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Magazin Mitbestimmung

: Warum wir ein neues Finanzsystem brauchen

Ausgabe 12/2011

ANALYSE Finanzmarktkrisen häufen und verschärfen sich. Arbeitnehmer und Steuerzahler tragen die Folgekosten. Ein wissenschaftlicher Blick auf die Krisenursachen und wie man ihnen den Giftzahn ziehen könnte. Von Helge Peukert

HELGE PEUKERT ist Professor für Finanzwissenschaft und Finanzsoziologie an der Universität Erfurt und Autor des Buches „Die große Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise“

Zwischen dem Verkauf von Äpfeln und der Vergabe von Krediten besteht ein großer Unterschied: Wenn der Käufer der Äpfel diese verfaulen lässt, braucht dies den Verkäufer nicht zu beunruhigen. Werden aber einige Kredite faul und werden nicht zurückgezahlt, kann dies den Kreditgeber – und durch die hohe Verflochtenheit das ganze Finanz- und Wirtschaftssystem – mit in den Abgrund ziehen.Der Finanzsektor ist systemisch, denn Teile oder einzelne große Institute, die man auch wegen ihrer Größe nicht fallen lassen kann (too big to fail), können das gesamte Wirtschaftssystem gefährden. Hinzu kommt: Steigen die Preise der Äpfel, so werden mehr Äpfel geerntet und weniger nachgefragt. Steigen aber Aktienkurse, so wird die Menge der angebotenen Aktien nicht erhöht, und sehr häufig steigt die Nachfrage nach den teureren Aktien in der Hoffnung auf weiter steigende Preise. Finanzmärkte sind daher in der Regel prozyklisch. Da auf Finanzmärkten Erwartungen über zukünftige Ereignisse – wie die Preisentwicklung von Währungen, Aktien oder Staatsanleihen – eine hervorragende Rolle spielen, die in dynamischen Märkten prinzipiell nicht vorhersehbar sind, schaut man verstärkt auf das Urteil anderer Akteure. Das führt zu Herdenverhalten und mangels Transparenz zu plötzlichen, abrupten Vertrauensverlusten in die Zahlungsfähigkeit einer Bank, und die Stimmung schwankt zwischen manisch und depressiv. Das war in den letzten drei Jahren bei der Beurteilung der europäischen Staatsanleihen der Fall.

Weitere Besonderheiten des Finanzsektors seien erwähnt: Es gibt keine wirklichen Innovationen bei Finanzprodukten. Höhere Gewinne können daher vor allem durch die Kreierung zunehmend komplexerer und undurchschaubarer Produkte realisiert werden. Um den Gewinn zu erhöhen, verfügen Finanzinstitute zudem sehr oft nur über eine ausgesprochen niedrige Eigenkapitalbasis als Stoßdämpfer. Durch einen hohen Fremdkapitalanteil lassen sich die Investitionen „hebeln“ (Leverage), was sehr hohe Gewinne oder aber auch Verluste verursachen kann, für die man aber mit wenig eigenem Kapital haftet, wenn es schiefgeht. Dies macht die Akteure wagemutig – mit den entsprechenden emotionalen Begleiterscheinungen wie Gier oder Angst, die rationale Reaktionen nicht eben fördern. Wer durch risikofreudiges Agieren in einem Jahr ein Fixgehalt plus Bonus verdienen kann, für das ein normaler Arbeitnehmer sein ganzes Leben lang arbeiten muss, der geht adrenalingesteuert ins nächste Risiko, zumal er normalerweise im schlimmsten Fall entlassen wird und mit hoher Wahrscheinlichkeit anderswo wieder eingestellt wird. Zur (Selbst-)Beruhigung wenden die Investmentbanken Risikomodelle an, die Ereignisse wie die Finanz- und Staatsschuldenkrise ausschließen, da sie Daten aus der Vergangenheit benutzen, wie die des amerikanischen Wohnungsmarktes, dessen Preise seit den 1980er Jahren stets nach oben wiesen, und man unterstellte, dass dies stets so weitergehen werde. Da fast alle Akteure für eine gewisse Zeit in Boomphasen vom Anstieg des Handels und der Schaffung neuer Finanzprodukte profitieren können, haben bestimmte Bereiche der Finanzmärkte bisher unbekannte Dimensionen erreicht. So liegt der Umsatz der Finanzmärkte heute um das fast 60-Fache über dem weltweiten BIP.

Die Größe des Finanzsektors ist insofern erstaunlich, als er ja eigentlich eine dienende Rolle für die Realwirtschaft spielen und Banken als Institutionen fungieren sollen, die die Überschüsse der einen (Sparer) den anderen (Investoren) als Vermittler unter verantwortungsvoller Entscheidung zur Verfügung stellen. Doch wissen vor allem viele mittelständische Unternehmen aus eigener Erfahrung, dass Banken oft mehr mit spekulativen Derivatgeschäften, mit Wetten auf die Preisentwicklung von Aktien oder Devisen unterwegs sind.

