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Magazin Mitbestimmung

Industriepolitik: Umkämpfte Industrieprojekte

Ausgabe 10/2013

Überall im Land stemmen sich Protestgruppen gegen industrielle Großprojekte. Gewerkschaften und Betriebsräte sollen nun stärker an die Diskussionfront. Sie sind glaubwürdiger. Von Andreas Schulte

Die Gemeinde Haßleben in der Uckermark macht ihrem Namen in diesen Tagen alle Ehre. Im vollen Galopp geht die Initiative „Pro Vieh“ auf ihre Gegner von „Pro Schwein“ los. Das Ziel: die geplante Schweinemastanlage des Investors Harry van Gennip zu verhindern. 30 000 Vierbeiner will der Niederländer hier in der Uckermark mästen, um sie anschließend zu schlachten. „Pro Vieh“ und eine ganze Reihe anderer Organisationen befürchten wegen der gigantischen Güllemengen säuischen Gestank und eine verpestete Umwelt. „Pro Schwein“ indes wüsste die rund 30 neuen Arbeitsplätze gerne in dieser strukturschwachen Region. Schließlich war die Agrarindustrie schon zu DDR-Zeiten hier saustark.

Seit zehn Jahren tobt der tierische Streit der Widerborstigen nun schon. Ein Ende ist nicht in Sicht. Ende August dieses Jahres nun haben die Gegner 47 000 Unterschriften im Potsdamer Landtag abgegeben. Dabei ist die Anlage bereits seit Juni genehmigt. „Pro Vieh“ und Co. ist das wurscht: Man sei überzeugt, dass sich die Inbetriebnahme noch immer verhindern lasse, teilte die sammelnde „Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt“ mit. Juristische Schritte seien vorbereitet.

Die Zuversicht der Agrarindustrie-Gegner ist keine Eigenheit dieser Branche. Ob Widerstand gegen Innovationen aus der Chemie- und Pharmabranche, Demonstrationen gegen Kraftwerksbauten und Stromtrassen oder sogenannte „Wutbürger“, die gegen Infrastrukturprojekte auf die Barrikaden gehen: „Alle Zweige der Industrie stoßen zunehmend auf Widerstand“, sagt Reiner Hoffmann, Landesbezirksleiter der IG BCE Nordrhein. Und der hat weitreichende Folge: „Wenn die Umsetzung neuer industrieller Prozesse wegen Widerständen zu lange dauert, leidet die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen. Die Folge sind Arbeitsplatzverluste“, fürchtet auch IG-Metall-Vorstand Jürgen Kerner und verweist auf das verarbeitende Gewerbe, wo schon seit Längerem Jobs verloren gehen. Wie Industrie und Gewerkschaften diesem Prozess entgegensteuern können, war denn auch Thema einer Tagung der Hans-Böckler-Stiftung in Kooperation mit IG BCE und IG Metall Ende Juni in Hannover.

GLAUBWÜRDIGE MULTIPLIKATOREN

Vor allem den Gewerkschaften kommt beim Ringen um Akzeptanz eine besondere Rolle zu. Denn ihr Image ist besser als das der Unternehmen. Nach einer Umfrage der Meinungsforscher von Infratest haben 81 Prozent der Bevölkerung wenig bis gar kein Vertrauen in Großunternehmen. „Firmen wird oft unterstellt, zugunsten einer Gewinnsteigerung alle anderen Aspekte zu vernachlässigen“, sagt Kai vom Hoff, Inhaber einer Düsseldorfer PR-Agentur. „Mitarbeiter und Betriebsräte sind aber glaubwürdige Multiplikatoren.“ Zudem wächst die Beliebtheit der Gewerkschaften. Vor zehn Jahren hatten in einer Untersuchung des Instituts für Demoskopie Allensbach nur 23 Prozent der Befragten eine gute Meinung von den Gewerkschaften. 2012 waren es 41 Prozent.

