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„Mensch vor Marge“: Das forderten rund 400 Beschäftigte im Oktober 2018 vor der Nestlé-Konzernzentrale im schweizerischen Vevey. Magazin Mitbestimmung

Nahrungsmittelbranche: "Wir erleben das als Kulturbruch"

Ausgabe 01/2019

US-Investor Daniel Loeb will den Schweizer Weltkonzern Nestlé zu neuen Profithöhen treiben. Was das für die Beschäftigten bedeutet, zeigt die abrupte Abwicklung der traditionellen Caro-Kaffee-Produktion bei Stuttgart. Von Stefan Scheytt

Nein, sagt die Pförtnerin im Nestlé-Werk in Ludwigsburg bei Stuttgart, sie dürfe Journalisten nicht ins Betriebsratsbüro vorlassen. Nestlé will keine Presse im Werk. Das ist umso bizarrer, als hier gar nichts mehr produziert wird. 150 Jahre wurde hier löslicher Getreidekaffee hergestellt, die letzten 50 Jahre von Nestlé unter der Marke Caro. Jetzt ist der Standort in Abwicklung: Etwa drei Dutzend der gut 100 Mitarbeiter sind schon gegangen, die Maschinen sind auf dem Weg nach Portugal, wo der koffeinfreie Ersatzkaffee in Zukunft billiger produziert werden soll. In wenigen Monaten ist dieses Nestlé-Werk Geschichte.

Das Gespräch mit den Betriebsräten Enes Sedic und Tiziano Piticco sowie dem Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) in Stuttgart, Hartmut Zacher, findet also im engen Pförtnerhäuschen statt. Einerseits, sagen sie, habe es seit Jahren Anzeichen für das Ende des Standorts gegeben. „Teile der Fabrik wurden vermietet, die Belegschaft ausgedünnt. Statt ausscheidende Kollegen zu ersetzen, häuften wir viele Tausend Überstunden an“, berichtet Betriebsratschef Sedic. Es gab aber auch gegenteilige Signale: So hatte Nestlé bereits 2017 ein Kaffee-Werk in Mainz geschlossen. „Das Schicksal der Kollegen dort verhieß Zukunft für die Kollegen hier“, sagt NGG-Mann Zacher. Betriebsrats-Vize Piticco: „Es wurde uns vorgegaukelt, wir würden das Kaffee-Werk Nummer eins in Europa.“ Umso härter traf die Belegschaft im Juni die Ankündigung zur Schließung. „Das kam wie der Blitz aus heiterem Himmel“, sagt Zacher. An einer Wand im Pförtnerhäuschen hängen zwei Plakate mit typischen Managersprüchen zur Arbeitssicherheit – „We make Nestlé safe“, wir machen Nestlé sicher –, die viele hier für zynisch halten angesichts der 100 verlorenen Arbeitsplätze im Caro-Werk, weiterer fast 300 Stellen an anderen Nestlé-Standorten in Weiding (Bayern), Lüdinghausen (NRW) und Biessenhofen (Allgäu) sowie der fast 400 Arbeitsplätze in Mainz.

Als einer der maßgeblichen Treiber des Restrukturierungsprogramms, bei dem Nestlé seine Kosten bis 2020 dauerhaft um bis zu 2,5 Milliarden Franken drücken will (davon bis zu 800 Millionen in der Produktion), gilt der US-amerikanische aktivistische Finanzinvestor Daniel Loeb. Mit seinem Hedgefonds Third Point erwarb der Milliardär 1,3 Prozent der Nestlé-Anteile und setzt den Schweizer Konzern damit mächtig unter Druck, so wie er es zuvor mit anderen Unternehmen in anderen Branchen getan hat. In einem offenen Brief und einer Website (www.nestlenow.com) fordert Loeb von den Managern, „kühner“, „schneller“ und „scharfsinniger“ zu agieren. Nestlé soll Geschäftsfelder und Marken abstoßen, die nicht zum Kerngeschäft passen und kein großes Wachstumspotenzial haben, der Konzern soll eigene Aktien zurückkaufen (und so den Aktienkurs anheizen), seine „bürokratische Organisation“ abstreifen und sich neu strukturieren in drei Divisionen mit jeweils eigenem Management. All das, davon ist Loeb überzeugt, könne Nestlé kräftig wachsen lassen und die Gewinnmarge bis 2020 auf 18 bis 20 Prozent in die Höhe treiben. Inzwischen hat Nestlé als Ziel angekündigt, die bereinigte operative Rendite solle von den 2016 erreichten 16 Prozent auf 17,5 bis 18,5 Prozent im kommenden Jahr steigen, zudem sei ein Aktienrückkaufprogramm von bis zu 20 Mrd. Franken geplant.

