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Magazin Mitbestimmung

: Wenn der Wert der Arbeit zerfällt...

Ausgabe 01+02/2006

Wir sind Zeugen einer radikalen Entwertung und eines jähen Statuszerfalls der Industriearbeit. Die Erosion dieses Milieus, wird die Gesellschaft der Bundesrepublik mehr verändern, als ihr lieb ist.


Von Berthold Vogel
Dr. Berthold Vogel ist Soziologe und forscht derzeit am Hamburger Institut für Sozialforschung über Prekarität der Arbeitswelt, soziale Ungleichheit und wohlfahrtsstaatlichen Wandel. berthold.vogel@his-online.de


Natürlich gibt es im Zeitalter der Deindustrialisierung durchaus noch Industriearbeiter (und nicht wenige!), aber deren Arbeitssituation und Lebensbedingungen sind im Eifer der Debatten um die "globale Wissensgesellschaft" immer mehr aus dem Blickfeld des öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses gerückt. Das intellektuelle Modeobjekt "Arbeiterklasse", das mit allerlei säkularen Heilserwartungen beladen wurde, hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts seine politische Sichtbarkeit, aber auch seine Attraktivität für die "denkende Klasse" verloren.

Industriearbeit - das scheint die Welt von gestern zu sein, von der heute weder manifeste Bedrohung noch frohe Kunde ausgeht. Die Arbeiterschaft entwickelte sich von der gefährlichen Klasse, die in Arbeitskämpfen ihre Präsenz zeigt und ihren gerechten Anteil am Reichtum der Gesellschaft einfordert, zur vergessenen Klasse im gesellschaftspolitischen Abseits. Sie hat vor dem Hintergrund von Arbeitsplatzabbau, arbeitsrechtlicher Entsicherung und imperativer Flexibilität ihren Schrecken als Bedrohung und Infragestellung der herrschenden Verhältnisse verloren.

Dieser soziale, materielle und auch symbolische Abstieg industrieller Beschäftigung bleibt nicht folgenlos. Er schafft neue Ungleichheiten, er höhlt die Integrationskraft des Wohlfahrtsstaates aus und er wirkt negativ auf das politische Klima. Diese Entwicklung geht zu Lasten einer demokratischen Betriebspolitik und einer humanen Gestaltung der Arbeitswelt. Und noch mehr: Am Ende dieses kollektiven Niedergangs der Industriearbeit steht für einen Gutteil der Arbeiterschaft das Leben im sozialen Niemandsland der Arbeitslosigkeit und der gelegentlichen Beschäftigung.

Unter dem Titel "Die verlorene Zukunft der Arbeiter" erschien 2004 auf Deutsch eine Studie der französischen Industriesoziologen Stéphane Beaud und Michel Pialoux. Sie erzählt eine Geschichte des sozialen Abstiegs, der betrieblichen Entrechtung und der Statusbedrohung. Es wird berichtet von Anerkennungsverlusten, vom Schwinden beruflicher Selbstsicherheit, aber auch von Schulkonflikten und der Entfremdung der Generationen. Im Mittelpunkt stehen Arbeiter in der Automobilindustrie, in der Kernbranche des modernen Kapitalismus.

Die Autoren zeigen eindrucksvoll, dass sich das Schicksal der Industriearbeiter keineswegs alleine in der Fabrikhalle und am Montageband entscheidet. Es geht um mehr: Familiäre Sackgassen und die Auflösung eines eigensinnigen und widerspenstigen Arbeiterethos tragen zu Gegenwartssorgen und Zukunftsängsten bei. Das Tor zum Niemandsland öffnet sich.

Hierzulande ist dieser Prozess in den krisengeschüttelten Industrieregionen des Ruhrgebiets, Mittelfrankens oder des Saarlands seit vielen Jahren zu besichtigen. Doch besonders weit wurde das Tor zum Niemandsland seit 1990 in Ostdeutschland aufgestoßen. Die radikale Entindustrialisierung der "Wendezeit" kam für die DDR-Industriearbeiterschaft einer kollektiven Zäsur bzw. einer manifesten Entwertung ihres beruflichen und sozialen Status gleich.

Zwar erfasste die "Wende" alle sozialen Milieus, aber die echten Verlierer des gesellschaftlichen Umbruchs waren zweifelsohne die etablierten Industriearbeiter - als soziale Klasse. Die selbstbewusste Formel "Ich bin Arbeiter, wer ist mehr?" aus den letzten Tagen der DDR klingt im Rückblick auf die Wendejahre geradezu wie ein höhnischer Nachruf. Je nach Region und Wirtschaftsbranche schrumpfte die Industriebeschäftigung in den neuen Bundesländern auf ein Drittel bis ein Zehntel des Ausgangsniveaus von 1990.

