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Magazin Mitbestimmung

: Wenn die Gegenleistung ausbleibt...

Ausgabe 03/2008

STRESSFORSCHUNG Wann wird der Job zur gesundheitlichen Gefährdung? Neue Erkenntnisse aus der Forschung zeigen, dass andauernde Überforderung und mangelnde Anerkennung krank machen können.

Von JOHANNES SIEGRIST, Professor für Medizinsoziologie an der Universität Düsseldorf. Kontakt: siegrist@uni-duesseldorf.de

Jeder weiß und spürt es: Gute Arbeit hält gesund, schlechte Arbeit macht krank. Aber wie können wir gute von schlechter Arbeit unterscheiden? Denkt man an das Heben schwerer Lasten, den Umgang mit krebserregenden Stoffen oder hohe Lärmbelastung, dann fällt die Antwort leicht. Schwieriger wird es, gute von schlechter Arbeit zu trennen, wenn es um die vielen "normalen" Tätigkeiten geht, die ohne Schutzvorkehrungen oder definierte Gefährdungen verrichtet werden. Hier ist es zunächst hilfreich, quantitative von qualitativen Aspekten der Arbeit zu unterscheiden.

Denn auch eine Arbeit, die an sich nicht gesundheitsgefährdend ist, kann, wenn sie überaus lange und intensiv ausgeübt wird, das Erkrankungsrisiko steigern. Wer beispielsweise länger als 15 Jahre in Wechselschicht beschäftigt war, setzt sich einem erhöhten Risiko aus, an einer Herz-Kreislauf-Krankheit zu erkranken. Ähnlich gelten Arbeitszeiten von mehr als 50 Stunden pro Woche als gesundheitsgefährdend, vor allem aufgrund der Einschränkung notwendiger Entspannungs- und Erholungsbedürfnisse des Organismus.

STRESS IST, WENN ….._ Wie aber kann man die Gesundheitsbelastung einer Tätigkeit messen? Gibt es allgemeine Kriterien, die sich zur Beurteilung der unterschiedlichen Arbeitsplätze eignen? Auf diese Frage gibt die moderne Arbeitsstressforschung eine Antwort: Sie bezeichnet - im Gegensatz zum alltagssprachlichen Verständnis von "Stress", das so viel wie Hektik oder Zeitdruck bedeutet - nur diejenigen Tätigkeiten als Stress auslösend - und damit als langfristig gesundheitsgefährdend -, welche mindestens zwei der folgenden drei Merkmale aufweisen:

Erstens: Die Anforderungen weichen von dem üblichen Maß ab. In der Regel handelt es sich um eine Überforderung oder eine Anforderung, deren Bewältigung die Beschäftigten wiederholt an ihre Leistungsgrenzen führt. Diese Überforderung kann sich auf die Menge oder auf die Schwierigkeit der zu leistenden Arbeit beziehen. Seltener kommt der umgekehrte Fall vor, dass anspruchslose Tätigkeiten hoch qualifizierte Personen stark unterfordern.

Zweitens: Solche herausfordernden Tätigkeiten sind dann Stress auslösend, wenn sie den Beschäftigten nur wenig Spielraum und Kontrolle zur eigenen Aufgabenerfüllung überlassen und ihnen kaum Gelegenheit bieten, eigene Fähigkeiten weiterzuentwickeln.

Drittens: Stresserfahrungen stellen sich im Arbeitsleben bei Tätigkeiten ein, die zwar erfolgreich bewältigt, aber nicht angemessen belohnt werden. Mit Belohnung ist dabei nicht nur Geld gemeint, sondern auch die beruflichen Aufstiegschancen, die Arbeitsplatzsicherheit und - nicht minder wichtig - die für gute Leistung erfahrene Anerkennung und Wertschätzung.

MITENTSCHEIDEN HÄLT GESUND_ In der internationalen Arbeitsstressforschung der letzten Jahre wurden vor allem zwei Modelle eingesetzt, die diese Merkmale berücksichtigen: das Anforderungs-Kontroll-Modell und das Modell beruflicher Gratifikationskrisen. Mit ihnen wird der Zusammenhang zwischen "schlechter", also stressauslösender Arbeit und Gesundheitsgefährdung anhand empirischer Studien in Betrieben untersucht.

