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Magazin Mitbestimmung

Arbeitsmarktpolitik: Wie staatliches Handeln Ungleichheit wachsen lässt

Ausgabe 03/2015

Reintegration in den Arbeitsmarkt ist das erklärte Ziel der Reformen der Arbeitslosenversicherung in den westlichen Wohlfahrtsstaaten. Die soziale Kluft zu verkleinern ist dabei nicht gelungen. Ein ernüchternder Blick auf die Reformanstrengungen in sechs Ländern. Von Wolfgang Schroeder, Sascha Kristin Futh und Bastian Jantz

In allen sechs untersuchten EU-Ländern – Dänemark, Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden, Österreich, Schweden – wurden in den letzten beiden Jahrzehnten vor dem Hintergrund steigender Arbeitslosenzahlen und den daraus folgenden fiskalischen Belastungen Reformen der sozialen Absicherung von Arbeitslosigkeit durchgeführt. Es sollte zukünftig weniger um die passive Verwaltung der Arbeitslosigkeit gehen, sondern um eine aktive Integration in den Arbeitsmarkt. Dabei wurden die staatlichen Unterstützungsleistungen stärker von Pflichten zur Mitwirkung an der eigenen Vermittlung oder der Teilnahme an Arbeitsfördermaßnahmen abhängig gemacht. Dies drückt sich insbesondere in der Konzeption einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik („Fördern und Fordern“) aus. Sie besteht einerseits aus der Erhöhung des Arbeitszwangs, beispielsweise durch Reduzierung sozialstaatlicher Transfers, veränderte Zumutbarkeitsregelungen bzw. Sanktionen, und andererseits aus der Förderung der Beschäftigungsfähigkeit durch individuelle Betreuung, Aus- und Weiterbildung sowie verstärkte Vermittlungsaktivitäten. Unterschiede zwischen den Ländern ergeben sich insbesondere bei der Gewichtung dieser beiden Elemente. Die Ausgaben pro Arbeitslosem wurden dagegen in allen Ländern gesenkt oder blieben unverändert. 

HÖHERE HÜRDEN FÜR ARBEITSLOSENGELD

Zwischen den Ländern existieren nicht nur deutliche Unterschiede in der Höhe der pro Arbeitslosem getätigten Ausgaben, sondern es wird auch zum Teil ein anderer Schwerpunkt auf aktive und passive Leistungen gelegt. So präferierte Deutschland eher passive Leistungen, hat diese aber in den vergangenen Jahren im Zuge der Hartz-Reformen abgebaut und stärker in aktive Leistungen investiert. Schweden und Großbritannien setzen dagegen stärker auf aktive Leistungen, wobei diese zumindest in Großbritannien in den vergangenen Jahren stark zurückgefahren wurden. 

Auch im Bereich der passiven Arbeitsmarktpolitik lassen sich unterschiedliche Reformtrends erkennen. In Deutschland wurde 2005 mit der Grundsicherung für Arbeitssuchende („Arbeitslosengeld II“) eine komplett neue Leistung geschaffen. Dagegen wurde in Großbritannien mit der stufenweisen Einführung des Universal Credit seit April 2013 eine neue Leistung geschaffen, die unterschiedliche bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen zusammenfasst und vereinheitlicht. In den Niederlanden wurde im Jahre 2003 die Arbeitslosenhilfe ersatzlos abgeschafft. In den übrigen Ländern umfassten Leistungsreformen in erster Linie das Versicherungssystem, insbesondere die Bezugsdauer und die Zugangsvoraussetzungen. Dänemark reduzierte zwischen 1994 und 2010 die Bezugsdauer der Versicherungsleistung von acht Jahren auf zwei Jahre, außerdem wurde die Rahmenfrist bei Wiederbeantragung auf zwölf Monate erhöht. Großbritannien hat mit maximal sechs Monaten die kürzeste Bezugsdauer der Versicherungsleistung. In Deutschland wurde die Bezugsdauer insbesondere für ältere Arbeitnehmer verkürzt (von 32 auf 24 Monate für über 57-Jährige). Auch in Österreich wurde die Möglichkeit abgeschafft, mit über 60 Jahren bis zu 78 Wochen Arbeitslosengeld zu beziehen. In Schweden wurde die Möglichkeit der Verlängerung des Arbeitslosengeldbezuges von 300 auf 600 Tage in 2007 abgeschafft, wobei jedoch Eltern mit Kindern unter 18 Jahren nun 450 Tage Arbeitslosengeld beziehen können.