Eine Folge dieser radikalen Entindustrialisierung war die Herausbildung einer sozialen Schicht der Dauerarbeitslosen, eine andere die Existenz eines Arbeitsmarktes prekärer Gelegenheiten. Die rasche Expansion eines solchen sozialen Niemandslandes der Arbeitslosigkeit und der Prekarität wurde zu einem zentralen Strukturmerkmal der Gesellschaft Ostdeutschlands. Dieser Zustand prägt bis heute grundlegend das gesellschaftliche Klima zwischen Görlitz und Kap Arkona. Daran ändern auch das enorm gestiegene Konsumniveau, die rapide verbesserte Infrastruktur und die neuen industriellen Leuchttürme des Ostens wenig.

Zwei Wege führen aus der Welt der Industriearbeit in das Niemandsland der Arbeitslosigkeit und der gelegentlichen Jobs. Der erste gleicht einem jähen Sturz. Betriebliche Krisen oder Liquidationen führen zum Verlust des Arbeitsplatzes und beenden abrupt Erwerbskarrieren. Verschärfend kommt für diese Menschen hinzu, dass auch die staatlichen Instanzen der Arbeitsvermittlung und der beruflichen Weiterbildung keine neue Perspektive mehr anbieten. Einmal arbeitslos, sind sie zur Kostenstelle der Sozialverwaltung geworden. Aus dem Blickwinkel der Unternehmen sind sie überflüssige und überzählige Arbeitskräfte, an denen kein Bedarf mehr in den hochtechnologischen Welten moderner Industriearbeit besteht.

Der zweite Weg schlängelt sich gleichsam durch die Arbeitsmärkte und die Zonen fragiler Beschäftigungsverhältnisse. Dieser Weg gleicht einem allmählichen Verdrängtwerden aus dem Zentrum des Arbeitslebens - ein Abstieg, der aber auch Phasen beruhigenden Stillstands und neuer Hoffnungen kennt. Exemplarisch lassen sich diese verschlungenen Pfade in der ostdeutschen Nachwendegesellschaft nachzeichnen. Hier treffen wir Arbeitergruppen, die sich zunächst in der Erwerbsarbeit stabilisieren konnten. Unter ihnen erkennen wir Beschäftigte, die auf Lohn, Freizeit oder reguläre betriebliche Sozialleistungen verzichten und sich auf diese Weise der betrieblichen Neustrukturierung unterwerfen.

Wir sehen aber auch zahlreiche Arbeitskräfte, die im ständigen Wechsel zwischen Leiharbeit, Befristung und staatlicher Arbeitsbeschaffung ihren Verbleib am Arbeitsmarkt erkämpfen, und den veränderten Konditionen einer flexiblen Arbeitswelt nachgeben. In all diesen Fällen weit reichender Konzessionsbereitschaft haben wir es mit einer Manifestation des symbolischen Abstiegs einstmals stolzer und selbstbewusster industrieller Facharbeit zu tun. Doch für viele sind Flexibilität und Konzessionsbereitschaft vergeblich. Je anpassungsfähiger sie sich zeigen, umso mehr rutschen sie in das arbeitsgesellschaftliche Aus.

Zur symbolischen Deklassierung tritt in diesen Fällen die sozialökonomische hinzu. Vor allem die qualifizierten und fachlich erfahrenen Arbeiter, die mit großem beruflichem Stolz und einem ausgesprochenen Arbeiterethos ihre Erwerbskarriere absolvierten, sind häufig diese Pfade des verzögerten Abstiegs gegangen. Viele von ihnen mussten erleben, dass sich die Belegschaft ihres Betriebes Jahr um Jahr verkleinerte, und waren immer mit der bangen Frage konfrontiert: Wen trifft die nächste Welle des Personalabbaus? Da sie über viele Jahre immer wieder "davonkamen", hatten sie die Hoffnung, letztlich zu den Überlebenden des betrieblichen Wandels zu zählen. Doch diese Hoffnung war allzu oft trügerisch.

Die Bewohner des sozialen Niemandslandes sehen sich mit Erfahrungen des Ausgeliefertseins, der Einsamkeit und der Ortlosigkeit konfrontiert. Ihr Platz in der Gesellschaft ist infolge des Verlustes betrieblicher Bindungen und der aktuellen beruflichen Perspektivlosigkeit verloren gegangen. Die Gelegenheitsarbeiten, die häufig letzte Berührungspunkte mit der Arbeitswelt sind, verstärken dieses Gefühl eher noch. Sie sind Arbeiter ohne Arbeiterklasse, ohne deren betriebliche und soziale Bindungen.

Damit eng verknüpft ist die Erfahrung sozialer Einsamkeit, was nicht gleichbedeutend ist mit sozialer Isolation. Viele leben nicht alleine und pflegen durchaus vielfältige familiäre Kontakte, aber sie fühlen sich dennoch verlassen. Gerade in Ostdeutschland löst sich das verbindende Band zwischen den Generationen und innerhalb der Familien. Während die Elterngeneration in den Sackgassen des brachliegenden regionalen Arbeitsmarktes gelandet ist, verlassen die Kinder und Schwiegerkinder auf der Suche nach beruflichen Perspektiven die Heimat-Region. Die wirtschaftliche Krise der Deindustrialisierung ist mithin auch eine gesellschaftliche Krise der Generationen und der Familie.

