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Magazin Mitbestimmung

Versorgungssysteme: Töpfchen und Kröpfchen

Ausgabe 10/2012

Millionen von Erwerbstätigen sind nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung. Neben vielen Gutverdienern, die davon profitieren, sammeln sich hier auch prekär Beschäftigte ohne ausreichende Altersvorsorge. Von Guntram Doelfs

 Die Reaktionen sind heftig, die Wortwahl deftig. Seit dem Frühjahr zieht ein wahrer Shitstorm durch das Internet, als würde der Untergang des Abendlandes bevorstehen. Es würden „Existenzen zerstört“, Menschen in Hartz IV getrieben. Von „Gängelei“, „Weltfremdheit“, gar „Schutzgelderpressung“ ist in hitzigen Kommentaren auf der Facebookseite „Kein Rentenzwang für Selbstständige“ zu lesen. Die Internetseite ist das Epizentrum eines Sturms, den das Arbeitsministerium losgetreten hat – mit einem Referentenentwurf, der vorsah, dass alle Selbstständigen ab 2013 obligatorisch für das Alter vorsorgen sollen. Ideengeberin war Ursula von der Leyen. Ihr Vorschlag soll verhindern, dass in Zukunft die Grundsicherung für immer mehr Selbstständige einspringen muss, die nicht ausreichend vorgesorgt haben. „Wir müssen die Gerechtigkeitsfrage diskutieren“, mahnte die Ministerin eindringlich in einer Videobotschaft als Antwort an ihre Kritiker, deren Online-Petition an den Bundestag gegen den „Rentenzwang“ mehr als 80 000 Unterzeichner fand. Sie wird am 15. Oktober Thema im Petitionsausschuss sein.

Die Vorgänge zeigen, womit Politiker jedweder Partei in diesem Land rechnen müssen, wenn sie ernsthaft über eine Ausweitung der Versicherungs- oder Vorsorgepflicht in der Altersvorsorge nachdenken, geschweige denn über eine Erweiterung der gesetzlichen Rentenversicherung zu einer Erwerbstätigenversicherung, die alle Berufsgruppen mit einschließt. Seit Jahrzehnten verhindern in Deutschland mächtige Partikularinteressen von einzelnen Berufsgruppen, die gesetzliche Rentenversicherung auf eine breitere und damit sichere Basis zu stellen. „Die politische Lenkung durch diese Interessengruppen ist leider groß“, beklagt der Frankfurter Ökonom Diether Döring. Seit vielen Jahren fordert Döring, der auch in der Riester-Kommission der Bundesregierung saß, die Einführung einer „Erwerbstätigenversicherung“, unterstützt von vielen Rentenexperten und auch den Gewerkschaften. Bislang jedoch ohne Erfolg.

DER LOBBYISMUS DER GUTVERDIENER

Kein Wunder, denn für manchen gibt es viel zu verlieren. Ein Blick auf die aktuelle durchschnittliche Rentenhöhe zeigt, wie eklatant groß die Kluft zwischen den durchschnittlichen Renten der unterschiedlichen Altersversorgungssysteme ist. Während der durchschnittliche Rentenzahlbetrag in der gesetzlichen Rentenversicherung derzeit bei 987 Euro liegt, zahlten die Versorgungskassen der freien Berufe ihren Rentnern 2009 eine durchschnittliche Altersrente von 1989 Euro aus. Diese wird von den Beamtenpensionen noch getoppt. Die Höhe der Ruhestandsgehälter beträgt dort im Durchschnitt 2300 Euro. Angesichts dieser Zahlen „kann man den massiven Lobbyismus dieser Berufsgruppen einfach nicht kleinreden“, sagt Ingo Nürnberger, Abteilungsleiter Sozialpolitik im Bundesvorstand des DGB.

Die Vorsorgelandschaft in Deutschland ist derzeit alles andere als übersichtlich. Neben der gesetzlichen Rentenversicherung, in der 81 Prozent aller rund 41 Millionen Erwerbstätigen versichert sind (pflichtversicherte und freiwillige Zahler), gibt es mehr als fünf Millionen Erwerbstätige, die entweder wie Beamte oder Freiberufler in den freien Kammerberufen (Ärzte, Rechtsanwälte, Apotheker etc.) in eigene Versorgungskassen einzahlen bzw. als Selbstständige private Rentenvorsorge betreiben. Gleichzeitig wächst nach Einschätzung von Experten die Zahl derer, die keine regelmäßige Altersvorsorge betreiben. „Von der Leyens Vorschlag ist deshalb trotz vieler Kritik im Detail ein Schritt in die richtige Richtung“, lobt Wolfgang Strengmann-Kuhn, Rentenexperte der Grünen im Bundestag.