Und es könnten noch mehr sein, findet IG-BCE-Landesbezirksleiter Hoffmann. „Wir werden in den Medien und der Öffentlichkeit noch zu sehr als reine Arbeitsplatzerhalter wahrgenommen.“ Sein Ziel: Gewerkschaften als Problemlöser zu positionieren. Zum Beispiel beim Klimawandel. „Wir müssen noch deutlicher machen, dass wir mit unseren energieintensiven Industrien wie zum Beispiel Aluminium einen Beitrag gegen den Klimawandel leisten, weil Aluminium – etwa wegen seiner Recyclingquote – äußerst ressourceneffizient ist.“ Hier sieht er neue Herausforderungen für Betriebsräte. „Industriepolitik und das Werben um mehr Akzeptanz für die Industrie müssen Teil der Mitbestimmung werden.“ Bei manchen Projekten sei das bereits gelungen.

So zum Beispiel beim Bau der Pipeline „Connect“ des Ölriesen Shell im Jahr 2009. Um Produktionsprozesse zu verbessern, wollte Shell zwei seiner Standorte im Kölner Süden durch eine 3,8 Kilometer lange Pipeline miteinander verbinden. Shell bezog frühzeitig Umweltverbände wie den NABU Nordrhein-Westfalen, Betriebsrat und die Bewohner in die Planung ein. „Wir waren in allen Gremien des Unternehmens zu diesem Projekt miteinbezogen und hatten überall Mitspracherecht“, sagt der Betriebsratsvorsitzende Wolfgang Koenn. Der Betriebsrat stellte sich auch öffentlich in der Presse hinter das Projekt und trug schließlich die umweltfreundlichere Entscheidung der Geschäftsführung für den Trassenverlauf unter dem Rhein hindurch mit – obwohl die Kosten dafür deutlich teurer waren als eine oberirdische Lösung. Proteste bleiben seither weitgehend aus. „Es nützt nichts, so ein Projekt gegen den Willen der Bevölkerung anzugehen“, sagt Betriebsrat Koenn. Auch Josef Tumbrinck vom NABU NRW erkennt an, dass „unsere Änderungsvorschläge ernst genommen und auch umgesetzt wurden“. Gemeinsam habe man so für den Naturschutz viel erreicht und die Wirtschaftskraft in der Region gestärkt.

Doch solche Beispiele sind noch die Ausnahme. Bei der BASF SE, dem weltgrößten Chemiekonzern, verließen in den vergangenen 15 Jahren rund 20 000 Mitarbeiter das Unternehmen. Ein Grund: die „grüne Gentechnik“, also Pflanzenzucht für die Ernährung mithilfe von Gentechnik. Diese Technologie konnte sich in Deutschland und in Europa nicht durchsetzen. Anfang 2012 gab der DAX-Konzern bekannt, sein komplettes Geschäft mit grüner Gentechnik in die USA zu verlagern. Rund 400 Arbeitsplätze wanderten aus Ludwigshafen über den großen Teich, weil grüne Gentechnik in Deutschland keine Akzeptanz fand. „Nach 15 Jahren Entwicklung war die Gen-Kartoffel Amflora reif, aber schließlich ohne Bedeutung. Gentechnik ist in Deutschland ein kulturelles Unding“, resümiert der stellvertretende BASF-Konzernbetriebsratsvorsitzende und Aufsichtsrat Wolfgang Daniel. Das Geschäft mit grüner Gentechnik werde längst im Ausland gemacht. Hierzulande hätten fast alle dagegen protestiert, vom Bauernverband bis zum Kirchenverband. „In Deutschland herrscht der Glaube, man könne den Lebensstandard auch ohne Industrie sichern.“

„Die Lobbyarbeit der Gentechnik hat versagt“, sagt der BASF-Betriebsrat. Zwar stritten Experten in unzähligen öffentlichen Diskussionsrunden über die Risiken und Chancen der grünen Gentechnik. „Doch die Verbraucher hat niemand erreicht. Die waren immer dagegen“, sagt Daniel. Und sie zogen die Politik in ihr Fahrwasser. Keine der etablierten Parteien bekennt sich heute uneingeschränkt zur Gentechnik. SPD, Linke und Grüne lehnen sie grundsätzlich ab. „Je populärer ein Protest wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich auch Politiker industriefeindlich geben. Sie wollen die Wählerstimmen“, sagt dazu PR-Berater Kai vom Hoff aus Düsseldorf, dessen Agentur sich unter anderem auf Industrie-Kommunikation konzentriert.

