Quelle: HBS
Magazin Mitbestimmung: Unmut der Ingenieure
HUMBOLDT WEDAG Ein Betriebsrat - allesamt Ingenieure und IG Metaller - mischt sich ein in die Unternehmenspolitik der Humboldt Wedag in Köln, damit die Geschäftsführung endlich ihren Job tut: führen, entscheiden, Forschung vorantreiben, Produkte entwickeln. Von Michaela Böhm
MICHAELA BÖHM Journalistin in Frankfurt/Main/Foto: Karsten Schöne
Das Blechschild hat irgendein Spaßvogel an die Säule seines Büros genagelt. "Regierungsbezirk Paul. Mein Wort ist hier Gesetz." Paul Paternoga, der Betriebsratsvorsitzende, sagt: "Auf so eine dämliche Idee würde ich erst mal nicht kommen." Grinst und lässt das Schild hängen. Ein von Arbeitnehmern gewählter Betriebsrat hat eben nicht das Sagen - auch wenn er die besseren Argumente hat und die Konstante in einem Unternehmen ist, in dem Eigentümer und Geschäftsführer ständig wechseln. Auch wenn das gesammelte Fachwissen der Belegschaft hinter ihm steht.
Hervorgegangen aus der traditionsreichen Klöckner-Humboldt-Deutz AG ist das Unternehmen über Abspaltungen und den Einstieg und Rückzug von Finanzinvestoren durchgeschüttelt und nun global aufgestellt: mit einer indischen Schwesterfirma und chinesischen Anteilseignern. Beim heutigen Ingenieurbetrieb, dem Zementanlagenbauer Humboldt Wedag in Köln-Holweide, gibt es keinen mitbestimmten Aufsichtsrat. Aber das hindert den neunköpfigen Betriebsrat - allesamt Ingenieure, allesamt IG-Metaller - nicht, sich weit über die Buchstaben des Betriebsverfassungsgesetzes hinaus einzumischen. "Wir machen in vielen Bereichen den Job der Geschäftsleitung", sagt Paul Paternoga. Warum? Weil nach Ansicht des Betriebsrats zu viel schiefläuft.
Etwa der "Dreisatz", wie die Betriebsräte verächtlich die Personalberechnung der Unternehmensführung nennen: Geht der Auftragseingang bei Humboldt Wedag um eine bestimmte Prozentzahl zurück, schrumpft die Belegschaft um den gleichen Wert. Sicher, es gibt derzeit genug zu tun, aber es sind die von der indischen Schwesterfirma generierten Aufträge, die abgearbeitet werden. Wenn heute Aufträge fehlen würden, wären morgen die Jobs weg. "Wir sind doch nicht in die Krise geraten, weil unsere Produkte schlecht waren oder unsere Leistungen", sagt Betriebsrätin Karin Kluthe. Sondern wegen der Finanzkrise und "weil eine Umstrukturierung ohne vernünftige Analyse unnötig, sinnlos und arbeitsbehindernd ist".
DER INGENIEURS-BETRIEBSRAT_ Im Herbst 2010 Jahres zieht Karin Kluthe durch sämtliche Abteilungen, fragt die rund 260 Beschäftigten, sammelt Kritik und Verbesserungsvorschläge und trägt die Ergebnisse auf einer Betriebsversammlung vor. Erstmals ist der geballte Unmut der Ingenieure aufs Papier gebracht. Das ist der Auftakt. Dem Ersten platzt der Kragen: "Wir sind ohne Führung und ohne Zielvorgaben." Der Nächste hakt ein. Wichtige Entwicklungsprojekte seien gnadenlos unterbesetzt. Und wieder einer: Auf jeder Betriebsversammlung präsentiere man der Belegschaft neue Geschäftsführer. Wo will die Firma hin? Sogar Abteilungsleiter kritisieren die Führungsschwäche und das ziellose Agieren. "Das war eine unserer lebendigsten Versammlungen", sagt Betriebsratsvorsitzender Paul Paternoga zufrieden.
