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Magazin MitbestimmungInterview: "Wenn wir links gehen, gehen sie rechts"
Alexander Kirchner, Vorsitzender der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, über sein Verhältnis zur Konkurrenzgewerkschaft der Lokführer, GDL, darüber, was die Bahnbeschäftigten brauchen und wie ein Tarifeinheitsgesetz aussehen müsste. Das Gespräch führten Cornelia Girndt und Jörn Boewe
Alexander Kirchner, überraschend hat der Arbeitgeber Bahn in der Verhandlungsrunde Ende November einen 600 Seiten langen Vorschlag für ein völlig neues Tarifsystem vorgelegt. Wie beurteilen Sie das Angebot?
Die Deutsche Bahn AG versucht offenbar, eine Synchronisierung der Tarifverhandlungen zu erreichen, die sie mit uns und der GDL führt. Am Ende sollen zwei Tarifverträge stehen, die in ihren Regelungsinhalten identisch sind. Tarifkommission und Bundesvorstand der EVG haben sich aber einstimmig gegen ein neues Tarifsystem ausgesprochen. Für die EVG ist Tarifeinheit ein hohes Gut. Wir werden alles versuchen, sie im Bahnkonzern zu erhalten. Gleichzeitig sind wir nicht bereit, uns irgendeinem Diktat der GDL oder der Bahn AG zu unterwerfen, wenn es um die Tarifausgestaltung in den Bereichen geht, wo wir eindeutig die Mehrheit der Mitglieder organisieren.
Wenn am Ende zwei identische Tarifverträge stünden, in denen alles integriert ist – das wäre doch Tarifeinheit.
Das ist richtig. Aber ein solcher Abschluss kann nicht dadurch entstehen, dass die Gewerkschaft der Lokführer für Zugbegleiter Tarifregelungen vereinbart, die wir zu übernehmen hätten. Das geht nicht, weil wir in dieser Berufsgruppe, im Übrigen auch bei den Lokrangierführern, eindeutig die Mehrheit der Mitglieder haben.
Was spricht dagegen, bei der Bahn das sogenannte 3-G-Verhandlungsmodell zu übernehmen, das im öffentlichen Dienst funktioniert, wo Beschäftigte in verschiedenen Gewerkschaften organisiert sind? „3 G“ steht für „Gleicher Ort, gleiche Zeit, gleiches Unternehmen“, die Verhandungen werden parallel oder zeitnah geführt.
Dieses Modell läuft im öffentlichen Dienst auf ganz anderen Grundlagen. Erstens gibt es dort allseits die Einsicht, dass der Deutsche Beamtenbund tarifpolitisch die schwächere Kraft ist. Er übernimmt letztlich, was ver.di abschließt. Zweitens werden dort für alle Beschäftigten Tarifverträge gemacht und nicht nur für einzelne Berufsgruppen. Drittens finden permanent Abstimmungen zwischen ver.di und DBB über die Forderungen statt. Und am Ende steht immer ein gleicher Tarifvertrag. Eine Tarifkonkurrenz gibt es dort nicht. Die GDL hat das Modell aufgegriffen und versucht, es auch bei der Bahn einzuführen. Sie erklärt aber nicht, dass sie bereit ist, am Ende tatsächlich zu einer gemeinsamen Tarifregelung zu kommen. Das macht es für uns problematisch.
Welche Alternative schlägt die EVG vor?
Wir setzen uns zusammen, jeder hat das gleiche Recht, seine Position, seine Forderungen einzubringen, die werden inhaltlich diskutiert und bewertet, und am Ende entscheidet eine demokratisch legitimierte Mehrheit der jeweiligen Berufsgruppe darüber, was sinnvoll ist. Unser Ansatz war immer: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Wenn wir jetzt als Gewerkschaften anfangen würden, unterschiedliche Tarifverträge an ein und dem gleichen Arbeitsplatz abzuschließen, dann ist das ein falsches strategisches Ziel. Ich nehme mal einen ICE: Da würden Kollegen unterschiedliche Tarifverträge haben, obwohl sie die gleiche Arbeit machen, nicht weil der Arbeitgeber das will, sondern wir als Gewerkschaften. Da machen wir nicht mit.
