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Hier demonstrieren Menschen an der Grenze am Rheinufer von Kehl und Straßburg für die deutsch- französische Freundschaft und gegen geschlossene Grenzen. Magazin Mitbestimmung

Europa: Wiederaufbau unterstützen, Vertrauen zurückgewinnen

Ausgabe 03/2020

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft bietet die einmalige Chance, das ramponierte Image Deutschlands in Europa zu verbessern. Von Gabriele Bischoff, Mitglied des Europäischen Parlaments

Seit nun mehr als zwei Monaten befindet sich Europa im Ausnahmezustand. Bereits jetzt sind die sozialen und ökonomischen Konsequenzen der Covid-19-Pandemie gravierend und die Zukunftsprognosen besorgniserregend. Mit der Frühjahrsprognose 2020 korrigierte die EU-Kommission gerade ihre Wachstumsvorhersagen um neun Prozent nach unten im Vergleich zum Herbst 2019. Nationale Reflexe verzögerten europäische Krisenmaßnahmen. Mit finanziellen Beihilfen, der Lockerung der Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts, Krediten für Unternehmen sowie Soforthilfen für die nationalen Gesundheitssysteme wurden erste Schritte gemacht.

Wirtschaftliche und soziale Konsolidierung 

Über Höhe, Substanz und Architektur eines Wiederaufbauprogramms für Europa wird momentan noch kontrovers diskutiert. Fest steht: Die Rezession wird nicht überall gleich tief ausfallen. Damit die Europäische Union nicht weiter auseinanderdriftet, muss den besonders von der Corona-Pandemie betroffenen Ländern geholfen werden. Nach Jahren harter Austeritätspolitik kämpfen insbesondere Italien, Frankreich und Spanien mit den Folgen der Pandemie. Aber auch im Rest der Europäischen Union steigt die Arbeitslosigkeit, und die Folgen des Shutdown sowie der Grenzschließungen treffen einige Sektoren und Branchen besonders stark. Um Massenarbeitslosigkeit zu verhindern, bieten viele Mitgliedstaaten finanzielle Unterstützung zur Kurzarbeit. Der Bundesagentur für Arbeit zufolge wurde in Deutschland bis zum 26. April für 10,1 Millionen Menschen Kurzarbeit angemeldet, in Frankreich sind es laut der französischen Arbeitsministerin Muriel Penicaud sogar über 50 Prozent der Beschäftigten im privaten Sektor. Angesichts dieser Herausforderungen hat die Europäische Kommission das SURE-Instrument aufgelegt, mit dem Mitgliedstaaten EU-Darlehen zur Finanzierung von Kurzarbeit beantragen können. 
Viele Menschen fürchten, in den nächsten drei Monaten nicht über die Runden zu kommen. Daher müssen weitere Maßnahmen folgen, zumal gerade Beschäftigte mit befristeten Arbeitsverträgen oder in besonders prekären Jobs von SURE nicht erfasst werden. Würde die EU jetzt über eine europäische Arbeitslosenrückversicherung verfügen, die seit vielen Jahren kontrovers diskutiert wird, wäre sie in dieser Krise besser aufgestellt.

Aus vergangenen Krisen lernen

Eine neuere Studie zeigt, dass mitbestimmte Unternehmen besser durch die letzte große Krise gekommen sind als Firmen ohne Mitbestimmung. So konnten größere Entlassungen verhindert und Transformationen besser bewältigt werden. Die Motivation von Beschäftigten wird nach dieser Corona-Krise auch dort höher sein, wo tarifvertraglich oder über Betriebsvereinbarungen eine schnelle Aufstockung des Kurzarbeitergelds durchgesetzt wurde. 
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft kann vor diesem Hintergrund das Wiederaufbauprogramm für Europa mit wichtigen Weichenstellungen für die Zukunft ergänzen. Sie kann die Agenda setzen, um beispielsweise bessere EU-Mindeststandards für Information, Konsultation und Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Europa zu erreichen. Es wäre eine Win-win-Situation, wenn einerseits die Resilienz der Unternehmen EU-weit gestärkt und andererseits Arbeitnehmerrechte verbessert werden. Außerdem gilt es, vorhandene Regelungslücken zu schließen, um sicherzustellen, dass Arbeitgeber durch die Umstellung der Unternehmensverfassung auf europäische Rechtsformen Mitbestimmungsregeln zukünftig nicht mehr umgehen können. Eine Rahmenrichtlinie zur Unterrichtung, Anhörung und Unternehmensmitbestimmung wäre dafür das geeignete Instrument.