Rund 4,3 Millionen Selbstständige gibt es inzwischen in Deutschland. Gleichwohl führt die plakative Forderung „Kein Rentenzwang für Selbstständige“ in die Irre, denn es gibt seit Jahrzehnten Selbstständige, die längst eine obligatorische Altersvorsorge betreiben. In konkreten Zahlen: Ende 2010 waren 260 000 Selbstständige oder Freiberufler „vorwiegend aus künstlerischen Berufen“ in der gesetzlichen Versicherung pflichtversichert. Dazu kommen 350 000 Selbstständige, die in die Versorgungskassen der freien Kammerberufe einzahlen, und rund 170 000 selbstständige Landwirte. Auch mehr als eine halbe Million Handwerker zahlen oder haben 18 Jahre lang bis zum Erreichen einer Basisrentenhöhe in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt. Danach ist es ihnen freigestellt, ob sie weiter bleiben wollen.

Trotzdem: „Die Selbstständigen sind ein großes sozialpolitisches Problem“, urteilt DGB-Experte Ingo Nürnberger. Er hat dabei die verbliebenen drei Millionen Selbstständigen im Blick, die nach Angaben der Rentenversicherung und des Arbeitsministeriums derzeit keine obligatorische Altersvorsorge betreiben. Zwar sagt diese Zahl nichts darüber aus, ob und in welchem Umfang diese Gruppe privat vorsorgt, denn bislang gibt es noch nicht einmal allgemeingültige Kriterien darüber, was alles zu einer privaten Altersvorsorge zu zählen ist. Dennoch mehren sich die Indizien, wohin die Reise in diesem Segment geht, weil in den vergangenen Jahren besonders stark die Gruppe der Soloselbstständigen auf inzwischen 2,4 Millionen gewachsen ist.

SOLOSELBSTSTÄNDIGE ALS RISIKOGRUPPE

Genau für diese Gruppe rechnen jedoch Experten in Bezug auf die Altersvorsorge mit den größten Problemen. „In der öffentlichen Diskussion dominiert heute noch immer das Verständnis des wohlhabenden Selbstständigen, so wie es in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch durchaus zutraf. Inzwischen hat sich aber die Arbeitswelt radikal gewandelt“, sagt Diether Döring. Immer mehr Arbeitnehmer würden aus einem regulären Arbeitsverhältnis in die Selbstständigkeit gedrückt, die sie kaum noch ernähren würde. Die Beispiele sind hinlänglich bekannt: „selbstständige“ Bauarbeiter oder „Subunternehmer“ für Paketdienste. Rund ein Viertel der Soloselbstständigen verdient nach einer aktuellen Studie des DIW-Ökonomen Karl Brenke für das Bundesarbeitsministerium 1500 Euro oder weniger pro Monat.

Der Trend ist also eindeutig. Viel schwieriger ist es jedoch, in exakten Zahlen zu bemessen, wie und in welchem Umfang gerade die Gruppe der Soloselbstständigen Geld für die Altersvorsorge zurücklegt. Die Studie von Brenke demonstriert eindrücklich dieses Dilemma. Nach seinen Angaben waren 2008 mit 884 000 knapp 40 Prozent der Soloselbstständigen freiwillig oder verpflichtend gesetzlich versichert. Brenke beruft sich auf Erhebungen aus dem Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) des DIW. Für den gleichen Zeitraum weist jedoch die Deutsche Rentenversicherung nur 253 000 versicherte Selbstständige aus. Wie dieser Widerspruch zustande kommt, kann auch Brenke nicht plausibel erklären. Und so geht es weiter. Er spricht einerseits davon, dass „reichlich die Hälfte der Soloselbstständigen nicht regelmäßig Geld auf die hohe Kante legt“, kommt aber andererseits zu dem Schluss, „dass auf jeden Fall eine unzureichende Altersvorsorge kein weit übergreifendes Problem der Soloselbstständigen ist“. Eine überraschende Feststellung, zumal der Autor einräumt, dass sich anhand der verfügbaren Daten „nicht quantifizieren lasse, wie groß die Zahl der Soloselbstständigen ist, die hinreichend für den Ruhestand vorsorgen“.

EIN GERECHTIGKEITSDILEMMA

Ein wesentlicher Aspekt in der Debatte ist die berechtigte Sorge der Kritiker um zu hohe monatliche Rentenbeiträge. In ersten Planungen war zunächst von 350 bis 450 Euro pro Monat die Rede. „Schon jetzt zahlen viele Selbstständige 30 Prozent ihres Einkommens für Kranken- und Pflegeversicherung und befinden sich damit am Rande ihrer Leistungsfähigkeit“, erklärte Andreas Lutz vom Arbeitskreis Rentenpflicht, einer der führenden Köpfe unter den Kritikern an den Rentenplänen der Ministerin nach einem Treffen mit von der Leyen. Zumindest diese Kritik kam an und wird inzwischen von vielen Rentenexperten geteilt. Im Ministerium wird offenbar nach wie vor verschärft über einkommensabhängige und sozial verträgliche Raten nachgedacht. Über Details wollte sich das Ministerium auf Anfrage nicht äußern.