Über 150 Jahre funktionierte das Konzept der Klöckner-Humboldt-Deutz: Ingenieure und Techniker planen und konstruieren, und die 107 Männer in der Werkstatt bauen die Anlagenteile zusammen. Auf einmal hieß es 2007, die Werkstatt solle verkauft werden. Den Betriebsrat hat das nicht überrascht. Die Mutterholding der Humboldt Wedag gehörte damals mehrheitlich dem kanadischen Finanzinvestor MFC Bancorp, und es war abzusehen, "dass man als reines Engineering-Unternehmen auftreten und über billige Fertigung, irgendwo in Fernost, zusätzlich Profit einfahren wollte", berichtet Paul Paternoga.
MITARBEITER ENTWERFEN ZUKUNFT_ Weil der Betriebsrat ahnte, was auf die Belegschaft zukommen könnte, hatten sich die Arbeitnehmervertreter - damals noch dominiert von den Facharbeitern aus der Werkstatt - auf einem IG-Metall-Seminar schlaugemacht, wie die Werkstatt noch besser arbeiten könnte, um für ihren Erhalt zu argumentieren. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen. Der Betriebsrat forderte vom Management eine Effizienzanalyse der Werkstatt, ansonsten werde man keine Überstunden mehr genehmigen, weder in den Büros noch in der Werkstatt. Das wirkte. Das Projekt unter dem Motto "Besser statt billiger" konnte starten.
Mit dem arbeitsorientierten Berater Kai Beutler, einst bei der Technischen Hochschule Aachen, den die Geschäftsführung akzeptierte, konnte die Projektgruppe loslegen: Betriebsrat, Berater und Geschäftsführer, aber auch die Facharbeiter aus der Fertigung, Ingenieure und Controller von Humboldt Wedag analysierten, debattierten mehrere Monate und entwarfen Zukunftskonzepte. Ihr Fazit: Die Werkstatt muss Teil des Unternehmens bleiben. Das sah die Geschäftsführung in Köln genauso.
Die schasst kurz darauf der Finanzinvestor: "Quasi über Nacht wurden vier von fünf Managern gefeuert", berichtet ein Ingenieur, der namentlich nicht genannt werden will. Der fünfte Geschäftsführer muss einige Monate später gehen. Die neue Geschäftsführung will mitten in der Finanzkrise die Werkstatt schließen. "Fahrlässig", sagt Betriebsratsvorsitzender Paternoga knapp. Denn es war keine andere Werkstatt auffindbar, die "unsere Produkte fertigen konnte". Die Finanzinvestoren-Eigentümer seien vom Virus der Standardisierung befallen gewesen, "wir betreiben aber kein Seriengeschäft", sagt Paternoga. Es sind in der Regel auf den Kunden zugeschnittene Zementanlagen, die Humboldt Wedag produziert und die den Kunden bis zu 300 Millionen Euro kosten. Maßgeschneidert und nur wenig standardisiert, weil man lokale klimatische Bedingungen ebenso berücksichtigen muss wie die Rohstoff-, Energie- und Brennstoffsituation. Aber was soll man erwarten von einem jungen Geschäftsführer, der lediglich Erfahrungen beim U-Bahn-Bau in China vorweisen konnte? "Der wusste, wo man Zement einsetzt, aber nicht, wie man ihn herstellt", sagt der Betriebsrat. Ein Jahr später war auch dieser Geschäftsführer wieder weg.
KAMPF GEGEN DIE WERKSTATTSCHLIESSUNG_ In der Finanzkrise brechen die Aufträge ein, 80 Ingenieure sollen entlassen, die Werkstatt dichtgemacht werden. "Die Jungs in der Werkstatt", wie Paternoga die kämpferische Gruppe nennt, treten in den Bummelstreik. Innerhalb von zwei Wochen drohen dem Unternehmen Strafen von einer Million Euro wegen Lieferverzugs. Parallel zu den Sozialtarif-Verhandlungen mit der Geschäftsführung kommt es erstmals zu einem Warnstreik, an der Spitze wieder "die Jungs in der Werkstatt", die ihre Arbeit niederlegen und vor der Firmenzentrale aufmarschieren, rein in den Empfang, Treppe hoch, rein in die Großraumbüros und die Ingenieure auffordern: "Auf geht's, raus mit euch!" - "Klar bin ich mitgegangen", sagt ein Ingenieur, "fast alle waren draußen." Da die Reporter und Medienvertreter warteten.
