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Sandra Gerhardt, U-Bahn- Fahrerin bei der BVG in Berlin, am Olympia-Stadion in Berlin Magazin Mitbestimmung

Fußball-EM: Wir machen's möglich

Ausgabe 03/2024

Zehntausende Beschäftigte sorgen dafür, dass die Fans das Mega-Event in Deutschland erleben und genießen können. Von Stefan Scheytt

„Die ganze Stadt ein Stadion“ – so lautet das Motto Stuttgarts, wo in diesem Sommer fünf Spiele der Fußball-EM ausgetragen werden. „Das ganze Land ein Stadion“ – so ließe sich das Motto auf Deutschland übertragen: 51 Spiele in zehn Städten von Düsseldorf bis Leipzig, von Hamburg bis München; allein in den Stadien werden 2,7 Millionen Besucher erwartet, weitere bis zu 12 Millionen Menschen in den Fanzonen und bei Public Viewings. Dass diese Massen bei der drittgrößten Sportveranstaltung der Welt transportiert, verköstigt und beherbergt werden und sich sicher fühlen, ist auch Zehntausenden von Beschäftigten zu verdanken.

Sandra Gerhardt ist seit neun Jahren U-Bahn-Fahrerin bei der BVG in Berlin, Verdi-Mitglied – und Fan des Fußball-Zweitligisten Hertha BSC. Manchmal geht sie sogar selber ins Olympiastadion, wo sechs EM-Begegnungen angepfiffen
werden, auch das Endspiel Mitte Juli. Stünde die deutsche Mannschaft im Finale und wäre Sandra Gerhardt an diesem Tag zum Dienst eingeteilt – und damit das Live-Erlebnis vorm Fernseher unmöglich –, wäre das für sie kein Problem: „Es gehört nun mal zum Berufsleben einer U-Bahn-Fahrerin, dass man arbeitet, damit andere etwas erleben können. Und ich arbeite gern und bin gern zuverlässig.“ Abgeklärt schaut die 30-Jährige auch auf die Fans und ihr Verhalten: Einerseits freut sie sich auf die Großveranstaltung in ihrer Stadt, die mit mehr als zwei Millionen Besuchern im Stadion und in der Fanzone am Brandenburger Tor rechnet. „Gut gelaunte Fans als Fahrgäste machen anderen Fahrgästen gute Laune.“ Dafür revanchiert sich Gerhardt manchmal, indem sie per Mikro einen Spielstand durchgibt oder beim Aussteigen hinterherruft: „Ich hoffe, Sie haben unsere wunderbare Fahrt genossen und noch einen schönen Abend.“

Natürlich hat sie auch schon Situationen erlebt, die sich keiner wünscht: frustrierte, alkoholisierte Fans, die randalieren und Fahrgäste oder auch sie anpöbeln. „Das Turnier wird definitiv eine höhere Belastung sein. Die Züge werden zum Teil brechend voll sein, und dann sind die Leute oft gereizter.“

  • OeInge Ritter, Straßenbahn- und Stadtbahnfahrerin bei der Ruhrbahn in Essen am U-Bahnhof
    Inge Ritter ist Straßenbahnfahrerin „mit Leib und Seele“. Wenn sie an die Stimmung bei der WM 2006 denkt, bekommt sie heute noch Gänsehaut.

Wir werden laut, damit jeder weiß: Im ÖPNV kann es so nicht weitergehen.“

Inge Ritter, Straßenbahn- und Stadtbahnfahrerin bei der Ruhrbahn in Essen

Eine von Verdi beauftragte aktuelle Studie über den kommunalen ÖPNV weist einen Bedarf von rund 65 000 Fahrerinnen und Fahrern allein bis 2030 aus – und das nur, um das heutige Angebot an Bussen und Bahnen aufrechtzuerhalten. „Wegen unseres hohen Krankenstands graut mir schon vor der EM. Die Kollegen sind auch ohne die Sonderbelastung durch die EM ausgebrannt“, sagt Inge Ritter, seit 31 Jahren Straßen-und Stadtbahnfahrerin bei der Ruhrbahn in Essen, die auch den EM-Spielort im nahen Gelsenkirchen bedient. Im jüngsten Arbeitskampf hat sich die Verdi-Vertrauensfrau stark engagiert, nahm an Warnstreiks teil und fuhr zur Großkundgebung nach Dortmund, wo ebenfalls EM-Spiele ausgetragen werden. „Wir werden laut, damit jeder weiß: Im ÖPNV kann es so nicht weitergehen“, sagt Inge Ritter. Wie schlecht die Arbeitsbedingungen seien, sehe man auch daran, dass kaum noch Nachwuchs zu finden sei. „Wir müssen ausbilden, ausbilden, ausbilden, und dafür müssen wir attraktiver werden. So attraktiv wie früher, als sich Kinder wünschten, Feuerwehrmann, Polizist, Lok- oder Straßenbahnführer zu werden.“

Trotz deutlicher Kritik an zu hoher Wochenarbeitszeit, fehlenden Entlastungstagen und Zulagen sei sie „Fahrerin mit Leib und Seele“, versichert Ritter und erinnert an die „wunderbare Stimmung“ während der WM 2006: „Wenn ich daran denke, krieg ich Gänsehaut. Wir wurden zwar nicht Weltmeister im Fußball, aber ‚Weltmeister der Herzen‘.“ Und obwohl selbst kein großer Fußballfan, trug sie im Dienst manchmal ein Deutschlandtrikot oder steckte Fähnchen an ihre Straßenbahn.