Andererseits blenden die Kritiker einer Versicherungspflicht geflissentlich jenen Gerechtigkeitsaspekt aus, den Ursula von der Leyen angesprochen hat und der pflichtversicherten Arbeitnehmern mit geringen Einkommen in der gesetzlichen Rentenversicherung zunehmend sauer aufstößt. Wer nämlich drei Viertel oder weniger des Durchschnittseinkommens verdient, kommt trotz jahrzehntelangen Einzahlens später nicht über die Grundsicherung hinaus. Schlecht verdienenden Selbstständigen ohne obligatorische Altersvorsorge droht im Alter zwar ebenso die Grundsicherung, aber sie haben auch 40 Jahre lang keine Beiträge gezahlt. Deswegen will von der Leyen an der Versicherungspflicht für Selbstständige festhalten.

Eine vom Ministerium in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie kam jedenfalls im September nach Angaben aus Koalitionskreisen zu dem Schluss, dass eine solche Pflicht umsetzbar sei. Einfach wird das nicht, denn es gibt „praktische Probleme“ bei der Umsetzung der technischen Details, wie DGB-Experte Nürnberger durchaus einräumt. Soll bei Selbstständigen der Gewinn die Bemessungsgrundlage für die Beitragsrate sein, obwohl dieser mit Steuertricks nach unten gedrückt werden kann? Sollen die Auftraggeber „mit ins Boot“, wie es der Grüne Strengmann-Kuhn fordert? Wie kann andererseits eine Doppelbelastung der Auftraggeber verhindert werden? Welche Übergangsfristen soll es geben? Wie verhindert man ein ausuferndes Monstrum an Bürokratie? Fragen über Fragen, die es zu klären gilt.

Ob es überhaupt jemals dazu kommt, bleibt abzuwarten. Die Arbeitsgemeinschaft der berufsständischen Versorgungseinrichtungen (ABV), in der die freien Kammerberufe organisiert sind, hält jedenfalls gar nichts von dem Vorstoß: „Damit lösen wir die Übergangsproblematik nicht, auch beim Thema Erwerbsunfähigkeit kann es Probleme geben“, sagt ABV-Vorstandsvorsitzender Hartmut Kilger. Die ABV brachte deshalb jüngst selbst den Vorschlag einer eigenständigen Selbstständigenversicherung unter dem Dach der Rentenversicherung ein, die aber dezidiert nicht Bestandteil der gesetzlichen Rentenversicherung sein soll. „Wir würden bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, um das zu verhindern“, droht Kilger. Er sieht größte verfassungsrechtliche Probleme bei der Einbeziehung von Angehörigen der freien Kammerberufe in die gesetzliche Versicherung.

Ebenso hartnäckig wehren sich auch die 1,8 Millionen Beamten gegen eine Vereinnahmung durch die gesetzliche Rente. Tatsächlich ist ihre Einbeziehung rechtlich und finanztechnisch mit vielen Problemen behaftet. Diese reichen vom Vertrauensschutz (nach Eingliederung dürften Beamte mit gesetzlicher Rente nicht schlechter gestellt werden als jene mit Ruhestandsgehältern) über das besondere Dienstverhältnis zwischen Beamten und Dienstherrn, das auch in der Altersvorsorge angemessen berücksichtigt werden muss, bis hin zu enormen finanziellen Problemen der Länder. Die Kosten des gegenwärtig praktizierten Systems der Beihilfe würden deutlich überschritten, so Frank Zitka, Sprecher des Deutschen Beamtenbundes (dbb). Viele Rentenexperten und auch die Gewerkschaften halten die Einwände dennoch für vorgeschoben. „Niemand will von heute auf morgen sofort das System wechseln. Wir denken an lange Übergangszeiten; die neuen Regelungen sollen für Neueinsteiger ins Berufsleben gelten“, sagt Ingo Nürnberger. Wichtig sei ein Bekenntnis zu einer solidarischen Altersvorsorge, die alle einbeziehe.

KAPITALEINKÜNFTE SOLLTEN MITZÄHLEN

Bleibt die Frage, wie sich die komplette Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten in die gesetzliche Rente tatsächlich auswirken würde. Wissenschaftler des Prognos-Instituts kamen 2011 im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung in einer Studie zu dem Schluss, dass eine Ausweitung der Versicherungspflicht den Beitragssatz zunächst um bis 1,74 Prozentpunkte senken könnte, um sich später langsam bis 2040 wieder anzugleichen. Mit den niedrigen Beitragssätzen würde zudem eine erhebliche Umverteilung ausgelöst. „Wir haben kein Demografieproblem, sondern ein Einnahmeproblem in der gesetzlichen Rentenversicherung“, so Ökonom Diether Döring. Während Deutschland noch streitet, sind andere europäische Länder längst über diese Diskussionen hinaus. „Der Trend geht in Europa eindeutig zur Erwerbstätigenversicherung. Nur Deutschland kommt nicht vom Fleck“, kritisiert Döring. In einigen Ländern wie etwa in den Niederlanden geht man darüber noch hinaus. Dort werden auch Kapitaleinkünfte zur Rente herangezogen, ohne dass es zum Volksaufstand gekommen ist. „Das ist das einzig sinnvolle Modell für die Zukunft“, urteilt denn auch Diether Döring.

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