Zur Furcht, materiell nicht mehr mithalten zu können und festgelegt zu sein auf ein Umfeld, dem jeder, der sich dazu imstande sieht, zu entkommen sucht, tritt schließlich die schmerzliche Gewissheit, die Gewalt über das eigene Schicksal verloren zu haben. Hier zählen weder die Erfahrungen und Ressourcen der Vergangenheit, noch bestehen Aussichten auf eine bessere Zukunft.

Ob im Westen oder Osten: Gerade für Industriearbeiter ist die Erwerbsarbeit selbst auf dramatische Weise aussichtslos geworden. Die Perspektive, erst einmal eine Arbeit anzunehmen, wie prekär sie auch immer sein mag, und sich dann hochzuarbeiten und eine bessere Position zu erkämpfen, verliert in der neuen Arbeitswelt der Ein-Euro-Jobber und der Leihkräfte immer mehr ihre Grundlagen.

Die mit Erwerbstätigkeit verknüpfte wirtschaftliche und soziale Aufstiegsdynamik hat sich in diesen Sektoren des Arbeitslebens weitgehend erschöpft. Das Niemandsland entfaltet mithin seine eigene Sogwirkung. Die Flucht der jungen Generation aus Mecklenburg oder Sachsen ist nicht zuletzt auch eine Reaktion auf dieses depressive Klima. Es sind keineswegs nur die objektiv schlechten Chancen, also etwa die fehlenden Ausbildungsplätze oder die wenig erfreulichen beruflichen Aussichten, die die jungen Leute von Ost nach West treiben - denn in einigen Regionen Ostdeutschlands herrscht mittlerweile ein eklatanter Mangel an jungen und qualifizierten Arbeitskräften.

Alles in allem zeigt sich: Das soziale Niemandsland der Arbeitslosigkeit und der Gelegenheitsarbeit ist nicht einfach nur ein Randgruppenproblem, das fürsorglich zu betreuen und zu kontrollieren wäre. Der Niedergang der Industriearbeit hat die Mitte der Gesellschaft längst erreicht. Diese Entwicklung bekommen immer häufiger auch die beruffachlich qualifizierten Arbeitskräfte zu spüren, diejenigen, die früher einmal "Arbeiteraristokratie" genannt wurden: die Facharbeiter der Automobilindustrie, des Maschinenbaus oder der chemischen Produktion.

Das Gefühl, verwundbar zu sein, breitet sich in der Arbeiterschaft aus. Auch die, die noch einigermaßen sicher sind, müssen sich die bange Frage stellen: Wie lange noch? Es gibt keine klare Trennlinie mehr zwischen den Arbeitern, die auf der schlechten und unsicheren Seite stehen, und den anderen, die sich mit guten Gründen zuverlässig vor sozialen Schicksalsschlägen geschützt fühlen können.

Auf diese Weise verschwindet allmählich ein ebenso zentrales wie integratives Milieu der europäischen Nachkriegsgesellschaften. Die Bedeutung der organisierten Industriearbeit - ihrer Gewerkschaften, politischen Parteien und sozialen Einrichtungen - für den Zusammenhalt und die Stabilität eines demokratischen, rechtsstaatlich begründeten Wohlfahrtskapitalismus ist gar nicht zu überschätzen.

Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die Erosion dieses spezifischen Milieus, das bestimmte Berufe und Lebensformen, Aufstiegsmöglichkeiten, Gleichheitspostulate und Gerechtigkeitsvorstellungen ausgeprägt hat, die Gesellschaft der Bundesrepublik mehr verändern wird, als sie es bis heute wahrhaben möchte. Denn der Abstieg der Industriearbeit geht einher mit dem Aufstieg der Wissensarbeiter und der Arbeitskraftunternehmer.

Damit setzt sich auch ein neues gesellschaftspolitisches Ordnungsmodell durch. In ihm gelten andere arbeits- und sozialrechtliche Regularien, etablieren sich andere Kriterien einer gelungenen beruflichen Laufbahn, und das Prinzip kollektiver Sicherung wird durch die Norm individueller Selbstbehauptung abgelöst. Mehr und mehr hält das Recht des Stärkeren in der Arbeitswelt wieder Einzug. Der Preis für den Statuszerfall und die Abwertung der Industriearbeit bemisst sich folglich nicht nur in den fiskalischen Kosten für die Transferleistungen in das soziale Niemandsland der Arbeitslosigkeit und Prekarität. Die Qualität des Sozialen steht auf dem Spiel.

 


Die Studie
von Stéphane Beaud, Michel Pialoux, "Retour sur la condition ouvrière", erschien im Jahr 1999 bei Fayard, 468 Seiten. Befragt und untersucht wurden Arbeiter in den Peugeot-Fabriken in Sochaux-Montbéliard.

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