Warum ist 2002 die Tarifgemeinschaft mit der GDL zerbrochen? Bahnexperten sagen, der entscheidende Bruchpunkt war, dass die EVG-Vorgängergewerkschaft TRANSNET damals einen Tarifvertrag abgeschlossen hat, der unbezahlte Mehrarbeit vorsah.
Das ist falsch. Mit der Bahnreform ab 1993 mussten wir eigenständige Tarifverträge verhandeln, vorher wurden die an den öffentlichen Dienst angedockt. Bis 2002 gab es dann eine formale Tarifgemeinschaft auch mit den beiden Beamtenbund-Gewerkschaften, wobei wir als GdED die Verhandlungen führten. Zerbrochen ist die Kooperation, weil es keine Bereitschaft der Gewerkschaften gab, ein Beschäftigungsbündnis, das zuvor alle drei unterschrieben hatten, auch gegenüber den Beschäftigten gemeinsam zu vertreten. Die GDL wollte damit konfliktär in die Betriebsratswahlen gehen – so ist diese Tarifgemeinschaft geplatzt. Seit diesem Zeitpunkt hat die GDL, ähnlich wie Marburger Bund und Cockpit, eine Politik gefahren, die auf Abgrenzung und Ausgrenzung besteht. Wenn wir links gehen, gehen sie rechts, wenn wir oben fordern, fordern sie unten.
War nicht auch der massive Arbeitsplatzabbau verantwortlich für die zugespitzte Situation?
Sicher. Wir haben heute 200 000 Beschäftigte. 1990, zu Zeiten der Fusion von Bundesbahn und DDR-Reichsbahn, waren es noch über 500 000. Wir haben über Jahrzehnte einen Restrukturierungskurs gehabt mit einem jährlichen Abbau von 10 000 Arbeitsplätzen – und das ohne betriebsbedingte Kündigungen. Das war natürlich nur möglich, weil es den Konsens gab, im Rahmen von Beschäftigungsbündnissen Regelungen zu finden, die Entlassungen verhindert, für die Beschäftigten aber auch enorme Zugeständnisse bedeutet haben.
Und die, die geblieben sind, mussten mit immer weniger Kollegen die Arbeit tun.
Viele mussten ihren Arbeitsplatz wechseln. Bei der Deutschen Reichsbahn gab es auf die Kilometerleistung gerechnet fast doppelt so viel Eisenbahner wie im Westen. Mit dem Einbruch des Güterverkehrs sind dort Anfang der 90er die Märkte weggebrochen, und Tausende von Kollegen aus den neuen mussten in die alten Bundesländer wechseln. Die Kollegen haben zwar die Arbeit behalten, aber mit diesen Beschäftigungsbündnissen waren viele Härten verbunden. Gleichzeitig muss man aber auch die Erfolge sehen: Uns ist als erster Gewerkschaft 1996 eine Ost-West-Gehaltsangleichung gelungen. Heute haben wir den besten Kündigungsschutz überhaupt in Deutschland. Wir haben in der DB AG die Übernahmeverpflichtung aller Azubis nach der Ausbildung und ein berufslebenslanges Kündigungsschutzrecht nach zwei Jahren Berufstätigkeit – nicht nur vor Rationalisierung, sondern auch bei gesundheitlichen Einschränkungen. Das gibt es nicht mal im öffentlichen Dienst.
Auf der anderen Seite ist das Personal knapp bemessen, es gibt zu wenig Ausbildung und Fachkräfte, dafür Verspätungen, Zugausfälle und genervte Kunden.
Wir haben immer erklärt, dass die Personalabbauzahlen überzogen und budgetgetrieben sind. Als im Sommer 2013 wegen des Personalmangels im Mainzer Stellwerk die rheinland-pfälzische Landeshauptstadt für Wochen vom Fernverkehr abgekoppelt war, da war es nur die EVG, die diese Fälle aufgegriffen hat. Wir konnten erreichen, dass über 2000 zusätzliche Einstellungen vorgenommen wurden. Zurzeit reden wir mit dem Bahnvorstand darüber, wie wir dauerhaft zur Reduzierung von Mehrleistungsstunden kommen. Dabei geht es auch darum, dass die Besetzung gesichert ist, denn es hilft uns ja nicht, wenn im Fahrkartenschalter jetzt drei statt normal fünf Leute sitzen, die die Arbeit der anderen mitmachen müssen. Wir brauchen aber mindestens vier bis fünf Jahre, um diese verfehlte Politik korrigiert zu kriegen.