Grenzschließungen Ausdruck nationaler Reflexe

Doch gute europäische Lösungen sind nur wirksam, wenn sie von den Mitgliedstaaten auch respektiert und beachtet werden. Die unkoordinierten Grenzschließungen und die fehlende Koordination zwischen den Staaten hat die Anfälligkeit der Europäischen Gemeinschaft für Populismus und Nationalismus deutlich gemacht. Insbesondere die über 1,5 Millionen Grenzgänger, die in vielen Regionen nicht mehr einfach zwischen Arbeits- und Wohnort pendeln dürfen, wurden von der Zerschneidung der über viele Jahre aufgebauten grenzüberschreitenden Arbeits- und Wirtschaftsräume heftig getroffen. Die nationalen Alleingänge zeigen, dass die meisten Mitgliedstaaten die Rechte der mobilen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht interessiert haben. Damit erodiert das Vertrauen der Beschäftigten in den europäischen Arbeitsmarkt. Die Erfahrung, dass die Sicherung des Warenverkehrs Vorrang hatte vor der Gewährleistung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, wird lange nachwirken. 

Wert der Arbeit

Deutschland übernimmt die Ratspräsidentschaft zu einem Zeitpunkt, wo viel auf dem Spiel steht, und muss neue Impulse setzen, um verlorenes Vertrauen wiederherzustellen. Es kann die Kritik Emmanuel Macrons aufgreifen, der wetterte: ,,Sie sind für Europa, wenn es darum geht, billige Arbeitskräfte zu bekommen, aber nicht für Europa, wenn es darum geht, Schulden zu vergemeinschaften.“ Von diesem Vorwurf könnte sich die deutsche Ratspräsidentschaft durch einen Doppelschlag befreien: einerseits dafür sorgen, dass das Wiederaufbauprogramm nicht nur Darlehen, sondern ausreichend Zuschüsse für die Not leidenden Länder vorsieht, und andererseits die Initiative eines EU-Rechtsrahmens für Mindestlöhne vorantreiben, die bereits im Programm der Ratspräsidentschaft vorgesehen war.

Zukunft EU

Reines Krisenmanagement allein wird nicht ausreichen. Zu lange hat die Europäische Union nur reagiert oder sich in letzter Minute auf Minimallösungen verständigt. Europa hat einen veritablen Neuaufbruch nötig, der mit der geplanten Konferenz zur Zukunft Europas am 9. Mai 2020 starten sollte. Der Auftakt zu dieser zweijährigen Konferenz wurde verschoben und wird nun unter deutsche Ratspräsidentschaft erfolgen. Das Europäische Parlament hat einen weitreichenden Vorschlag eingebracht, wie diese Konferenz durch einen Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern auf Augenhöhe in Form von europäischen Bürgerforen (Agoren) sicherstellen kann, dass sich alle an der Neuausrichtung beteiligen können. Und dass dabei auch die Belange von Beschäftigten nicht zu kurz kommen dürfen. Die Menschen in Europa erwarten eine handlungsfähige Union, die nicht nur die Corona-Pandemie bewältigt, sondern es schafft, ihre Kräfte zu bündeln, um den Klimanotstand genauso wie den Anstieg sozialer Ungleichheit zu bewältigen und den digitalen Wandel gerecht zu gestalten. 

Go for it!

Die deutsche Ratspräsidentschaft kann mit den richtigen Signalen und Initiativen verlorenes Vertrauen zurückgewinnen. Es gilt, die Chance zu ergreifen, sich in schwierigen Zeiten als ehrlicher Makler zu zeigen, dem Gemeinschaftsinteresse verpflichtet. Anstelle nationaler Egoismen braucht es jetzt starke Impulse für eine zukunftsfähige EU. Europa braucht die Solidarität der Tat, wie Robert Schuman dies vor 70 Jahren postuliert hat. „Deutschland hat Europa unendlich viel zu verdanken. Auch deshalb sind wir seinem Erfolg verpflichtet“, so steht es im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD. Go for it! 

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