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Andreas Juhls, Betriebsratsvorsitzender Magazin Mitbestimmung

Betriebsrätepreis: Überlastung ist kein persönliches Problem

Ausgabe 04/2023

Beim Raumfahrtunternehmen ArianeGroup in Bremen werden überlastete Beschäftigte nicht länger alleingelassen. Gesorgt hat dafür der Betriebsrat, indem er eine innovative Betriebsvereinbarung entwarf. Von Joachim F. Tornau

Wie sich Arbeitsüberlastung anfühlt, weiß Andreas Juhls ganz genau. Vor sieben Jahren war er noch nicht Betriebsratsvorsitzender, sondern Abteilungs- und Projektleiter beim Raketenbauer ArianeGroup in Bremen. Innerhalb eines Vierteljahrs schrieb er einmal drei Überlastungsanzeigen. „Ich hatte damals jeden Monat Arbeit für 240 Stunden“, erzählt der 54-Jährige. Als Reaktion sei zuerst nur „Wischiwaschi“ gekommen. Dann habe man ihn, offiziell ohne Zusammenhang zu seiner Beschwerde, einfach von seinen Führungsaufgaben entbunden, von einem Tag auf den anderen.

Seit dem vergangenen Jahr steht Juhls dem Betriebsrat am Bremer Standort des französisch-deutschen Raumfahrtunternehmens vor. Er kann mit Zahlen belegen, dass Arbeitsüberlastung, wie er sie erlebt hat und wie sie nach ihm auch noch andere an die Grenze der Erschöpfung gebracht hat, kein persönliches, sondern ein strukturelles Problem ist. „Es kneift bei uns immer beim Personal“, sagt er. Als ersten Schritt zu einer anderen, nachhaltigen Personalplanung hat der Betriebsrat deshalb in diesem Jahr eine wegweisende Betriebsvereinbarung initiiert, die den Umgang mit Arbeitsüberlastung regelt. „Wir sind unserem eigenen Leitmotiv für die Betriebsratsarbeit gefolgt“, sagt der Vorsitzende. „Es heißt: Mitbestimmung ist unser Recht, Mitgestaltung unser Anspruch.“

Vereinbart wurde ein Stufenmodell. „Der Prozess ist eigentlich ganz einfach“, meint IG-Metall-Mitglied Juhls. „Wenn Beschäftigten die Arbeit zu viel wird, können sie sie sich als Erstes natürlich an die zuständige Führungskraft wenden und gemeinsam nach einer Lösung suchen.“ Wollen sie das nicht, etwa weil der Chef Teil des Problems ist, oder können sich Beschäftigter und Vorgesetzter nicht einigen, folge Schritt zwei: Es wird eine „Gesundheitskommission“ einberufen, paritätisch besetzt mit jeweils einem Mitglied von Betriebsrat und Personalabteilung plus einem Sachverständigen aus dem Bereich Health, Safety, Environment des Unternehmens.

„Diese Kommission entscheidet dann über Maßnahmen“, erläutert der Betriebsratsvorsitzende. „Mit dem Mitarbeiter wird ein Termin festgelegt, an dem zusammen geprüft werden soll, ob die Maßnahmen gegriffen haben.“ Drei Dinge findet Juhls an diesen Regelungen besonders bedeutsam: Das „volle Initiativrecht“ liege bei den betroffenen Beschäftigten, die sogar das Betriebsratsmitglied für die Kommission selbst auswählen können. Der Ansatz schließe Überlastung, die auf private Probleme zurückgehe, ausdrücklich mit ein. Nicht zuletzt verpflichte die Betriebsvereinbarung den Arbeitgeber auch zur Prävention, beispielsweise indem die Aufklärung über das Vorgehen bei Überlastung zum Teil der obligatorischen Sicherheitsunterweisungen werde.

Auf eine Vorlage für eine solche freiwillige Betriebsvereinbarung konnte der Betriebsrat nicht zurückgreifen. Stattdessen habe man Ideen aus verschiedenen Quellen zusammengetragen und adaptiert. Besonders hilfreich dabei: das Betriebsvereinbarungsarchiv der Hans-Böckler-Stiftung. „Das ist total genial“, sagt Juhls, der sich auch im Ortsvorstand der IG Metall engagiert. Der Entwurf des Betriebsrats überzeugte den Arbeitgeber sofort und musste in gemeinsamen Gesprächen nur noch feingeschliffen werden. „Wir haben vier Verhandlungstermine angesetzt und drei gebraucht“, berichtet der Betriebsratsvorsitzende. Mittlerweile gilt die Vereinbarung in ähnlicher Form auch an den beiden anderen großen deutschen ArianeGroup-Standorten in Lampoldshausen und Ottobrunn.

Ihre Bewährungsprobe mussten die Regelungen bislang noch nicht bestehen. Seit dem vergangenen Jahr wurde in Bremen so viel Personal neu eingestellt, dass die Beschäftigtenzahl am Standort von 615 auf mehr als 670 gestiegen ist. „Das hat in einigen Bereichen die Überlastung verringert“, sagt Juhls. „Erst einmal.“ Es falle aber nach wie vor dauerhaft Mehrarbeit an, in nicht unerheblichem Umfang. Und: Die Produktion von Ariane-6-Oberstufen soll weiterwachsen, das könnte die Lage wieder verschärfen. Bis dahin will der Betriebsrat weiter für etwas werben, was auch die beste Betriebsvereinbarung allein nicht erreichen kann: einen Kulturwandel im Betrieb. „Viele Kolleginnen und Kollegen sind so sozialisiert, dass es ein Zeichen von Schwäche ist, wenn man sagt: Ich kann nicht mehr“, erklärt Andreas Juhls. „Da brauchen wir ein Umdenken.“


ArianeGroup ist ein Gemeinschaftsunternehmen von Airbus und dem französischen Safran-Konzern mit rund 8000 Beschäftigten, davon 1300 in Deutschland. Entwickelt und produziert werden die Ariane-Trägerraketen für das europäische Weltraumprogramm, aber auch militärische Interkontinental­raketen für die französische Marine. Neben Bremen gibt es noch drei weitere Standorte in Deutschland: im schwäbischen Lampoldshausen, in Ottobrunn bei München und in Trauen (Lüneburger Heide).

Mehr zum Betriebsräte-Preis:

Der Deutsche Betriebsräte-Preis wird am 9. November im Rahmen des Deutschen Betriebsrätetags in Bonn verliehen. Von 76 Bewerbungen wurden zwölf ­Projekte nominiert. Eines davon ist der ­Betriebsrat der ArianeGroup, der in diesem Jahr den Sonderpreis „Gute Arbeit“ erhält.

Das Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung der Hans-Böckler-Stiftung bietet ein Archiv mit zahlreichen Betriebsvereinbarungen.

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