KOMPLEXITÄT NICHT NACHVOLLZIEHBAR

Dass Experten Widerstände nicht brechen können, überrascht Ortwin Renn nicht. Der Soziologe und Akzeptanzforscher an der Universität Stuttgart vertritt die These, technische Abläufe würden zunehmend komplizierter. Kaum jemand könne sie noch nachvollziehen oder gar überprüfen, beispielsweise bei der Risikobewertung von Kraftwerksprozessen. „Deshalb wird die Glaubwürdigkeit von Interessenvertretern immer wichtiger. Kommunikationsprofis werden nicht zwangsläufig als glaubwürdiger wahrgenommen.“

Gewerkschaften empfiehlt der Akzeptanzforscher – wie im Fall Shell geschehen –, Projektbeteiligte an die Diskussionsfront zu schicken. Er sieht Betriebsräte und Gewerkschaften in einer Vermittlerposition. „Auf der einen Seite arbeiten sie im Unternehmen und kennen die Situation dort gut. Sie sind aber gleichzeitig Anwohner und von den Nebenwirkungen eines Projekts genauso betroffen wie jeder andere.“ In Trainings sollen Gewerkschafter und Betriebsräte fit gemacht werden für öffentliche Auftritte, schlägt Renn vor – nicht um zu reden wie Politiker, sondern um das nötige Selbstbewusstsein für öffentliche Auftritte zu erlangen. „Denn manche Reaktionen werden negativ sein, und dann ist es wichtig, damit richtig umzugehen“, sagt Renn.

GUT ORGANISIERTE PROTESTKULTUR

Der Grund dafür ist einfach: Die Gegnerschaft ist stark und erfolgreich. Denn seit einigen Jahren wächst in Deutschland eine gut organisierte Protestkultur. Allein im Baugewerbe konnten 2011 ganze 53 Infrastrukturprojekte mit einem Investitionsvolumen von 46 Milliarden aufgrund von „Akzeptanzproblemen“ nicht umgesetzt werden, teilt der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie mit.

Felix Butzlaff, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demokratieforschung in Göttingen, hat die neuen Protestbürger in einer Studie typologisiert. Das Ergebnis: Profi-Protester, wie er sie nennt, haben deutlich bessere Voraussetzungen als Arbeitnehmer, ihre Interessen lautstark zu vertreten. „Wer sich engagieren will, braucht Zeit“, sagt Butzlaff. Unter den befragten Protestbürgern fanden sich auffällig viele Vorruheständler, Hausmänner, Teilzeitangestellte, Freiberufler und Lehrer – die meisten durchaus gebildet. Durch die neuen Medien scharen sie viel leichter Anhänger um sich als in früheren Tagen.

So bietet die Internetseite campact.de beispielsweise vorformulierte E-Mails an Politiker, die User nur noch mit ihrem Namen versehen und abschicken müssen. Zudem versorgen PR-Agenturen Protester mit professionellen Plakaten. Krassestes Beispiel: die Internetseite www.demonstrantenmieten.de, auf der sich willige Demonstranten-Söldner für bestimmte Themen gegen wenig Geld anheuern lassen.

Profi-Protester kennen diese neuen Möglichkeiten. 55 Prozent von ihnen sind Akademiker. „Viele haben gelernt, zu netzwerken und sich öffentlich in Szene zu setzen“, sagt Butzlaff. Das jahrelange Engagement in einer Protestbewegung sorge für weitere Qualifikation auf diesem Gebiet. „Aber die kleinen Leute“, sagt Butzlaff, „sind kaum mehr vertreten.“

Das zeigt sich auch beim Protest gegen die Nanotechnologie, gegen die derzeit gleich mehrere Nichtregierungsorganisationen (NGOs) Sturm laufen. So wendet sich etwa die „Coordination gegen Bayer-Gefahren“ gegen den Leverkusener Konzern. Der Vorwurf: Dessen winzige Röhrchen aus Kohlenstoff als Zusatz für Lacke könnten die Entstehung von Krebs fördern. Bayer stellt diese sogenannten Carbon Nanotubes (CNT) seit Januar 2010 in Leverkusen in der weltgrößten Produktionsanlage für diese Materialien her. Greenpeace indes fordert, Nanopartikel aus Sonnencremes zu entfernen, weil sie gesundheitsschädlich sein könnten. Und der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, der BUND, betreibt eine eigene Datenbank, anhand der Verbraucher Nanoprodukte identifizieren.