Blaumänner und weiße Kragen Seit' an Seit', so etwas klappt nicht von heute auf morgen. Aber es klappt, weil der Betriebsrat die Belegschaft insgesamt verkörpert. So wie Paul Paternoga, der anfangs Chemiefacharbeiter lernte und auf dem zweiten Bildungsweg ein Ingenieurstudium absolvierte. Der von sich sagt, dass er die Sprache der Arbeiter ebenso spricht wie die der Angestellten. Vor allem aber hat der Betriebsrat systematisch darauf hingearbeitet, die gegenseitigen Vorurteile abzubauen. "Wir sind ein Betrieb und können uns nur dann gegen den Eigner wehren, wenn wir uns nicht gegenseitig ausspielen lassen", argumentiert Paternoga. Schließlich braucht man für eine Zementanlage nicht nur den klugen Kopf des Ingenieurs, sondern auch das Wissen der Facharbeiter, die oft genug Verbesserungen vorschlagen.
Am Ende steht ein Erfolg und ein schmerzhafter Kompromiss: Die Werkstatt wird nicht geschlossen, aber gesellschaftsrechtlich abgespalten und an einen indischen Anlagenbauer verkauft - mit Bedingungen: Die gesamte Fertigung bleibt, keiner wird entlassen, der neue Arbeitgeber tritt in den Arbeitgeberverband und in die Tarifbindung ein. Noch heute ist die Werkstatt fast ausschließlicher Zulieferer für Humboldt Wedag, aber ein gemeinsamer Betrieb sind sie nicht mehr. Seit 2009 sind die Ingenieure auf sich allein gestellt. Ihr Betriebsrat ist "fachlich hochqualifiziert, hartnäckig und bei der Belegschaft anerkannt", wie Witich Roßmann, Bevollmächtigter der IG Metall in Köln, den Kollegen attestiert.
VIER VON ZEHN INGENIEUREN SIND IN DER IG METALL_ Heute ist dieser Betriebsrat ein Jahr im Amt. "Für die Belegschaft sind wir ,die von der Gewerkschaft'. Wir betonen immer wieder, dass ohne die IG Metall nichts geht", sagt Paternoga. Vier von zehn Ingenieuren der Humboldt Wedag sind Gewerkschaftsmitglieder. Für einen reinen Angestelltenbetrieb ein hoher Organisationsgrad. Wie ist das gelungen? Paternoga schaut einen kurzen Moment irritiert: "Na, ich spreche die Kollegen an, sage: Nächste Woche nehmen wir uns mal Zeit und reden über die Gewerkschaft, ich will, dass du Mitglied wirst." Dann macht er dem Gesprächspartner die Rechnung auf, was ein Ingenieur zu erwarten hätte in einem Betrieb ohne Tarifvertrag, ohne die IG Metall im Hintergrund. Ganz klassisch.
Dass das Unternehmen Humboldt Wedag seine Produktionseinheit, die Werkstatt, abgestoßen hat, hält der Betriebsrat nicht für den einzigen Fehler der Unternehmensführung. Es geht weiter: Seit Langem wird um- und restrukturiert, "offensichtlich weil man eine positive Börsennachricht brauchte", kommentiert Betriebsrätin Karin Kluthe. Verbunden mit Personalabbau: Entlassen wurde der Chef der Ersatzteilabteilung, gehen mussten zwei Vertriebschefs, noch mehr Abteilungsleiter, lauter professionell gute Leute. Leute, die auch mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg gehalten haben. Andere verlassen das Unternehmen freiwillig. Es sind so viele, dass manche Kunden bestürzt reagieren.
