ist auch, dass die Grundsicherung von Kindern nicht mehr unters Bürgergeld fällt. Unter dieser Stigmatisierung sollten Kinder nicht leiden.

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