Quelle: Cordula Kropke
Magazin MitbestimmungSozialindex: Ungleiches ungleich behandeln
Bildungsforscher und Gewerkschaften fordern seit Langem, die Schulfinanzierung systematisch an einem Sozialindex zu orientieren. Doch erst wenige Bundesländer nutzen dieses Instrument für mehr Chancengerechtigkeit. Von Joachim F. Tornau
Yvonne Dannenberg könnte unglücklich sein, aber sie ist es nicht. Die Leiterin der Grundschule Vizelinstraße im Hamburger Stadtteil Lokstedt wird in den kommenden Jahren Personal an andere Schulen der Hansestadt abgeben müssen, sie wird wieder größere Klassen bilden und auf manche Sprach- oder Lernförderung verzichten müssen. „Es tut natürlich weh, wenn jetzt etwas wegfällt“, sagt sie. „Aber es geht darum, Mittel gerecht zu verteilen. Und diese Grundidee finde ich total richtig.“
Nicht nach dem Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben. Sondern: Wer braucht, der bekommt. Bereits seit mehr als 15 Jahren orientieren sich die Schulausgaben in Hamburg an dieser eigentlich ganz einfachen Idee. Um Gelder für zusätzliche Lehrerstellen, Ganztagsangebote oder Fördermaßnahmen nicht mit der berühmten Gießkanne zu verteilen, wird seit 2005 ein Schulsozialindex genutzt. Je nach der sozioökonomischen Lage ihrer Schülerschaft sind die 311 staatlichen Schulen der Stadt in sechs Stufen eingeteilt – von 1 (hoch belastet, großer Förderbedarf) bis 6 (privilegiert, kein besonderer Förderbedarf).
Bei der jüngsten Neuberechnung im vergangenen Jahr machte die Grundschule Vizelinstraße den größten Sprung: von Stufe 1 auf Stufe 4. Zu Recht, wie Schulleiterin Dannenberg findet. „Der Stadtteil verändert sich.“ Mehr Wohneigentum, weniger Sozialwohnungen. Und: Die verstärkten Bemühungen der Schule etwa um Inklusion hätten eine bildungsnähere Elternklientel angezogen. Die zusätzlichen Ressourcen, die das mit ermöglicht haben, würden deshalb künftig anderswo dringender benötigt. „Zu behaupten, dass alle Schulen die gleichen Probleme haben, wäre wirklich absurd“, meint die Pädagogin.
Ungleiches ungleich zu behandeln, um mehr Bildungsgerechtigkeit zu schaffen: Bildungsforscher und Gewerkschaften fordern das seit Langem. Doch ähnlich weit wie in Hamburg ist man damit nur in Bremen. Ansonsten weisen noch Berlin, Nordrhein-Westfalen und Hessen bestimmte Ressourcen nach Sozialindex zu. Baden-Württemberg und Sachsen wollen folgen. Das war’s. „Leider ist Hamburg nicht überall“, sagt Detlef Fickermann. Nirgends, erklärt der renommierte Hamburger Bildungsforscher, sei die Datengrundlage für den Sozialindex so gut wie in der Hansestadt. „Es wäre wünschenswert, wenn andere Länder das auch so machen würden.“
Gerade in den Flächenstaaten mangelt es an statistischen Informationen über die Zusammensetzung der Schülerschaft einer Schule. In Hessen etwa steht dazu lediglich der Anteil zugewanderter Schülerinnen und Schüler zur Verfügung. Alle weiteren Daten, die für den dortigen Sozialindex verwendet werden, beziehen sich auf die gesamte Stadt oder Gemeinde: Arbeitslosenquote, Hartz-IV-Quote, Anteil von Einfamilienhäusern. Das Kultusministerium in Wiesbaden nennt das Ergebnis dennoch „schulscharf“, Fickermann aber spricht von einem „Schein-Sozialindex“.
Zum Vergleich: Bei der Neuberechnung des Hamburger Indexes wurden acht Kriterien verwendet, von denen sich drei direkt auf die Schüler der jeweiligen Schule beziehen und fünf auf ihr konkretes Wohnquartier. Eigentlich sollte die Schulstatistik so etwas längst bundesweit ermöglichen. Doch die nötige Umstellung auf (anonymisierte) Individualdaten der Schülerinnen und Schüler, auf die sich die Kultusministerkonferenz schon vor fast 20 Jahren verständigte, ist bis heute in vielen Bundesländern nicht erfolgt.
Guter Ansatz – aber was folgt?
Doch auch wenn es eines Tages in allen Bundesländern „schulscharfe“ Sozialindizes gäbe, die diesen Namen tatsächlich verdienen, dann bliebe immer noch die Frage, was daraus folgt. „Ein Schulsozialindex ist ein sehr guter Ansatz“, sagt Anja Bensinger-Stolze, Vorstandsmitglied der Bildungsgewerkschaft GEW. „Aber in der Regel reichen die Gelder nicht, die auf diese Weise ausgebracht werden.“ Und das grundlegende Problem des Fachkräftemangels lasse sich damit schon gar nicht lösen. „Am Ende ist es immer eine politische Entscheidung“, sagt die Gewerkschafterin. „Und wir kriegen leider seit Jahren vorgeführt, dass Bildung nicht den Stellenwert in der Politik hat, den sie haben sollte.“
Die Verteilungsungerechtigkeit beginnt außerdem mittlerweile nicht erst auf der Ebene der Länder oder Kommunen. Seit dem Digitalpakt Schule kann auch der Bund Mittel für die Bildung vergeben. Und diese Gelder werden bislang nach dem Königsteiner Schlüssel ausgeschüttet, der wirtschaftlich starke Bundesländer massiv bevorzugt. „Das darf so nicht weitergehen“, sagt Bensinger-Stolze. In einem Gutachten für die GEW hat ein Team um Bildungsforscher Fickermann ein Alternativmodell entwickelt, das die Finanzkraft der Länder, die soziale Bedürftigkeit sowie den Bildungsstand der Menschen und die Bevölkerungsstruktur berücksichtigt.
Auf keinen Fall, fordert die Gewerkschaft, soll es noch einmal so kommen wie beim Digitalpakt. Da hat der Königsteiner Schlüssel dafür gesorgt, dass Schüler in Bayern mit durchschnittlich 910 Euro für digitale Endgeräte unterstützt werden können, während es in Nordrhein-Westfalen gerade einmal 228 Euro gibt. Da wäre sogar die Gießkanne fairer.
Sozialindex
Aufsteiger und Absteiger: 73 Grundschulen, Stadtteilschulen und Gymnasien wurde bei der Neuberechnung des Hamburger Sozialindexes 2021 ein höherer Belastungsgrad bescheinigt als zuvor. 62 Schulen verbesserten sich.
Was zählt? Kriterien des Hamburger Sozialindexes: Anteil der Schüler einer Schule mit nicht-deutscher Familiensprache, mit sonderpädagogischem Förderbedarf und mit Leistungsbezug nach dem Bildungs- und Teilhabepaket für Hartz-IV-Familien. Außerdem fließt ein, wie viele Kinder und Erwachsene in ihrem Wohnquartier von Hartz IV leben, wie viele Familien Hilfen zur Erziehung bekommen, wie viele Menschen Abitur haben und wie die jüngste Wahlbeteiligung ausfiel.