In Kombination mit Veränderungen der Anwartschaftszeiten hat dies dazu geführt, dass die Arbeitslosenversicherung als primäres Sicherungssystem an Bedeutung verloren hat. Dabei wurde die Leistungshöhe nur in Deutschland und Schweden verändert. In Schweden wird mittlerweile nach 100 Tagen Leistungsbezug das Niveau von 80 auf 70 Prozent gesenkt, mit entsprechenden Deckelungsgrenzen. Die neue Grundsicherung in Deutschland ist bedürftigkeitsgeprüft und die Höhe unabhängig vom früheren Einkommen, was insbesondere für ältere ehemalige Arbeitslosenhilfeempfänger zu Einbußen geführt hat. Die Nettolohnersatzrate ist jedoch bislang in fast allen Ländern relativ konstant. In den Niederlanden ist sie seit 2002 von 67 auf 75 Prozent – bezogen auf den kinderlosen Durchschnittsverdiener – leicht gestiegen, in Schweden hingegen im gleichen Zeitraum um deutliche 20 Prozentpunkte von 67 auf 45 zurückgefahren worden. Dessen ungeachtet bewegen sich die Quoten aller untersuchten Länder in einem ähnlichen Bereich – und liegen in der Regel deutlich über 50 Prozent. Großbritanniens Arbeitslose allerdings müssen sich mit 14 Prozent des Durchschnittsverdieners begnügen. 

In allen Ländern ist mittlerweile die aktive Arbeitssuche eine Voraussetzung für den Bezug von Arbeitslosenunterstützung. Die Arbeitssuchenden haben bestimmte Verpflichtungen. Sie müssen zum Beispiel regelmäßig Gespräche mit einem Berater für Eingliederungsmaßnahmen führen sowie verfügbar und bereit sein, zumutbare Arbeit anzunehmen. Bei Fehlverhalten gibt es in allen Ländern Sanktionen in Form von Kürzungen oder Streichungen der Leistung. 

PRIMÄRZIEL BESCHÄFTIGUNGSAUFNAHME

Deutliche unterscheiden sich die Länder, was die Struktur der Ausgaben für aktive Leistungen betrifft. Großbritannien gibt nach wie vor nur einen geringen Anteil der aktiven Arbeitsmarktausgaben für Trainings und Weiterbildung aus. Der größte Anteil entfällt auf Beratung, Betreuung und Vermittlung, was unter anderem dadurch zu erklären ist, dass auch die Tätigkeiten privater Dienstleister erfasst sind, die durch öffentliche Mittel finanziert werden und die in Großbritannien eine große Rolle spielen. Doch auch Dänemark und Schweden als Vertreter des nordischen Wohlfahrtsstaates haben ihre Ausgaben für Weiterbildung reduziert. Stattdessen wurden Beratungs- und Vermittlungsaktivitäten sowie Fallmanagement ausgebaut ebenso wie Lohnkostenzuschüsse und geförderte Beschäftigung. Kombiniert mit den Maßnahmen im passiven Bereich wurde somit in beiden Ländern die Anreizintensität ebenso erhöht wie die Förderung der schnellen Beschäftigungsaufnahme. Die Höherqualifizierung von Arbeitslosen spielt hingegen eine immer geringere Rolle und befördert somit die Gefahr wachsender sozialer Ungleichheit. 

Die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt mit entsprechenden Pflichten ist zum herausragenden Ziel der Arbeitsmarktpolitik geworden. Zum Teil ist damit auch die Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse verknüpft. Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigung und Zeitarbeit haben in allen Ländern in den letzten Jahren zugenommen. An der Spitze stehen hier die Niederlande mit einer Quote von 43 Prozent, während sich die übrigen Länder zwischen 30 und 25 Prozent befinden. 