Aus diesen Überlegungen lassen sich einige Schlussfolgerungen ziehen. Zunächst muss die Regulierung den Finanzinstituten auf Augenhöhe begegnen – sie hätte demokratisch und auf internationaler Ebene zu erfolgen. Hiervon kann zurzeit keine Rede sein, weder die G20 noch der Baseler Ausschuss oder das Financial Stability Board sind demokratisch legitimiert oder Ausdruck einer abgestimmten Politarchitektur. Auf europäischer Ebene bestehen gleich drei Aufsichtsbehörden – für Banken (EBA), Versicherungen (EIOPA) und Wertpapiere (ESMA) –, die keiner öffentlichen Kontrolle unterliegen und zudem über keine ausreichenden Mittel und Durchgriffsrechte verfügen.

In einer Marktwirtschaft dürfen einzelne Unternehmen nicht so groß sein, dass sie hierdurch quasi-monopolistische Wettbewerbsvorteile oder ein Drohpotenzial gegenüber der Politik besitzen. Hieraus folgt eine Größenbegrenzung der Finanzinstitute auf europäischer oder globaler Ebene, etwa in Höhe von 100 Milliarden Euro Bilanzsumme, ab der keine Leistungsvorteile durch Größe mehr zu erwarten sind. Zum Vergleich: Die Deutsche Bank liegt bei einer Bilanzsumme über zwei Billionen Euro.

Des Weiteren ist für sehr viel mehr Eigenkapital zu sorgen. Durch die Risikogewichtungen dank des bisherigen Regulierungspakets Basel II können sich die Banken gesundrechnen, da zum Beispiel für europäische Staatsanleihen überhaupt kein Eigenkapital zu hinterlegen ist und für Interbankenkredite statt der sonst üblichen acht Prozent eine 1,6-prozentige Gewichtung gilt. Ohne Unterschied 30 Prozent Eigenkapital für alle Kredite ohne Gewichtungen dürfte ausreichen, damit Finanzinstitute auch echte Krisen selbst abfedern können. Einzubeziehen wären hier auch Hedgefonds und Investmentfonds, da sie bei den Banken Kredite aufnehmen und so mit ihnen verflochten sind. Die ständige Überwälzung der Krisenkosten auf den Steuerzahler ist auch durch die Vermischung des Geschäfts- und des Investmentbankenbereichs bedingt, da die Universalbanken immer damit drohen können, dass ohne ihre Rettung der allgemeine Zahlungsverkehr und das Einlagen- und Kreditgeschäft zusammenbrechen. Daher sollte eine auch institutionelle Trennung zwischen Geschäfts- und Investmentbanken erfolgen: Girokonten dürfen nur bei reinen Geschäftsbanken gehalten werden, die keine Kredite an Investment- und Schattenbanken (Hedgefonds) geben dürfen. Zur Schrumpfung des spekulativ aufgeblähten Finanzsektors kann auch eine Finanztransaktionssteuer dämpfend wirken. Ob die von der EU vorgesehene Besteuerung von Derivaten mit 0,01 Prozent ausreicht und ob die Einführung nur in einer Kern-Eurozone ohne Großbritannien ausreicht, wird sich zeigen. Durchgreifende Wirkung hätte eine Gewinnbesteuerung in Abhängigkeit von der Haltedauer: unter einer Stunde zum Beispiel 100 Prozent oder unter einer Woche 80 Prozent.

Nicht über eine Börse laufende Geschäfte – sogenannte Over-the-Counter-(OTC)-Geschäfte – wären aus Gründen der Transparenz ebenso prinzipiell zu untersagen wie Leerverkäufe und Kreditausfallversicherungen, englisch: credit default swaps (CDS), unabhängig davon, ob sie gedeckt oder ungedeckt sind. Gedeckt bedeutet, dass man sich beispielsweise eine Aktie ausleiht, sie dann sofort verkauft und vor dem vereinbarten Rückgabezeitpunkt am Markt neu kauft in der Hoffnung, dass die Aktie inzwischen billiger wurde. Ein Verbot ist nötig, weil mit Leerverkäufen und CDS Märkte manipuliert werden können, was sich deutlich in der momentanen Staatsschuldenkrise zeigt. Das ungesunde Volumen der Derivate, die oft zu höheren Schwankungen der Preise führen und destabilisierend wirken, könnte durch höhere Hinterlegungspflichten begrenzt werden: Für ein Währungsderivat müssten nicht mehr nur fünf Prozent des Nennwertes hinterlegt werden, sondern zum Beispiel 25 Prozent. Wetten auf die Kursentwicklung von Staatsanleihen, die zurzeit die Eurozone unter Druck setzen, würden somit für institutionelle Investoren so unattraktiv, dass sich die ganzen Fragen nach der Staatsverschuldung nicht mehr stellen würden.

„Wenn man faule und gesunde Äpfel in eine Kiste legt, kann man die Uhr danach stellen, bis alle Äpfel faul sind“, schrieb Anfang Dezember ein Leserbriefschreiber im „Spiegel“. „Dies gilt für die Gemeinschaftswährung, Eurobonds und andere Rettungsmaßnahmen.“ Manchmal ist der Unterschied zwischen Äpfeln und Krediten eben doch nicht so groß.

Mehr Informationen

Helge Peukert: Die große Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise. Marburg, Metropolis-Verlag, Oktober 2011

Sony Kapoor: Die Finanzkrise – Ursachen & Lösungen. Düsseldorf 2011.
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