Das erste Modell kombiniert die Tätigkeitsmerkmale "Höhe der quantitativen Anforderungen"und "Ausmaß des Kontrollspielraums". Demnach zeichnen sich kritische Arbeitsbelas-tungen durch ein Zusammenwirken von hohem Leistungsdruck und geringem Kontroll- und Entscheidungsspielraum aus. Typische Beispiele sind Akkordarbeit am Band, verschiedene un- und angelernte Berufe im produzierenden Gewerbe oder einfache Dienstleistungstätigkeiten, wie etwa im Call-Center oder Reinigungsgewerbe.

Das Modell beruflicher Gratifikationskrisen kombiniert die Stärke beruflicher Verausgabung mit den angemessenen, im Gegenzug gewährten Belohnungen. Kritische Arbeitsbelastungen treten gehäuft bei Tätigkeiten auf, bei denen hoher Verausgabung, die von den Beschäftigten erbracht wird, keine angemessenen Belohnungen entgegenstehen; in denen also der ausdrücklich oder stillschweigend vereinbarte Grundsatz des gerechten Tauschs zwischen Leistung und Belohnung verletzt wird.

Berufe mit einem erhöhten Risiko wiederkehrender Gratifikationskrisen umfassen unter anderem Branchen mit Niedriglohn oder unklaren Erschwerniszulagen, Tätigkeiten in Zeitarbeit oder anderen Formen prekärer Beschäftigung, jedoch auch höher qualifizierte Tätigkeiten wie personenbezogene Dienstleistungen - etwa Verkehrsberufe, Pflege- und Sozialberufe oder Lehrer. Bei der Messung der Verausgabung im Beruf wird in diesem Modell allerdings nicht allein die von außen definierte Anforderung berücksichtigt, sondern auch die Leistungsbereitschaft der arbeitenden Person, die vom so genannten Minimalisten bis zum sich aufopfernden Leistungsträger reichen kann.

Zusammenfassend sagen wir: Gute Arbeit, welche der Gesundheit der Beschäftigten zuträglich ist, zeichnet sich dadurch aus, dass erstens die Arbeitenden weder wiederkehrend über- noch unterfordert werden; dass sie zweitens zur Aufgabenerfüllung angemessene Gestaltungsmöglichkeiten besitzen und dabei eigene Fähigkeiten weiterentwickeln können; und drittens, dass den erbrachten Leistungen angemessene Belohnungen in Form von Bezahlung, beruflichem Fortkommen, Arbeitsplatzsicherheit sowie Anerkennung und Wertschätzung gegenüberstehen.

ZWEI DRITTEL UNTER TERMINDRUCK_ Als Arbeitnehmervertreter möchte man wissen, wie groß die Zahl der von kritischen Arbeitsbelastungen betroffenen Beschäftigten in etwa ist und ob in absehbarer Zukunft mit einer Zu- oder Abnahme solcher Belastungen zu rechnen ist. Ferner ist es für die praktische Arbeit in den Betrieben von hoher Aktualität, gesicherte Kenntnisse zu den gesundheitlichen Folgen kritischer Arbeitsbelastungen zu besitzen, um konkret tätig zu werden.

Die Mehrzahl der vorliegenden Studienergebnisse zur Häufigkeit Stress auslösender Beschäftigungsverhältnisse beziffert diese in einem Streubereich zwischen zehn und 33 Prozent aller Beschäftigten. Die Schwankungen ergeben sich zum einen aus den unterschiedlichen Branchen, Beschäftigungsverhältnissen und soziodemografischen Merkmalen der untersuchten Belegschaften, zum andern aus einer mangelnden Übereinstimmung bei der Festlegung von Grenzwerten für gesundheitsschädliche Arbeitsbelastungen.

Selbst wenn man die günstigste Zahl zugrunde legt, ist jeder zehnte Beschäftigte von kritischen Arbeitsbelastungen betroffen. Trenderhebungen zu Arbeitsbelastungen in der EU haben ergeben: Die Anzahl der Beschäftigten, die unter hohem Termindruck stehen, ist zwischen 1990 und 2000 von 49 auf 60 Prozent gestiegen und hat seitdem weiter zugenommen.