Der EVG-Vorsitzende ist in all der Zeit der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende gewesen und trägt damit auch eine unternehmerische Verantwortung für diese Entwicklung.
Ja, aber erstens haben wir hier nicht die Montanmitbestimmung, und zweitens haben wir als EVG diese Personalpolitik der Bahn immer kritisiert, nicht nur im Aufsichtsrat, sondern auch öffentlich, was man von anderen nicht behaupten kann.
Es ist also falsch, wenn etwa von der Gewerkschaft der Lokführer behauptet wird, die EVG schreite „Seit’ an Seit’“ mit der Arbeitgeberseite?
Da will man uns in eine Ecke stellen. Die GDL versucht, uns als Hausgewerkschaft der Bahn darzustellen und sich selbst als die eigentlichen Vertreter der Eisenbahner in den Eisenbahnverkehrsunternehmen. Die Mitgliederzahlen sagen etwas völlig anderes, auch bei den Betriebsratswahlen in diesem Jahr haben wir als EVG mit über 70 Prozent im Bereich der Deutschen Bahn AG abgeschlossen. Wir stellen um die 90 Prozent der Jugendvertreter, die GDL vier Prozent. Die Frage ist, ob man eine populistische Politik betreibt, die darauf zielt, über Konfrontation Dinge zu lösen, oder ob man versucht, eine sachliche Politik zu machen, für die Beschäftigten. Da war unsere Politik seit 2008 für unsere Mitglieder unter den Bahnbeschäftigten erfolgreicher: Wo die GDL elf Prozent für die Lokführer erreicht hat, haben wir 13 Prozent für die Fahrdienstleiter erzielt. Über die letzten sieben Jahre haben wir nachweislich höhere Tarifabschlüsse, mehr Sozialleistungen und bessere Sicherungen für unsere Mitglieder herausgeholt als die GDL.
Auf längere Sicht gibt es doch keine vernünftige Alternative zu einer Kooperation zwischen den Bahngewerkschaften. Wo sind zwischen EVG und GDL Übereinstimmungen, die dafür eine Basis bilden könnten?
Inhaltliche Übereinstimmungen in Sachthemen gibt es in Teilen, etwa wenn es darum geht, den Schienenverkehr nach vorn zu bringen, dafür mehr Geld zu bekommen. Es gibt aber auch Dissenspunkte, die GDL steht für die Trennung von Netz und Betrieb, also die Aufspaltung der Bahn AG.
Das Bundesarbeitsministerium hat im Oktober den Entwurf für ein Tarifeinheitsgesetz vorgelegt. Wie beurteilt ihr diese Vorlage?
Dieser Gesetzesentwurf hat einen Webfehler, weil der Bezugspunkt der Betrieb ist, während unsere Tarifverträge alle großräumiger organisiert sind. So sind in einem ICE Kollegen aus verschiedenen Betrieben tätig. Wir haben bei der Bahn um die 350 Betriebe. Davon hätte in knapp 20 Betrieben die GDL vielleicht eine Mehrheit, läge also bei unter zehn Prozent. Dennoch halten wir es für falsch, das so zu organisieren. Wir sind der Auffassung, die Verbundunternehmen – also DB Regio, DB Fernverkehr, Schenker Rail usw. – sollten Bezugspunkt und Geltungsbereich der Tarifverträge sein.
Hofft die größere EVG darauf, dass der Gesetzgeber die Gewerkschaftskonkurrenz ausschaltet?
Einerseits wollen wir das Tarifeinheitsgesetz, andererseits wird es nicht alle unsere Probleme lösen. Letztlich ziehen wir eine Gewerkschaftskooperation einer gesetzlichen Regelung vor. So ein Gesetz wird ja nicht für Ruhe sorgen können. Eine Gewerkschaft, die nicht mehr mitgestalten kann, geht automatisch in die Opposition, wird jeden Abschluss, den wir als die größere EVG machen, erst recht kritisieren, und in den Phasen, wo es keine Friedenspflicht gibt, wo Tarifverhandlungen sind, wird es zu einer weiteren Polarisierung und Radikalisierung führen, auch innerhalb der Belegschaft.
