zurück
Arnon Bar-David, Vorsitzender von Histadrut Magazin Mitbestimmung

Israel: „Wir haben keine politische Farbe mehr“

Ausgabe 01/2021

Der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes Histadrut, Arnon Bar-David, über den 100. Geburtstag seiner Organisation, seinen Kampf um Arbeitnehmerrechte und den dramatischen Verfall der Arbeitspartei Awoda. Von Kay Meiners

Im Dezember haben Sie den Geburtstag von Histadrut gefeiert – mitten in der Pandemie, die Israel schwer getroffen hat. Wie geht die Gesellschaft mit der Krise um?

Die Situation ist instabil – ökonomisch und politisch. Es sind fast 800 000 Menschen arbeitslos, vor der Krise waren es weniger als 250 000. Im März wird es schon wieder Neuwahlen geben. Das letzte reguläre Budget ist von 2019. Alle staatlichen Systeme sind paralysiert: die Sicherheit, die Gesundheit, das Bildungswesen. Und doch hat die Krise auch eine gute Seite. Die Histadrut kann zeigen, dass sie das Land vor Chaos bewahrt.

Ist das nicht Aufgabe der Regierung?

Es geht um Zusammenarbeit in Krisenzeiten. Wir arbeiten mit jedem Ministerpräsidenten zusammen, der gewählt wird. Wenn Sie im Nahen Osten nicht am Tisch sitzen, werden Sie zum Gericht auf dem Teller. Von der Regierung erwarten wir, dass sie jetzt die heimische Industrie und den Konsum heimischer Produkte fördert und ein Beschäftigungsprogramm auflegt.

Wo finden Sie verlässliche Partner? Die Arbeitspartei, die Awoda, die in der Vergangenheit sehr eng mit der Histadrut verbunden war, spielt in der Knesset mit lediglich drei von 120 Sitzen nur eine marginale Rolle.

Wir haben Partner aus dem gesamten politischen Spektrum mit Ausnahme der äußersten Rechten. Die Histadrut hat heute keine politische Farbe mehr. Alle Fraktionen der Knesset sind in unserer gewählten Versammlung vertreten – von der arabisch-israelischen Hadash-Partei über die linke Meretz-Partei, die Awoda, die konservative Likud, die nationalistische Jewish Home und die ultraorthodoxe Schas-Partei.

Sie nennen das Wand-zu-Wand-Koalition. In Deutschland würden wir sagen: Das ist die Idee der Einheitsgewerkschaft.

Lassen Sie es mich so sagen: Wir können nicht wie Partisanen agieren. Was erreichen wir dann? Darum befassen wir uns nicht mit Parteipolitik, sondern mit Menschen. Die meisten Bürger Israels sind Befürworter des Wohlfahrtsstaats, das ist das Gemeinsame. Daraus gewinnen wir unsere Stärke, nicht aus Fundamentalopposition oder damit, dass wir uns in alle möglichen öffentlichen Angelegenheiten einmischen.

Als die Krankenversicherungsreform in den 1990er Jahren reformiert wurde, verlor die Histadrut mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder. Und heute?

Wir haben etwa 800 000 Mitglieder. Rund 25 Prozent der Arbeitskräfte in Israel sind gewerkschaftlich organisiert, und wir wachsen jedes Jahr – auch jetzt, in Corona-Zeiten. Trotz des politischen Umfelds, das eher liberal-konservativ ist, können wir neue Gruppen wie Kurierfahrer und Apotheker zusammenführen und die bestehenden Zielgruppen im öffentlichen Dienst, bei ­Finanzen, Dienstleistungen oder beim Verkehr halten. Arbeitnehmer in Israel wollen eine starke Organisation, die ihre Rechte schützen kann. Nur Histadrut hat diese Macht.

Ungefähr zehn Prozent der Mitglieder sind Araber. Wie haben sie die Organisation verändert?