In Deutschland hat jeder dritte Beschäftigte in den vergangenen zwei Jahren im Betrieb Personalabbau und jeder sechste eine Auslagerung miterlebt. Und jeder Fünfte schätzt gegenwärtig seinen Arbeitsplatz als unsicher ein. Angesichts der Folgen von wirtschaftlicher Globalisierung und technischem Fortschritt lässt sich begründet vermuten, dass die in den Arbeitsstressmodellen definierten kritischen Arbeitsbelastungen weiter zunehmen werden.

STRESSREAKTIONEN FEHL AM PLATZ_ Welcher Zusammenhang besteht zwischen kritischen Arbeitsbelastungen und gesundheitlicher Gefährdung? Wiederkehrend am Arbeitsplatz erbrachte hohe Verausgabung in Kombination mit geringer Kontrolle und/oder geringer Belohnung löst bei den arbeitenden Personen nicht nur negative Gefühle von Ärger, Angst und Enttäuschung aus. Sie aktiviert vielmehr in ihrem Organismus zusätzlich so genannte Stressachsen. Dies hat aus biologischer Sicht den Zweck, den Organismus in Gefahrensituationen optimal auf Angriff oder Flucht vorzubereiten.

Im modernen Arbeitsleben sind solche Reaktionsweisen jedoch nicht zielführend. Daher staut sich die mobilisierte Energie im Organismus und führt langfristig, bei jahrlang immer wiederkehrenden Stressreaktionen, zu Schädigungen einzelner Organsysteme, die letztlich den Ausbruch einer körperlichen oder seelischen Krankheit begünstigen. Besonders überzeugend ist dieser Zusammenhang für Herz-Kreislauf-Krankheiten wie Bluthochdruck oder den akuten Herzinfarkt sowie für depressive Störungen nachgewiesen worden.

Die beiden Gesundheitsgefahren "koronare Herzkrankheiten" und "Depressionen" stellen vor allem in der Altersgruppe der 45- bis 64-jährigen Erwerbstätigen erhebliche Risiken dar, nicht nur für längere Arbeitsunfähigkeit, sondern auch für krankheitsbedingte Frühberentung und frühzeitigen Tod. Mindestens 15 Längsschnittstudien in Betrieben haben den Zusammenhang zwischen Arbeitsstress und Herzinfarktrisiko untersucht.

Als Ergebnis lässt sich festhalten: Das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden, ist bei Beschäftigten mit kritischen Arbeitsbelastungen im Vergleich zu Beschäftigten ohne kritische Arbeitsbelastungen annähernd verdoppelt. Dieser Unterschied lässt sich nicht darauf zurückführen, dass bei dieser Gruppe andere bekannte Risikofaktoren des Herzinfarkts, etwa Rauchen, Übergewicht oder erhöhte Cholesterinwerte, häufiger oder stärker ausgeprägt sind.

Ähnlich sieht der Zusammenhang mit depressiven Störungen aus, wenn die Ergebnisse aus neun Studien zusammengefasst werden. Gesundheitsgefährdende Arbeitsbelastungen sind nicht nur bei diesen beiden Krankheiten, sondern darüber hinaus auch bei Muskel-Skelett-Erkrankungen, bei Frühstadien des Altersdiabetes sowie bei Alkoholabhängigkeit nachgewiesen worden.

WAS BETRIEBSRÄTE TUN KÖNNEN_ Was folgt nun aus diesen neuen Erkenntnissen der Arbeitsstressforschung für die betriebliche Praxis? Erstens liegt es nahe, das Augenmerk auf diese kritischen Arbeitsbelastungen zu lenken und ihre Verbreitung in Betrieben zu dokumentieren. Welche Abteilungen oder Berufsgruppen sind besonders betroffen? Welche Rolle spielen Alter, Geschlecht oder betriebliche Stellung? Hierzu können beispielsweise anonymisierte Mitarbeiterbefragungen durchgeführt werden, deren Ergebnisse dann in betrieblichen Gesundheitszirkeln bewertet und diskutiert werden.