Spitzt sich das in Krisenzeiten noch zu, wenn einzelne Berufsgruppen sich konstruktiven Lösungen verweigern?
Ja. Wie will denn eine EVG, wie will denn eine IG Metall bei Opel oder eine ver.di bei der Lufthansa sagen: „Wir brauchen hier Beschäftigungsbündnisse, die Arbeitsplätze und Standorte erhalten“, wenn einzelne Berufsgruppen sich einer solchen Solidarität verweigern? Das ist dann nicht mehr gestaltbar. Gewerkschaften würden langfristig nicht mehr sozialpartnerschaftlich handlungsfähig sein, wenn es zu einer Aufsplitterung von berufsständischen Gewerkschaften kommt. Gegenüber einer solchen Entwicklung wäre ein Gesetz das kleinere Übel.
Würde vor dem Hintergrund der Rechtsprechung so ein Gesetz nicht zwangsläufig eine Einschränkung des Streikrechts zur Folge haben?
Das ist die Frage. Womöglich erklärt das Bundesverfassungsgericht das Gesetz für unwirksam, weil das Streikrecht im Grundgesetz verankert ist. Auch die Gerichte könnten der Minderheitsgewerkschaft einen Streik als unverhältnismäßig untersagen, weil deren Tarifvertrag sowieso nicht zum Tragen kommt. Das wäre dann der Zustand von vor 2010, als noch die Rechtsprechung der Tarifeinheit galt.
Abgesehen vom gespannten Verhältnis zwischen den Gewerkschaften – worin bestehen die großen Herausforderungen bei der Deutschen Bahn?
Wir haben einen Koalitionsvertrag, in dem steht: „Mehr Verkehr auf die Schiene“, um CO²-Emissionen zu reduzieren – aber alles was die Politik derzeit betreibt, ist genau das Gegenteil. So hat die EEG-Umlage zu einer Erhöhung der Kosten auf der Schiene geführt. Nicht so beim Lkw. Wir haben den Fernreisebus bekommen. Wir kriegen jetzt eine Lkw-Maut-Reduzierung, das bedeutet mehr Verkehr von der Schiene auf die Straße. Der Bund investiert etwa eine Milliarde pro Jahr zu wenig in die Bestandsinfrastruktur, die streckenweise marode ist. Politisch und ökologisch sinnvoll müsste der Personen- und Güterverkehr auf der Schiene ausgebaut werden. Es gibt kein ökologischeres Verkehrssystem als die Schiene.
Im jüngsten Beteiligungsbericht des Bundes ist wieder von Bahn-Privatisierung die Rede.
Das halte ich für Humbug, die Bahn ist nicht privatisierungsfähig, weder wirtschaftlich noch politisch.
Und was wünscht sich die EVG? TRANSNET hat seinerzeit lange die Börsenpläne von Hartmut Mehdorn unterstützt, anders als die anderen DGB-Gewerkschaften, die dagegen waren.
Für die EVG gibt es eine klare Beschlusslage. Sollte die Bundesregierung das Thema Börsengang wieder auf die Agenda setzen, werden wir das in einem Mitgliederentscheid diskutieren und entscheiden. Das wird nicht ein Vorstand, ein Kirchner oder wer auch immer entscheiden, unsere Mitglieder werden dann entscheiden müssen, was der richtige Weg ist.
ZUR PERSON
ALEXANDER KIRCHNER, 58, sagt, eine „populistische Politik, die darauf zielt, über Konfrontation Dinge zu lösen“, sei seine Sache nicht. Dem Vorsitzenden der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) geht es nach eigenem Bekunden darum, „sachliche Politik zu machen, für die Beschäftigten“. Im November 2008 wurde er an die Spitze der DGB-Bahngewerkschaft TRANSNET gewählt, die sich zwei Jahre später mit der Beamtenbund-Gewerkschaft GDBA zur Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, EVG, zusammenschloss. Kirchner ist auch stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bahn AG.