Gewerkschaften fürchten nun, dass die deutsche Nanotechnologie das gleiche Schicksal ereilen wird wie die Gentechnologie zuvor. „Der Wettbewerbsvorteil unseres hochtechnologischen Standorts Deutschland leidet unter den Widerständen der NGOs“, sagt Iris Wolf, Ressortleiterin Innovation/Technologie beim Hauptvorstand der IG BCE. Gemeinsam mit dem Verband der Chemischen Industrie (VCI) hat die IG BCE ein Positionspapier zum verantwortungsvollen Umgang mit Nanotechnologie herausgegeben. Dieser Schulterschluss mit den Berufsverbänden ist in den Augen von Kai vom Hoff unerlässlich: „Botschaften entfalten dann ihre Wirkung, wenn sie von verschiedenen Akteuren mit unterschiedlichen Perspektiven vorgetragen werden.“

Beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) scheint diese Botschaft aber noch nicht angekommen. Dort verteilt man zwar ein „Strategiepapier Planungsbeschleunigung“ für Verkehrsinfrastrukturvorhaben, eine entsprechende Kampagne für die Industrie sei indes nicht in Planung, sagt Sprecher Marcel Bertsch.

LANGE NACHT DER INDUSTRIE

In Düsseldorf ist man weiter. Dort arbeiten Verbände, Unternehmen und Gewerkschaften bereits Seite an Seite – im Verein „Zukunft durch Industrie“. Der versteht sich ausdrücklich als Gesellschaftsinitiative. „Wir wollen anders als Verbände auf die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Industrie hinweisen“, sagt Geschäftsstellenleiterin Marion Hörsken. Deshalb zeigen auf der Vereins-Website viele Beteiligte Gesicht: Werksleiter von Unternehmen, Gewerkschafter wie DGB-NRW-Chef Meyer-Lauber, Vertreter von IHKs und Branchen-Verbänden bis hin zu Privatpersonen. Der Zusammenschluss möglichst vieler Mitspieler ist in den Augen von Berater Hoff ein wichtiger Schritt: „Nur wenn Unternehmen, Gewerkschaften und weitere Akteure an einem Strang ziehen, kann Vertrauen und Akzeptanz entstehen.“

„Zukunft durch Industrie“ wird am 17. Oktober die „Lange Nacht der Industrie“ Rhein-Ruhr veranstalten. Dann öffnen 39 regionale Unternehmen – von ThyssenKrupp über Henkel bis hin zu den Grillo-Werken – ihre Werkstore für jedermann. Die nächtlichen Bus-Touren von einem Betrieb zum anderen sind kostenlos – Industrie zum Anfassen. Veranstaltet wird die Industrienacht von IHKs, Unternehmerverbänden und den Industriegewerkschaften unter der Schirmherrschaft von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Es geht um Fachkräftewerbung und darum, dass die Bürger sich mit der Industrie wieder stärker identifizieren, weshalb vielfach Werksmitarbeiter, die in der Nachbarschaft der Werke leben, die Führungen übernehmen. Letztlich will die Initiative bei Menschen aller Altersgruppen Verständnis für die Belange der Industrie wecken – jenseits der allgegenwärtigen Konflikte um Pipelines, Gentechnik oder Kraftwerksprojekte.

Böckler-Tagungen: Akzeptanz von Industrieprojekten

Die Hans-Böckler-Stiftung veranstaltet in Kooperation mit der IG Metall und der IG BCE eine Reihe von Workshops zur „Akzeptanz von Industrie und Technologie“. Dabei erörterten Betriebsräte und Gewerkschafter ihre Rolle (und die der Politik) beim Werben um mehr Verständnis für Industrieprojekte; Wissenschaftler beteiligten sich mit Projekten aus der Akzeptanz-Forschung. Nach den Treffen in Berlin und Hannover im Sommer 2013 bildet eine Konferenz zur „Europäischen Industriepolitik“ in Brüssel am 28./29. Oktober den diesjährigen Abschluss dieser Veranstaltungsreihe.

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