Daneben können konkrete Schritte zum Abbau von Belastungen entwickelt und in Betriebsvereinbarungen festgelegt werden. Um den Stress beim Anforderungs-Kontroll-Modell zu mindern, ist es angeraten, den Handlungsspielraum der Beschäftigten zu erweitern und zu dichte und hohe Anforderungsdichte zu verringern. Tätigkeiten sollten also von der einzelnen Person nicht nur bruchstückhaft, sondern möglichst vollständig erledigt werden können. Positiv sind auch Tätigkeiten mit abwechselnder Aufgabenfolge und hoher Flexibilität im Ablauf.

Auch verstärkte Teamarbeit kann den Handlungsspielraum erweitern, ebenso wie die Mitgestaltung von Arbeits- und Pausenzeiten. Maßnahmen, die sich am Modell beruflicher Gratifikationskrisen orientieren, zielen auf eine Verbesserung der Leistungs-Belohnungs-Relation ab. Bonuszahlungen und andere Formen der Gewinnbeteiligung, Honorierung von Betriebstreue, qualifikationsgerechte Aufstiegsmöglichkeiten und Verfahrensgerechtigkeit, schließlich die Zusicherung von Beschäftigungsgarantien insbesondere bei Älteren zählen ebenso dazu wie eine Stärkung nicht-monetärer Gratifikationen.

Zu Letzterem trägt beispielsweise ein verbessertes Führungsverhalten bei. Erst langsam setzt sich in den Entscheidungszentren der Unternehmen die Erkenntnis durch, dass Wertschätzung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in erheblichem Maß zur Wertschöpfung des Unternehmens beitragen kann, und dass Investitionen in "gute", also gesundheitsförderliche Arbeit längerfristig auch ökonomisch ertragreich sind.

TAUSCHGERECHTIGKEIT BEI DER ARBEIT_ Wer für gesundheitsförderliche Arbeitsbedingungen sorgen will, muss ein Ziel mit Nachdruck verfolgen: den grundlegenden Anspruch der Beschäftigten auf Tauschgerechtigkeit bei der Arbeit. Dies bedeutet, dass abhängig Beschäftigte - nach Maßgabe ihrer Leistungen und Einschränkungen - Anerkennung in Form angemessener Gegenleistungen finden - auch mit Blick auf das gesundheitliche Wohlergehen und die Weiterentwicklung von Fähigkeiten und beruflichem Erfolg. In Zeiten eines globalisierten Arbeitsmarktes, hoher Instabilität von Beschäftigungsverhältnissen und Unternehmungen und nicht zuletzt in Zeiten einer Dominanz neoliberaler Wirtschaftspolitik ist es besonders dringlich, auf diesen grundlegenden Aspekt hinzuweisen.

 

MEHR INFORMATIONEN

Johannes Siegrist/Nico Dragano: RENTE MIT 67 - PROBLEME UND HERAUSFORDERUNGEN
AUS -GESUNDHEITSWISSENSCHAFTLICHER SICHT. -Arbeitspapier 147 der Hans Böckler Stiftung. Düsseldorf 2007.

Bernhard Badura/Henner Schellschmidt/Christian Vetter(Hrsg.): FEHLZEITEN-REPORT 2005. ARBEITSPLATZUNSICHERHEIT UND GESUNDHEIT. Springer, Heidelberg 2006.

Johannes Siegrist/Nico Dragano: PSYCHOSOZIALE BELASTUNGEN UND ERKRANKUNGSRISIKEN IM -ERWERBSLEBEN: BEFUNDE AUS INTERNATIONALEN STUDIEN ZUM ANFORDERUNGS-KONTROLL-MODELL UND ZUM MODELL BERUFLICHER GRATIFIKATIONSKRISEN. Bundesgesundheitsblatt 2008 (im Erscheinen).

Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.): TOOLBOX. INSTRUMENTE ZUR ERFASSUNG PSYCHISCHER BELASTUNGEN. 2005. Quelle: www.baua.de/de/ Informationen-fuer-die-Praxis/Handlungshilfen-und-Praxisbeispiele/Toolbox/Toolbox.

Heinrich Geißler/Torsten Bökenheide/Holger Schlünkes/Brigitta Geißler-Gruber: FAKTOR ANERKENNUNG. -BETRIEBLICHE ERFAHRUNGEN MIT WERTSCHÄTZENDEN DIALOGEN. Campus, Frankfurt 2007.


 

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