  • Andreas Czerwinski, Busfahrer in Stuttgart, vor dem Stadion
    Busfahrer Andreas Czerwinski geht auch bei abendlichem Anpfiff früh zu Bett – damit er zu Schichtbeginn ausgeschlafen ist.

Aber irgendwie kriegen wir das schon hin.“

Andreas Czerwinski, Busfahrer in Stuttgart

So weit würde Andreas Czerwinski, Busfahrer in Stuttgart, kaum gehen. Fußball interessiert ihn nicht wirklich, selbst bei einem Endspiel am Abend mit deutscher Beteiligung würde er vermutlich nach der ersten Halbzeit ins Bett gehen, um seine Frühschicht ausgeschlafen antreten zu können. Zwei der vier EM-Wochen wird der Verdi-Vertrauensmann im Urlaub sein – aus Solidarität mit den Kollegen, die schulpflichtige Kinder haben. Und in den anderen zwei Wochen wird er „um jeden Tag froh sein, an dem ich nicht in die Innenstadt fahren muss“. Zu den ständigen Umleitungen wegen Stuttgart 21, der berüchtigten Dauer-Großbaustelle am Hauptbahnhof, werden sich im Stuttgarter Talkessel Zehntausende tummeln. „Es bedeutet immer Stress, wenn viele fremde Leute in der Stadt sind, die sich nicht auskennen, keine Fahrpläne und Linienverläufe kennen und dann uns Fahrer oft in fremden Sprachen ansprechen. Aber irgendwie kriegen wir das schon hin“, sagt Czerwinski, der seit 40 Jahren Busfahrer ist. Zumal er weiß, dass die Hauptlast die Kollegen auf der Schiene trifft, während er in seinen Bussen „nur“ Zubringerdienste leisten muss.

In seinem Einsatz für bessere Arbeitsbedingungen hat sich Czerwinski auch an der Kampagne von Verdi und Fridays for Future (FFF) für einen massiven Ausbau des ÖPNV mit entsprechender personeller Ausstattung beteiligt. In einem Interview mit einer Philosophiestudentin und Klimaaktivistin bekannte er unlängst in der Lokalzeitung: „Was sich FFF auf die Fahnen geschrieben hat, ist fast identisch mit unseren Forderungen. Warum also nicht zusammenarbeiten und die Kampfkraft vergrößern, anstatt dass jeder sein Süppchen kocht?“

Arbeitsbedingungen bestenfalls Mittelmaß

Natürlich gehört auch das Gastgewerbe von den Hotelketten bis zu Essenslieferdiensten, Burgerketten und Restaurants zu den Profiteuren des Mega-Events, ebenso der Lebensmitteleinzelhandel und die Ernährungsindustrie von den Brauereien bis zur Fleischbranche. Allesamt sind sie nicht bekannt dafür, besonders gewerkschaftsfreundlich zu sein, was den Geschäftsführer der NGG-Region Berlin-Brandenburg, Sebastian Riesner, zu Kritik veranlasst: Es stoße schon sauer auf, „wie sich manche Unternehmen großzügig als Sponsoren hervortun, wenn gleichzeitig die Arbeitsbedingungen für ihre Beschäftigten bestenfalls Mittelmaß sind. Wenn dann in Tarifrunden behauptet wird, es sei kein Geld für höhere Löhne da, wundert und ärgert man sich schon“, sagt Riesner.

Ein Beispiel dafür ist EM-Sponsor Lidl, der imagefördernd Plätze für „offizielle Einlaufkinder“ und Tickets für Stadionbesucher verlost. Ein Lidl-Manager kommentierte: „Wir freuen uns sehr darauf, Teil einer Veranstaltung zu sein, die sowohl unsere Kundschaft als auch unsere Mitarbeitenden in allen Ländern begeistert.“ Hinter die Begeisterung der Mitarbeiter darf man jedoch ein Fragezeichen setzen. Während sich der Branchenkrösus als „offizieller Partner“ der EM feiert, mussten die NGG und ihre Mitglieder auch bei der Lidl-Tochter MEG (Mitteldeutsche Erfrischungsgetränke) in Sachsen-Anhalt jüngst Streiks ansetzen, damit die Arbeitsbedingungen endlich jenen in Westdeutschland nahekommen. „In den letzten zwei Jahren haben wir bei den Löhnen in Ostdeutschland gute Fortschritte gemacht, sie stiegen um rund 20 Prozent“, sagt Sebastian Riesner. „Aber das waren auch Nachholeffekte. Für eine 100-prozentige Angleichung, also das Einreißen der lächerlichen Lohnmauer 35 Jahre nach der Wiedervereinigung, müssen und werden wir weiterkämpfen.“

  • TORSTEN OESER, Polizeihauptkommisar im Stadion in Dortmund
    Polizeihauptkommissar Torsten Oeser hofft, dass er nicht allzu viele Randalierer in der Gefangenensammelstelle vernehmen muss.