„Loeb steht für gnadenlose Gier“, urteilt NGG-Funktionär Hartmut Zacher. „Denn obwohl die Marge schon bei 16 Prozent und höher lag und auch das Caro-Werk in Ludwigsburg schwarze Zahlen schrieb, macht man Arbeitsplätze platt, um noch mehr Geld zu verdienen.“ Schlimm findet Zacher auch, wie sich diese Gier auf Nestlé übertragen habe: „Die Manager ticken jetzt auch so.“ Christian Gojowczyk von der katholischen Betriebsseelsorge, der zufällig ins Pförtnerhäuschen hereinschneit, erkennt noch ein anderes Motiv des weltgrößten Nahrungsmittelherstellers: „Meiner Einschätzung nach schließen die den Standort nicht, weil sich damit so wahnsinnig viel Geld einsparen ließe. Denen geht es vor allem um das Signal an die Börsen: Seht her, auch in einem hoch regulierten Land wie Deutschland kann man ein traditionsreiches Werk dichtmachen, und zwar innerhalb kürzester Zeit.“

Auch Guido Zeitler, seit November 2018 neuer Chef der NGG, sieht eine neue Qualität im Verhalten von Nestlé. „Dass man Standorte schließt und Belegschaften ausdünnt, das gab es in der Nestlé-Welt immer wieder“, weiß Zeitler. „Aber dass man nun eine Zielmarge von 18,5 Prozent aufruft und gleichzeitig tarifliche Leistungen infrage stellt und sagt, man müsse auf das Niveau vor drei Jahren zurückkehren – das erleben die Beschäftigten zu Recht als Kulturbruch.“ Zur Strategie von Nestlé gehöre es, einen Entsolidarisierungsprozess zwischen den Standorten in Gang zu setzen: „Wir wissen zum Beispiel nicht, wie es mit Nestlés Pizza-Werk im Saarland weitergeht oder mit dem Fleisch- und Wurst-Werk Herta im Ruhrgebiet. Es stehen regelmäßig Drohungen im Raum, die Produktion zu verlagern. Da wird mit den Ängsten der Mitarbeiter gespielt“, sagt Zeitler. Gleichzeitig rühmte sich Nestlés Finanzchef auf einer Investorenkonferenz, dass der Konzern seine Dividende seit 23 Jahren kontinuierlich angehoben hat, im ersten Halbjahr 2018 stieg der Gewinn je Aktie um mehr als 21 Prozent.

Alles für den schnellen Profit

Guido Zeitler hat keinen Zweifel, dass der Einfluss der Finanzinvestoren bestehen bleibt und Vorstände dazu veranlasst, ihre Unternehmen in erster Linie als Vehikel zur üppigen Versorgung der Anteilseigner zu betrachten. „Bei Unilever war es noch plakativer“, meint Zeitler und erinnert an den abgewehrten Übernahmeversuch durch Ketchup-Hersteller Kraft Heinz, in dessen Folge Unilever seine Keimzelle, das Margarinegeschäft, für fast sieben Milliarden Euro an einen Finanzinvestor verkaufte. „Kein Cent davon wurde in die Entwicklung von Produkten, in Weiterbildung von Mitarbeitern und andere Zukunftsthemen gesteckt. Das Unternehmen verkaufte sein Tafelsilber, um damit letztlich seine Aktionäre zu bedienen.“ Auch Unilever hat angekündigt, die Marge weiter in die Höhe treiben zu wollen. Bis 2020 soll sie auf 20 Prozent steigen – und damit noch über jener von Nestlé liegen.

