Quelle: Thomas Range
Magazin MitbestimmungStiftung: "Wir müssen das Ohr aufs Gleis legen"
Im September kehrte Claudia Bogedan als Geschäftsführerin zur Hans-Böckler-Stiftung zurück. Im Gespräch erzählt sie, wie sie im Politikbetrieb geerdet blieb und wie sie ihre Erfahrungen aus sechs Jahren als Bildungssenatorin für die Stiftung nutzen will. Das Gespräch führten Kay Meiners und Fabienne Melzer
Vor 100 Tagen haben Sie die Geschäftsführung der Hans-Böckler-Stiftung übernommen. Was macht eine gute Geschäftsführerin aus?
Eine gute Geschäftsführerin muss wissen, wohin sie ihre Organisation entwickeln will. Sie muss mit den Beteiligten Ziele vereinbaren und am Ende für deren Um- und Durchsetzung sorgen. Der Hans-Böckler-Stiftung geht es dabei wie vielen anderen Unternehmen: Wir wollen eine digitale und diverse Organisation sein, in der die Beschäftigten motiviert sind und ihre Belange mitgestalten können. Damit wir unsere Rolle in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft im Sinne unserer Stakeholder weiter stärken.
Welche Eigenschaften braucht es, damit das gelingt?
Wir müssen vorausschauend agieren und die Relevanz von Themen frühzeitig erkennen. Wir müssen, wie im klassischen Western, das Ohr aufs Gleis legen, um den Zug zu hören, bevor wir ihn sehen. Gleichzeitig müssen wir in der eigenen Organisation für Transparenz und Austausch sorgen. Nach meiner Erfahrung gelingt das nur, wenn man im Gespräch bleibt.
Sie haben schon einmal in der Stiftung gearbeitet, erst am WSI, dann als Leiterin der Forschungsförderung. Wie ist Ihr erster Eindruck nach Ihrer Rückkehr?
Ich bin begeistert, wie stark die Stiftung im politischen Raum und auch in den relevanten Medien vertreten ist. Das ist eine großartige Leistung, die da in den letzten Jahren gelungen ist. Die Stiftung wirkt qualitativ nach außen, und sie strahlt Exzellenz aus.
Von 2015 bis Juli dieses Jahres waren Sie Senatorin für Kinder und Bildung im Senat der Freien Hansestadt Bremen. Warum sind Sie am Ende zurückgetreten?
Es war ein Mix aus drei verschiedenen Gründen. Der schwerwiegendste war die Pandemie und ihre Folgen für Kinder und Jugendliche. Alles, wofür ich politisch gekämpft habe, nämlich Kindern Zugänge zu Bildung zu eröffnen, wurde ins Gegenteil verkehrt. Schulen und Kitas durften nur eingeschränkt besucht werden. Das hat die am härtesten getroffen, die mir immer besonders am Herzen lagen: Kinder, die es aus unterschiedlichen Gründen im Leben nicht so gut getroffen haben. Und davon gibt es in Bremen leider besonders viele. Der zweite Grund ist, dass ich auch eine Verantwortung gegenüber meinen eigenen Kindern habe. Sie sollten nie unter meinem Beruf leiden. In der Pandemie haben aber auch sie sehr unter der Situation gelitten, auch unter der Art und Weise, wie in der Öffentlichkeit diskutiert wurde. Der dritte Grund war schließlich die Möglichkeit, zur Hans-Böckler-Stiftung zurückzukehren.
Es gab auch Konflikte mit der GEW, die Wechselunterricht forderte, während Sie die Schulen und Kitas offen gehalten haben. Wie ist jetzt Ihr Draht zur GEW?
Tatsächlich ist mein Draht zur GEW in Bremen nie abgerissen. Da waren die Berichte in den Medien schärfer als das, was am Telefon gesprochen wurde. Die GEW und Verdi haben ja berechtigterweise gefordert, die Beschäftigten zu schützen. Das haben wir auch getan. Bei uns bekamen Lehrkräfte schon ab August 2020 kostenfrei FFP2-Masken. Wir haben Anfang 2021 als erstes Bundesland Tests für alle Beschäftigten und Schüler angeboten und angefangen, Luftfilter anzuschaffen. Unser Weg war, alle Mittel zu nutzen, um die Gesundheit auch in geöffneten Schulen zu schützen. Aber es ist nicht einfach, als Senatorin alles unter einen Hut zu bringen, die Beschäftigteninteressen, die Interessen der Kinder und womöglich auch noch die der Eltern. Da muss man Kompromisse machen, und damit sind nie alle glücklich.