Bezüglich der Wirkungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik kommen Evaluationen oftmals zu widersprüchlichen Ergebnissen. So zeigt sich beispielsweise bei Trainingsmaßnahmen, dass deren Wirkung erst verzögert einsetzt. Während unmittelbar nach Beendigung der Maßnahme keine bzw. nur geringfügige Effekte nachweisbar sind, verbessert sich die Wirkung im Zeitverlauf. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sowie Lohnkostenzuschüsse und sonstige Beschäftigungsbeihilfen zeigen demgegenüber negative bzw. neutrale Effekte in Bezug auf den Zugang zum Arbeitsmarkt. Problematisch an den meisten Studien ist hierbei, dass zwar einzelne Maßnahmen evaluiert werden, jedoch nicht die Kombination von unterschiedlichen Instrumenten (Trainingsmaßnahmen, die zum Beispiel von erhöhter Betreuungsintensität und Vermittlung begleitet werden). Darüber hinaus konzentrieren sich die meisten Studien auf die unmittelbare Vermittlung in Arbeit als Wirkungsindikator, während andere Effekte wie die Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit vernachlässigt werden. 

DURCHWACHSENE ERGEBNISSE

Tatsächlich zeigen die Reformverläufe bei allen Differenzen auch ähnliche Tendenzen auf: Erstens wurden die Zugangsbedingungen erhöht und die Leistungsniveaus der passiven Arbeitsmarktpolitik abgebaut. In allen Ländern wurde die Arbeitslosenversicherung als vorrangiges Sicherungssystem durch Veränderung von Anwartschaft, Rahmenfristen, Bezugsdauer oder Leistungshöhe geschwächt, sodass sich deren Reichweite zum Teil deutlich reduziert hat. 

Zweitens wurden die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik konzentriert auf eine schnelle Integration in den Arbeitsmarkt. Zugleich wurden längerfristige Formen der aktiven Förderung reduziert, sodass sozialer Ungleichheit auch langfristig nicht entgegengewirkt wird.

Drittens hat der effizienzorientierte Umbau der Strukturen sowie der Steuerung der Arbeitsmarktpolitik zu einer Schwächung der Rolle der Gewerkschaften in der Leistungserbringung geführt. In Dänemark, Deutschland und den Niederlanden wurde unter anderem die Bedeutung der Selbstverwaltung in der Arbeitsmarktpolitik beschnitten oder gar aufgehoben.

Insgesamt wurde die primäre Rolle der Arbeitslosenversicherung neu definiert und besteht nun darin, die Partizipation und Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu fördern. Erhöht wurden die Anreize zur Beschäftigungsaufnahme, während öffentliche Beschäftigungsprogramme und langfristige Weiterbildungsmaßnahmen reduziert wurden. Auch hat sich eine stärkere Individualisierung in der Arbeitsmarktpolitik durchgesetzt, die neben den sozialen Rechten zunehmend auch die sozialen Pflichten und die Eigenverantwortung der Individuen betont. Die Bedeutung des Prinzips der Statusäquivalenz in den konservativen Wohlfahrtsstaaten hat sich durch die Reformen der Arbeitslosenversicherung verringert, zugleich ist es nicht gelungen, die soziale Ungleichheit zu reduzieren.

Wolfgang Schroeder, Sascha Kristin Ruth und Bastian Jantz sind Sozialstaatsforscher im Fachgebiet „Politisches System der BRD – Staatlichkeit im Wandel“ der Universität Kassel sowie am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Verwaltung und Organisation der Universität Potsdam

MEHR INFORMATIONEN

Wolfgang Schroeder/Sascha Kristin Futh/Bastian Jantz: WANDEL DURCH ANNÄHERUNG? Reformaktivitäten europäischer Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Eine Sechs-Länder-Studie im Auftrag der FES. Berlin 2015

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