Finanzinvestoren sind eingestiegen, haben sich dann wieder fast ganz zurückgezogen, ein chinesischer Staatsbetrieb kauft 20 Prozent der Anteile - das traditionsreiche Unternehmen erlebt und erleidet ein zielloses Hin und Her: Eine Umweltabteilung wird aufgebaut und nach nur zwei Jahren wieder zugemacht. Einmal wird diversifiziert, kurz darauf konzentriert man sich wieder aufs Kerngeschäft. Das Marketing wird erst geschlossen, dann mühevoll neu aufgebaut.
Und die Forschung liegt brach, was den Ingenieuren große Sorgen macht. "Man kann sich doch nicht auf den Lorbeeren von gestern ausruhen, sondern muss die Produkte ständig weiterentwickeln, um wettbewerbsfähig zu bleiben", stellt ein Ingenieur fest, der froh ist, heute nicht mehr bei Humboldt Wedag zu arbeiten. Oft sei er kopfschüttelnd aus einem technischen Meeting rausgegangen, "auf der Leitungsebene fehlte das elementarste Know-how". Mal hieß es, dieses Projekt habe Priorität, zwei Wochen später ein anderes. Wenig war nachvollziehbar, "wir haben uns oft gefragt, auf welcher Grundlage hier eigentlich Entscheidungen gefällt werden", sagt der Ex-Mitarbeiter.
Aber der Betriebsrat stellt nicht nur Managemententscheidungen infrage. Der Betriebsrat, allesamt Ingenieure, sagt, wie es besser gehen kann, fachlich und unternehmerisch, und zwingt die Geschäftsführung dazu, sich damit auseinanderzusetzen. "Das muss sein." Betriebsrätin Karin Kluthe beobachtet mit Sorgen, wie sich durch Perspektivlosigkeit, Angst um den Job und Arbeitsbelastung einzelne Kollegen verändern. Gereizt, genervt, "die wissen oft nicht, wie sie die Arbeit bewältigen sollen." Einer starb mit 60 Jahren an einem Herzinfarkt, ein anderer, 45 Jahre, ist dank Erster Hilfe im Betrieb rechtzeitig gerettet worden. "Wir möchten unsere Arbeitskraft für ein gesundes Unternehmen einbringen und nicht für Unternehmer, die sich bereichern", sagt Kluthe.
Jetzt gibt es einen kleinen Lichtblick: Einer der mit dem Unternehmen vertrauten Ingenieure wurde zurückgeholt und zum Abteilungsleiter gemacht. Die Belegschaft hofft auf eine Wende: Und der Betriebsrat wird nicht nachlassen, Schwächen der Geschäftsführung zu analysieren, und wenn nötig die übergeordnete Holding einschalten.
DAS UNTERNEHMEN
Humboldt Wedag GmbH
Der Anlagenbau gehörte ursprünglich zur Klöckner-Humboldt-Deutz AG, kurz KHD. Nach Käufen, Verkäufen und Umbenennungen stieg 2002 der Investmentfonds Mercer Financial Corporation (MFC) Bancorp ein, wodurch die Firma zwischenzeitlich an der US-amerikanischen Börse gehandelt wurde. Jetzt ist sie wieder an der Deutschen Börse, nachdem der Anlagenbau in der Finanzkrise verselbstständigt wurde.
2006 wurde die Kohle-Abteilung abgespalten, 2009 die Fertigung verkauft. Der Ingenieurbetrieb Humboldt Wedag Köln ist heute 100-prozentige Tochter der KHD Humboldt Wedag GmbH, die wiederum Tochter der KHD Humboldt Wedag International AG ist.
Die AG ist zu 64 Prozent in Streubesitz, 20 Prozent gehören einem kürzlich eingestiegenen chinesischen Staatsbetrieb, knapp sechs Prozent der Aktien hält Peter Kellogg, dessen Nettovermögen von Forbes auf 2,6 Milliarden Dollar geschätzt wurde.