Das Gefährdungspotenzial macht uns Sorge, auch wenn wir uns bestmöglich darauf vorbereiten.“

TORSTEN OESER, Polizeihauptkommissar

Tief im Westen, am EM-Spielort Düsseldorf, leistet Polizeihauptkommissar Torsten Oeser seinen Beitrag für ein gelungenes Turnier. Im Polizeipräsidium wird Oeser in der „Gefangenensammelstelle“ Personen, die zuvor an Stadien, in Fanzonen oder auf Bahnhöfen festgenommen wurden, vernehmen und an andere Orte verteilen. Nach Ausschreitungen können dies 20, 30 oder noch mehr Verdächtige auf einmal sein. Darüber, dass er solche Sonderdienste leisten muss – über die Dauer der EM könnten es ein Dutzend Einsätze à zwölf Stunden werden, es gilt eine Urlaubssperre –, will Oeser nicht klagen: „Das gehört nun mal zum Job“, sagt der 55-Jährige. Eine Belastung sei es trotzdem, „und die könnte geringer sein, wenn es mehr Kollegen gäbe“. Oesers Gewerkschaft, die GdP, rechnet vor, dass Polizistinnen und Polizisten von Bund und Ländern zuletzt fast 2,5 Millionen Stunden nur zur Absicherung von Fußballspielen leisteten, das entspricht mehr als 1900 Stellen. Und die EM und die dort geleisteten regulären und Überstunden kommen noch obendrauf.

Und nicht nur das: Zu den „zunehmenden Respektlosigkeiten und Angriffen“ auf Polizistinnen und Polizisten, wie sie die GdP im Ligaalltag feststellt, bringt die EM zusätzliche Gefahren wie Terroranschläge mit sich. In NRW, wo die meisten Spiele stattfinden, wurde deshalb eigens ein zentrales Lagezentrum eingerichtet. „Das Gefährdungspotenzial macht uns Sorge, auch wenn wir uns bestmöglich darauf vorbereiten“, sagt Oeser.

Er selbst hatte schon unangenehme Begegnungen mit reisenden Fans: Es war während der EM 2016 in Frankreich. Ein Bus voller Fans hatte auf einem Rastplatz an der A1 bei Remscheid angehalten, betrunkene Männer fingen an, Autofahrer anzupöbeln. Zwei Streifenwagenteams konnten die Situation nicht beruhigen, weshalb Oeser und seine Kollegen von der Autobahnpolizei hinzugerufen wurden. „Als wir eintrafen, sahen wir, wie sich die Kollegen körperlich mit den Fans auseinandersetzen mussten, aber auch gemeinsam waren wir zahlenmäßig unterlegen und mussten Pfefferspray und Schlagstöcke einsetzen. Erst als noch mehr Polizisten eintrafen, bekamen wir die Lage in Griff.“ Oeser blieb unverletzt, anders als manche Kollegen. Deshalb auf Großereignisse wie die EM zu verzichten, sei jedoch keine Option: „Dann hätte eine radikale Minderheit gewonnen. Die meisten Veranstaltungen verlaufen ja ohne Zwischenfälle. So eine EM ist eine schöne Gelegenheit, dass Menschen aus vielen Ländern friedlich zusammen feiern.“

Nach dem Feiern kommt das Aufräumen

Am EM-Spielort Leipzig sorgt dafür die kommunale Stadtreinigung, ein Eigenbetrieb mit gut 900 Beschäftigten. Deren Personalratsvorsitzender ist Verdi-Mitglied Lars Krönig, der bis vor Kurzem noch selbst auf dem Müllauto durch Leipzig fuhr. „Es wird natürlich mehr Abfall geben als sonst, deshalb auch erheblich mehr Arbeit für die Beschäftigten und entsprechend viele Überstunden und eine verstärkte Rufbereitschaft“, berichtet Krönig. Die eigenen Gärtner werden die Parks sauber halten, Beschäftigte im Ruhestand werden reaktiviert, aus dem nahe gelegenen Halle werden Kollegen dazustoßen. An den Stadien werden Wertstoffinseln mit Aufklebern zur Abfalltrennung in zehn Sprachen stehen, in der Fanzone Abfallpressen. Lars Krönig berichtet von Sonderdienstplänen, Sonderschichten, mehr Nachtdiensten: „Damit morgens alles in akkuratem Zustand ist. Das ist unser Job“. Alles beruhe auf Freiwilligkeit, es gebe keine Urlaubssperre. Aber leider auch keine EM-Zulagen.

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