Sie mussten eine Menge Gegenwind aushalten. Wie gehen Sie damit um?
Ich habe immer versucht, mich jenseits der politischen Blase zu erden und aus der realen Welt meine Kraft zu holen, zum einen durch meine Familie, aber insbesondere durch Schul- und Kitabesuche. Da habe ich gesehen, wie meine Entscheidungen am Ende wirken. Das hat mir auch in der Pandemie viel Kraft gegeben, weil trotz des starken Gegenwinds die Mehrheit der Eltern und der Beschäftigten hinter diesem Kurs stand.
Haben die sechs Jahre Sie verändert?
Ja, das kann man nicht anders sagen. Das ist eine besondere Art von Arbeit, eine unmittelbare Verantwortung, in meinem Fall für Hunderttausende von Menschen im gesamten Bundesland. Es ist einerseits toll, weil man etwas gestalten kann. Und andererseits ist Politik ein Aushandlungsprozess, in dem es viele widerstreitende Interessen gibt. Darin immer wieder die Stimme für die Schwächeren und die Schwächsten in unserer Gesellschaft zu erheben, erfordert eben viel Kraft. Das System macht es einem da nicht leicht.
Was heißt das?
Wenn man sich in so einer exponierten politischen Stellung nicht immer wieder vergewissert, was die eigenen Werte sind, kann es passieren, dass man Dinge tut, die einen von den eigenen Werten wegführen. Als politisch Verantwortliche muss ich deshalb jede einzelne Entscheidung immer wieder prüfen, ob sie uns dem gewünschten Ziel näher bringt oder uns davon entfernt. Das ist mitunter nicht einfach, weil ganz viele Kräfte an einem ziehen und zerren.
Gibt es Erfahrungen, auf die Sie gern verzichtet hätten?
(lacht) Auf die Twitter-Debatten der letzten Monate. Es ist fast tragikomisch, wenn man als eine beschimpft wird, die Entscheidungen trifft, von denen sie gar nicht wisse, wie sie auf Eltern wirken, aber in Wirklichkeit selbst Kinder hat, die Grundschule und Kita besuchen.
Was nehmen Sie von Ihren Erfahrungen aus der Politik in die Stiftung mit?
Wenn wir als Stiftung den Anspruch haben, im Sinne von Beschäftigteninteressen Einfluss auf Politik zu nehmen, dann ist es wichtig, zu verstehen, wie politische Entscheidungen getroffen werden. Dabei spielt der Dialog mit allen demokratischen Parteien, nicht nur den Regierungsparteien, eine wichtige Rolle. Für Regierungen ist es leichter, auf Forderungen zu reagieren, für die es politische und gesellschaftliche Unterstützung gibt. Deshalb ist so wichtig, dass die Hans-Böckler-Stiftung über Presseberichterstattung, über soziale Medien und über unsere vielfältigen Wissenschaftsnetzwerke die öffentlichen Diskurse beeinflusst und Meinungsführerschaft bei Themen wie Mitbestimmung und Gute Arbeit beansprucht. Hier hat die Hans-Böckler-Stiftung in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Mit meinem Wissen kann ich den Blick für politische Gelegenheitsfenster und Sachzwänge schärfen.
Gibt es für Sie gesellschaftspolitische Aufgaben, die nur die Stiftung übernimmt?
Da sind ganz viele Aufgaben, die uns auszeichnen: Fast zwei Drittel unserer Stipendiatinnen und Stipendiaten kommen nicht aus Akademikerfamilien. Damit arbeiten wir gegen die Verhältnisse im Bildungssystem, das noch immer Akademikerkinder bevorzugt. Das andere ist unsere Forschung. Mit unseren vier Instituten betreiben wir Eigenforschung aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven und führen sie zusammen. Denn die großen Zukunftsfragen lassen sich nicht mehr von einer Disziplin alleine lösen.
Rechtliche Schlupflöcher, etwa durch das Europarecht, höhlen die Mitbestimmung in den Aufsichtsräten aus. Wie bedrohlich schätzen Sie diese Situation ein, und was sollen wir tun dagegen?