Jeder Beschäftigte hat die gleichen Rechte – in Israel und in der Histadrut. Die arabischen Parteien sind seit vielen Jahren Teil der Koalition der gewählten Versammlung der Histadrut, und es gibt bei uns arabische Mitarbeiter. Arabische Arbeitnehmer und regionale Arbeitsräte bieten Service, rechtliche Vertretung, individuelle Behandlung und gewerkschaftliche Organisation von Arbeitsplätzen.

Was kann die Histadrut zum israelisch-palästinensischen Friedensprozess beitragen?

Arbeit ist eine Brücke zum Frieden. Auf dem Gerüst arbeiten palästinensische und israelische Arbeiter Schulter an Schulter. Eines meiner ersten Treffen als Vorsitzender der Histadrut war mit dem Generalsekretär des Palästinensischen Gewerkschaftsbundes PGFTU, Shahar Sa’ed. Wir sind uns einig über Themen, die wir zum Nutzen der Beschäftigten voranbringen müssen. Ich glaube, dass wir gemeinsam mehr erreichen. Leider wirft die politische Realität einen schweren Schatten auf die Fähigkeiten der PGFTU, enger und offener mit uns zusammenzuarbeiten.

Wie ist es um die Menschenrechtssituation der Arbeitskräfte in Gaza und im Westjordanland bestellt und um die Lage afrikanischer und asiatischer Einwanderer?

Wir sprechen über Bevölkerungsgruppen, die sehr anfällig für Ausbeutung sind. Dennoch: Ein Arbeitnehmer in Israel muss seine Rechte bekommen, egal ob er Palästinenser, Jordanier, Thailänder oder Bulgare ist. Wir arbeiten jetzt daran, Tarifverträge für Arbeitnehmer im Bau- und Pflegesektor abzuschließen, die von palästinensischen Arbeitern und Wanderarbeitnehmern geprägt sind. Das Hauptproblem im Bausektor ist die Arbeitssicherheit. Ungefähr 80 000 Palästinenser arbeiten in Israel, hauptsächlich im Bausektor. Während der Corona-Zeit arbeiteten diese Menschen trotz der Sperrungen weiter.

Wie wichtig sind die Kontakte zu Deutschland im politischen Alltag?

Ich schaue ständig, was beim DGB passiert, um zu sehen, wo wir besser werden können. Ich habe unseren Ministerpräsidenten und die Arbeitgeber aufgefordert, in der Pandemie Kurzarbeit nach deutschem Vorbild einzuführen. Leider haben sie nicht auf mich gehört.


Älter als Israel

In Haifa gründete David Grün, ein junger jüdischer Einwanderer und bekennender Zionist, im Dezember 1920 die Histadrut (hebräisch: Zusammenschluss). Die Organisation war mehr als eine Gewerkschaft – sie sollte die Idee eines jüdischen Nationalstaates in Palästina Wirklichkeit werden lassen. Gerade hatte der Völkerbund, nachdem das Osmanische Reich den Ersten Weltkrieg verloren hatte, die Verwaltung Palästinas an Großbritannien übertragen. David Grün, der sich in seiner neuen Heimat David Ben Gurion nannte, war die zentrale Führungsperson einer linkszionistischen Partei, aus der später die Arbeitspartei Awoda hervorging – und sollte später der erste Ministerpräsident Israels werden.

  • Arnon Bar-David, Vorsitzender von Histadrut
    Arnon Bar-David, geboren 1957, ist seit März 2019 Vorsitzender von Histadrut. Zuvor war er Vorsitzender der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes (UCAPSE), der größten Gewerkschaft in der Histadrut. Bar-David wuchs im Süden von Tel Aviv auf, in einem Viertel, in dem Militärveteranen und Neusiedler lebten. „Wir waren dort nicht reich, aber alle gleich“, sagt er. „Über Unterschiede in der Herkunft haben wir nie geredet.“ Bar-David ist verheiratet, Vater von sechs Kindern und lebt in Kiryat Ono bei Tel Aviv.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrem Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen