Quelle: Alexander Paul Englert
Magazin MitbestimmungDie Fragen stellten MARGARETE HASEL und JOACHIM F. TORNAU.: Unsere Bildungsreise mit der Kommission "Arbeit der Zukunft"
Interview Zwei Jahre lang haben der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann und die Soziologie-Professorin Kerstin Jürgens die Expertenkommission „Arbeit der Zukunft“ geleitet. Ein Gespräch über Debatten, Ergebnisse und Aha-Effekte.
Die Fragen stellten MARGARETE HASEL und JOACHIM F. TORNAU.
Frau Jürgens, Sie haben einmal den schönen Satz gesagt: „Im Denken von Zukunft passiert etwas mit uns: Es strukturiert Vergangenheit und Gegenwart neu.“ Was bedeutet das für das Nachdenken über die Arbeit der Zukunft?
Jürgens: Als wir mit der Kommissionsarbeit begannen, standen viele Schreckensszenarien im Raum: Durch die Digitalisierung würden Arbeitsplätze in großer Zahl verloren gehen, Menschen durch Roboter und Algorithmen ersetzt. Das ist nicht völlig falsch, aber Anpassung und Krisenvermeidung sind nicht die einzige mögliche Antwort und die Zukunft ist offen. Wir haben deshalb erst einmal – ausgehend von empirischen Daten – die gegenwärtige Ausgangslage analysiert. Auf dieser Basis haben wir dann überlegt, wie die zukünftige Arbeitswelt gestaltet werden kann. Nicht was irgendwann vielleicht passieren könnte, war unser Thema, sondern was hier und heute getan werden muss.
Hoffmann: Für uns war das ein Selbstvergewisserungsprozess: Woher kommen wir? Wo stehen wir? Die Bereitschaft, sich aus einer solchen Positionsbestimmung heraus auf Neues einzulassen, ist bei den Gewerkschaften in den vergangenen Jahren gewachsen.
Die 32 Mitglieder der Kommission kamen nicht nur aus den Gewerkschaften, sondern auch aus der Wissenschaft, aus Vorständen und Betriebsräten großer Unternehmen, aus Ministerien, aus der Kreativwirtschaft und aus neuen Medien. Wie funktioniert die Zusammenarbeit in einer solch heterogenen Gruppe?
Hoffmann: Als Gewerkschaften sind wir es ja durchaus gewohnt, mit der Wissenschaft in Diskurs zu treten oder mit Arbeitgebern oder mit der Politik. Das Besondere war, dass wir uns in dieser Heterogenität zwei Jahre lang kontinuierlich und gemeinsam an den Themen abgearbeitet haben. Auf einer solchen Bildungsreise lernt man sich besser kennen und verstehen. Sich auf die unterschiedlichen Disziplinen, Hintergründe und auch politischen Überzeugungen einzulassen, habe ich als äußerst konstruktiv empfunden. Auch für die Debattenkultur war es gut, nicht nur im Kreis derjenigen zu bleiben, die sowieso schon überzeugt sind.
Die Punkte, bei denen Sie sich nicht auf eine gemeinsame Position verständigen konnten, wurden im Abschlussbericht nicht schamhaft verschwiegen, sondern als Debattenbeiträge aufgenommen. Da geht es zum Beispiel um die Idee eines Startguthabens für das Erwachsenenleben oder um die Mitarbeiterkapitalbeteiligung.
Jürgens: In der Kommission haben sich genau die Konfliktlinien gespiegelt, die sich in der Arbeitswelt und auch in der ganzen Gesellschaft zeigen. Hier die Grenzen zwischen Positionen auszuloten, die Nuancen wahrzunehmen, war eine echte Herausforderung, aber auch ein gemeinsamer Lernprozess. Man ging bereichert aus den Sitzungen, weil man durch die Position und die Ideen der anderen den eigenen Standpunkt überdenken musste. Obwohl wir alle Expertinnen und Experten für das Thema Arbeit sind, gab es für uns alle immer wieder Überraschungsmomente.
Hatten auch Sie persönlich Überraschungsmomente?
Hoffmann: Die These von der disruptiven Entwicklung, also von der vollständigen Verdrängung bisheriger Produktionsweisen im Zuge der Digitalisierung, war mir immer viel zu reißerisch, zu skandalträchtig. Und ich bin auch nach wie vor überzeugt, dass da nichts zusammenbricht. Doch die Halbwertzeit von technologischen Innovationen wird immer kürzer, es findet eine rasante Beschleunigung statt. Dabei kann es in bestimmten Bereichen sicherlich auch so etwas wie Disruptionen geben. Das habe ich aus der Arbeit der Kommission mitgenommen, darüber lohnt es sich, weiter nachzudenken.
Jürgens: Für die wissenschaftliche Seite in der Kommission war es der größte Aha-Effekt, dass die Gewerkschaften nicht mit einer festgelegten Agenda in die Kommission gekommen sind, sondern einfach neugierig waren auf die Ideen der Wissenschaft. Am Ende sind wir gemeinsam zu Positionen gekommen, die im Nachhinein wie gewerkschaftsnahe Positionen aussehen mögen, aber vor allem von der Wissenschaft eingefordert wurden. Dazu gehört zum Beispiel das klare Bekenntnis zu Mitbestimmung und Tarifbindung, die als Garanten für eine nachhaltige Gestaltung der Arbeitswelt wirken. Das hat, glaube ich, in dieser Deutlichkeit die gewerkschaftliche Seite überrascht.
In der Kommission sind sehr unterschiedliche Systemlogiken aufeinander getroffen: Praktiker brauchen schnelle Antworten, um auf aktuelle Herausforderungen reagieren zu können, Wissenschaftler wollen lieber erst einmal intensiv forschen, bevor sie Vorschläge machen. Wie sind Sie damit umgegangen?
Jürgens: Einerseits ist das Tempo des technologischen Wandels so rasant, dass wir wirklich schnell Entscheidungen brauchen. Andererseits bringen Kurzschlussreaktionen überhaupt nichts, wir müssen uns also schon etwas Zeit zur Reflexion nehmen. Die Kommissionsarbeit bot allen Beteiligten Gelegenheit, sich mal jenseits des Alltagsgeschäfts Zeit zum Abwägen und zum Einlassen auf Ideen zu nehmen.
Hoffmann: Wie sich die Betriebsräte in die Kommissionsarbeit eingebracht haben, war bemerkenswert. Sie lieferten praktische Beispiele und Erfahrungen, die für die Wissenschaft häufig neu waren. Andersherum hatten sie aber nicht die Erwartung, einen Werkzeugkoffer für ihre betriebliche Praxis geliefert zu bekommen. Sie sind nicht mit einer Verwertungshaltung in die Kommission gegangen, sondern es war für alle ein diskursiver Lernprozess. Das hat mir gut gefallen.
Stärkung der Mitbestimmung, verbesserte Arbeitsbedingungen in der Bildung, Recht auf Homeoffice: Das sind nur einige der von der Kommission formulierten Denkanstöße, die bekannten gewerkschaftlichen Forderungen entsprechen. Haben Sie im Abschlussbericht auch Neuland betreten?
Hoffmann: Soziale Dienstleistungen und Bildung werden in den nächsten Jahren die größten Wachstumsbranchen sein. Doch obwohl sie einen bedeutenden Beitrag zu gesellschaftlichem Wohlstand und Lebensqualität leisten, werden sie vom bisherigen Produktivitätsbegriff nicht erfasst. Wir plädieren deshalb für ein neues Verständnis von Produktivität, um diesen Beitrag sichtbar zu machen und die Arbeit von Menschen an Menschen nicht nur tarifpolitisch, sondern auch gesellschaftlich aufzuwerten. Produktivität völlig neu und anders zu denken als in einem Chemie- oder Stahlunternehmen: Das ist einer der Bereiche, in dem die Kommission innovative Denkanstöße hervorgebracht hat.
Und das angesichts der Tatsache, dass auch zwei große Industriegewerkschaften in der Runde vertreten waren.
Hoffmann: Wir waren uns einig, dass eine branchenübergreifende Perspektive wichtig ist. Wir wollten uns weder auf Industriearbeit beschränken noch auf die Folgen der Digitalisierung. Mit den technologischen Veränderungen haben sich schon viele vor uns beschäftigt. Wir haben es aber auch mit weiteren gesellschaftlichen Veränderungen zu tun, die ähnlich gravierend sind: demografischer Wandel, zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen, neue Wünsche auch von Männern an die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, Migration. All das haben wir nicht ausgeblendet, sondern mit in den Blick genommen.
Die Veränderungen scheinen dort am dramatischsten zu sein, wo durch die Digitalisierung völlig neue Geschäftsmodelle entstanden sind – wie der Fahrdienst Uber oder die Plattformökonomie, die Arbeitsaufträge über das Internet an solo-selbstständige Clickworker vermittelt. Das sind Sektoren, in denen die Sozialpartner kaum vertreten sind.
Jürgens: Es wird gerne behauptet, dass Arbeit wegen des digitalen Wandels völlig neu gedacht werden müsse. Doch das stimmt so nicht ganz, denn der Kernkonflikt hat sich ja nicht verändert: Es geht immer noch darum, wie sich die unterschiedlichen Interessen von Arbeitgebern und Arbeitenden austarieren. Der technologische Fortschritt wird dazu führen, dass dieser Interessenkonflikt neu aufbricht. Da ist es die Herausforderung, den Beteiligten in Erinnerung zu rufen, dass es traditionsreiche Prinzipien der Arbeits- und Interessenregulierung gibt, die in beiderseitigem Interesse sind, aber für die man jetzt neue Formate finden muss.
Hoffmann: Clickworker erbringen im Minutentakt eine Dienstleistung, ohne dass wir bislang Einfluss auf die Arbeitsbedingungen haben. Da droht die Entstehung eines neuen digitalen Proletariats. Damit solche Geschäftsmodelle nicht länger durchs Raster fallen, brauchen wir eine neue Orientierung: Was ist ein Arbeitnehmer, was ist ein Arbeitgeber, was ist ein Betrieb? Und: Auch wer in solchen neuen Arbeitsformen tätig ist, muss in die sozialen Sicherungssysteme eingebunden werden. Die Kommission hält in diesem Zusammenhang ein Bestellerprinzip für digitale Arbeit für bedenkenswert: Wenn ein deutsches Unternehmen Dienstleistungen über eine Plattform bestellt, sollten die hiesigen rechtlichen Standards gelten – und nicht die des Landes, in dem der Plattformbetreiber sitzt.
Den Abschlussbericht der Kommission durchzieht eine optimistische Grundhaltung: Die Zukunft ist gestaltbar. Aber wie lässt sich den Menschen die Angst vor Veränderungen nehmen?
Hoffmann: Sicherheit ist das Entscheidende. Wir müssen den Menschen die Sicherheit geben, dass die Transformation gelingt, ohne dass sie langzeitarbeitslos werden, auf Hartz IV angewiesen sind, ihnen Altersarmut droht. Beispiel Weiterbildung: Für viele Menschen wirkt die Notwendigkeit lebensbegleitenden Lernens immer noch wie eine Drohkulisse. Sie sehen Qualifikation als Mühsal, die sie auf sich nehmen müssen, um in dem sich immer schneller drehenden Rad mithalten zu können. Wenn wir ihnen diese Angst nehmen, können wir auch ihre Neugier wecken.
Jürgens: Schon heute wissen viele Menschen nicht, wie sie die wachsenden Anforderungen, die im Alltag an sie gestellt werden, bewältigen sollen – neben Arbeit, Kindern, Pflege jetzt noch Weiterbildung und digitale Kompetenzen aneignen. Wenn die Digitalisierung dann auch noch als Rationalisierungsszenario auftritt, dann kann das den Einzelnen paralysieren – und damit auch eine Gesellschaft. Zumal viele Menschen den Eindruck haben, dass sie mit ihren Problemen bei den politischen Akteuren nicht sichtbar sind. Die Politik muss deshalb dafür sorgen, dass die gesellschaftliche Transformation nicht individualisiert abläuft, sie muss also gute Rahmenbedingungen für den Wandel bereitstellen.
Wo überall angesetzt werden könnte, zeigt der Abschlussbericht auf 250 Seiten, in 54 Denkanstößen und 18 Debattenbeiträgen. Wie geht es jetzt weiter? Es reicht ja nicht, das zwischen zwei Buchdeckel zu pressen.
Hoffmann: Wir werden die Debatte über die zukünftige Arbeitsqualität, sprich: über die Humanisierung der Arbeit in die verschiedenen Arenen hineintragen, in die Wissenschaft, in die Gewerkschaften, in die Politik. Wir werden weiterführende Forschungsfragestellungen herausdestillieren. Und wir werden den Dialog mit den Arbeitgebern suchen, denn manches lässt sich auch tarifvertraglich regeln. Aber ganz ohne gesetzliche Leitplanken wird es nicht gehen, das ist klar. In den nächsten Wochen und Monaten haben wir viel Arbeit vor uns, damit die Ergebnisse in der Debatte bleiben – und dann hoffentlich auch praktische Wirkung entfalten.
Könnten einzelne Themen auch im Bundestagswahlkampf eine Rolle spielen?
Hoffmann: Die Kommission hat herausgearbeitet, dass unter den veränderten Bedingungen auch die Beteiligungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten in der Arbeitswelt weiterentwickelt werden müssen. Wir erleben jedoch seit Jahren einen mitbestimmungspolitischen Stillstand. Dieses Thema hat vor den Bundestagswahlen als auch danach einen hohen Stellenwert für uns. Denn ich bin überzeugt: Da, wo die Menschen wirklich mitbestimmen können, wird die Transformation deutlich besser gelingen.
DIE KOMMISSION „ARBEIT DER ZUKUNFT“
Die Arbeit geht uns nicht aus, aber sie wird anders, damit verbunden sind gewaltige Gestaltungsaufgaben. Diese Grundüberzeugung teilten die 32 Expertinnen und Experten der von der Hans-Böckler-Stiftung initiierten Kommission „Arbeit der Zukunft“. Unter der Leitung des DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann und der Kasseler Arbeitssoziologin Kerstin Jürgens hat die hochkarätige Runde aus Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Wissenschaftsdisziplinen, aus der betrieblichen Praxis, aus Gewerkschaften und Politik über zwei Jahre die Zukunft vermessen. Auf einem großen Kongress mit mehr als 300 Teilnehmern wurde Ende Juni in Berlin der Abschlussbericht vorgestellt.
Darin unterbreitet die Kommission Denkanstöße für einen breiten gesellschaftlichen Diskurs darüber, wie der deutsche und europäische Innovationspfad in das digitale Zeitalter aussehen sollte und wie der Transformationsprozess in eine humane Arbeits- und Lebenswelt gestaltet werden kann. Explizit folgt die Kommission einem ganzheitlichen Ansatz, der den großen Veränderungstreiber Digitalisierung gekoppelt sieht mit weiteren Megatrends – als da wären die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen, neue Vereinbarkeitswünsche von Männern, der demografische Wandel, aber auch die Zuwanderung.
Weitere Informationen auf der Internetpräsenz der Kommission „Arbeit der Zukunft“ sowie im Abschlussbericht mit dem Titel „Arbeit transformieren“
„Sabbatical für alle“ und andere Revolutionen (Bericht im Handelsblatt)
Recht auf Homeoffice und Auszeiten (Bericht im Tagesspiegel)