In der Tat gefährdet dies unser Wirtschafts- und Sozialmodell. Die demokratische Mitgestaltung durch Betriebsräte und Aufsichtsräte hat sich bewährt und insbesondere in Krisen ihre Leistungsfähigkeit bewiesen. Leider wissen viele Menschen nicht, dass es Aufsichtsräte gibt, in denen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertreten sind. Und dass es einen Unterschied macht, ob sie dabei sind oder nicht. Deshalb werben wir grundsätzlich für die Idee der Demokratie und liefern Fakten, was mitbestimmte Unternehmen besser machen.
Wie wichtig ist Ihnen, dass unsere Stiftung europäisch oder international vernetzt ist?
Das ist mir sehr wichtig. Auf die großen Fragen unserer Zeit kann es nur internationale Antworten geben. Dafür brauchen wir gemeinsame Zielvorstellungen, und darauf können wir uns nur in internationalen Netzwerken verständigen. Die Hans-Böckler-Stiftung bewegt sich schon in vielfältigen internationalen Bezügen, aber bei der strategischen Ausgestaltung sehe ich noch Luft nach oben.
Gibt es etwas, das Sie gerne verändern möchten in der Stiftung?
Unsere Gesellschaft ist vielfältig und bunt. Doch noch immer werden Frauen, werden Migrantinnen und Migranten oder auch körperlich Beeinträchtigte in Bildung und Ausbildung und in Folge daraus auch am Arbeitsmarkt benachteiligt. Ich möchte die Vielfalt der Kolleginnen und Kollegen in der Hans-Böckler-Stiftung sichtbar machen und wünsche mir eine diversitätsbewusste Organisation. Ich möchte mich zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen auf den Weg machen zu einer Organisation, die digital, divers und demokratisch ist. Denn Mitbestimmung ist bunt.
Wobei in der betrieblichen Mitbestimmung Frauen unter den Betriebsratsvorsitzenden noch immer selten sind.
Das ist so. Frauen schrecken aber auch davor zurück, bestimmte Positionen zu übernehmen. Ich will ihnen Mut machen.
Es wird Frauen aber, gerade wenn sie Kinder haben, auch oft nicht zugetraut.
Also zumindest muss man allen Frauen sagen, dass sie ein dickes Fell brauchen, wenn sie es dann doch machen. Die Frage „Wo sind denn deine Kinder?“ habe ich permanent gestellt bekommen. Ich möchte da gerne auch Vorbild sein, weil ich selbst in herausgehobener Position Beruf und Familie unter einen Hut bringen muss.
Haben Sie Tipps?
Ich komme aus einem eher bildungsfernen Haushalt, und wenn man mehrere Hemmnisse mit sich herumträgt, von denen wir in der Wissenschaft wissen, dass sie den beruflichen Aufstieg oder Erfolg behindern, dann muss man leider immer doppelt arbeiten. Ich habe allerdings auch immer Förderer und Unterstützer gehabt. Das ist auch Teil der Wahrheit, dass es solche Strukturen braucht. Deshalb ist es wichtig, dass wir als Begabtenförderwerk für Nicht-Akademikerkinder genau solche Strukturen schaffen. Damit tragen wir wiederum dazu bei, dass die Vielfalt auch in Entscheidungsfunktionen größer wird. Das betrifft Frauen, aber auch Migrantinnen und Migranten und deren Kinder.
Ist das ein Thema, das Sie persönlich am meisten bewegt?
Geschlecht und vor allem auch soziale Herkunft sind nach wie vor die dominanten Merkmale, die Bildungs- und Aufstiegschancen erschweren. Als Senatorin habe ich den Satz geprägt: „Ungleiches muss ungleich behandelt werden.“ Das hat erstaunlich weit getragen, weil es auch bedeutet hat, dass wir Ressourcen ungleich verteilt haben. Wir haben Schulen in ärmeren Stadtteilen viel stärker ausgestattet als andere. Dafür gab es auch Unterstützung aus Kreisen, die nicht davon profitiert haben. Ich bin überzeugt, dass Solidarität eine Gesellschaft starkmacht und dass diejenigen, die etwas abgeben können, es auch gerne geben, wenn das Ziel klar ist.