Solche Margenziele erhöhten natürlich den Druck auf die Belegschaften und auf tarifvertragliche Leistungen, sagt der NGG-Vorsitzende. Er sieht einen eklatanten Widerspruch zwischen dem Interesse der Mitarbeiter nach langfristigen Perspektiven und dem kurzfristigen Handeln der Vorstände, die unter dem Einfluss von Finanzinvestoren selbst hochprofitable Unternehmen wie Nestlé oder Unilever fortwährend umbauen und auspressen, um deren Beteiligungen für den baldigen Wiederverkauf hochzujubeln. „Einst seriöse Unternehmen werden so zur Jongliermasse von Investoren“, sagt Zeitler, der sich auf weitere große Auseinandersetzungen einstellt. „Wir werden mit allen Mitteln dagegenhalten.“

Dazu gehört für Zeitler, die unterschiedlichen Interessen von Aktionären und Arbeitnehmern noch hörbarer öffentlich herauszuarbeiten, worauf sich auch die Betriebsräte von Nestlé und Unilever verständigt hätten. „Diese Unternehmen sind markensensibel und auf ein gutes Image bedacht, sie wollen keine negative Öffentlichkeit. Aber was da gerade passiert, ist eine Schweinerei, und das muss man auch so benennen.“ Zudem will der neue NGG-Vorsitzende den „intensiven Organisationsentwicklungsprozess“ der vergangenen Jahre fortsetzen und so die Voraussetzung schaffen für erfolgreiche Interessenvertretung. „Wir wollen mehr Mitglieder gewinnen und haben in unseren Branchen auch das Potenzial dazu.“

Durchschlagskraft wird gebraucht, wie der Fall Nestlé zeigt, auch wenn man dort notgedrungen eher in der Rolle einer „Reparaturwerkstatt“ agiert habe, wie Guido Zeitler meint. Mit dem Slogan „Mensch vor Marge“ hatten Mitarbeiter an mehreren Nestlé-Standorten in Deutschland und vor der Konzernzentrale in Vevey lautstark gegen den Kahlschlag protestiert. „Den Stellenabbau konnten wir nicht verhindern, aber ein herausragendes Verhandlungsergebnis erzielen“, sagt Zeitler. Das Tarifpaket beinhaltet gut dotierte Abfindungen für langjährige Beschäftigte, Regelungen zur Altersteilzeit, finanzielle Hilfen für die berufliche Aus- und Weiterbildung mit einer Dauer von bis zu drei Jahren sowie Transfergesellschaften an zwei der betroffenen Standorte. „Ohne die große Solidarität unter den Nestlé-Werken in Deutschland und international“, ist Guido Zeitler überzeugt, „hätten wir diesen Tarifvertrag so wohl kaum erkämpfen können.“

Für derlei Details in Tarifverträgen dürfte sich Hedgefonds-Milliardär Loeb kaum interessieren. Um sein Engagement bei Nestlé ist es zurzeit still, vielleicht, weil sein Fonds nach Medienberichten 2018 so viel an Wert verloren hat wie seit der Finanzkrise 2008 nicht mehr.

Guido Zeitler – Der Neue Chef der NGG

Bei seiner Grundsatzrede zum Antritt als neuer Vorsitzender der NGG im November 2018 in Leipzig forderte er ein Verbot von OT-Mitgliedschaften, also die klare Absage an Arbeitgeberverbände wie den Deutschen Hotel- und Gaststättenverband, auch solchen Unternehmen eine Mitgliedschaft anzubieten, die sich nicht an Tarifverträge halten müssen. „Mit dieser Praxis muss Schluss sein. Zur Sozialpartnerschaft gehört, dass man sich an gemeinsam ausgehandelte Standards hält“, so Guido Zeitler. Für den ausufernden Niedriglohnsektor sei auch diese Tarifflucht verantwortlich. Von der Politik erwartet Zeitler außerdem, „dass es endlich eine erleichterte Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen gibt“. Der 47-jährige Berliner, der mit seiner Familie in Hamburg lebt, ist gelernter Hotelfachmann und war Betriebsrat in einem Berliner Hotel, bevor er 1999 bei der NGG seine Ausbildung als Gewerkschaftssekretär begann. Von 2002 an war Zeitler Gewerkschaftssekretär in der NGG-Region München, 2007 wechselte er als Referatsleiter für das Hotel- und Gaststättengewerbe in die Hauptverwaltung in Hamburg.

  • Ende eines Traditionswerks: Der Nestlé-Standort in Ludwigsburg schließt nach 50 Jahren. (Bild: Karsten Schöne)
  • Mensch vor Marge: Das forderten rund 400 Beschäftigte im Oktober 2018 vor der Nestlé-Konzernzentrale im schweizerischen Vevey.

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