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Simone Hocke leitet den Bremer Studiengang. Magazin Mitbestimmung

Studium: Theorie für die Praxis

Ausgabe 01/2022

Die Universität Bremen bietet den bundesweit einzigen Masterstudien­gang für gewählte Interessenvertretungen. Betriebs- und Personalräte erhalten dort das strategische Rüstzeug für ihre Arbeit vor Ort. Von Jeannette Goddar

Perfekter könnte das samstägliche Frühstücksglück kaum sein: Der kleine Zeiger auf der Uhr hat gerade die 9 überschritten, als an Laptops und Tablets bereits 18 Gesichter in den sanft illuminierten Kacheln einer Videokonferenz der Universität Bremen aufleuchten. Während daheim bei den Teilnehmern noch hier und da eine Kaffeemaschine röchelt, startet Dozent Andreas Klee bereits mit großen Fragen in den Tag. Demokratie und politische Beteiligung sind in der Krise. Welche Rolle kann die Mitbestimmung in den Betrieben spielen, um die Lage zu verbessern? „Beschreibt eine persönliche Erfahrung mit demokratischer Mitbestimmung in der Arbeitswelt – und dann eine Situation, die ihr als undemokratisch erlebt habt“, bittet der Leiter des Zentrums für Arbeit und Politik und formuliert die Leitfrage: „Machen Menschen, die in der Arbeitswelt Erfolge der Mitbestimmung erleben, auch bessere Erfahrungen in der demokratischen Gesellschaft?“

Daheim an ihren Bildschirmen sitzen 16 Akteure der Mitbestimmung aus Betrieben und Organisationen. Vor drei Jahren startete die Universität Bremen den ersten und bis heute bundesweit einzigen weiterbildenden Masterstudiengang, der sich speziell an ­betriebliche Inte­ressenvertreter richtet. Der Studiengang mit dem Titel „Arbeit – Beratung – Organisation. Prozesse partizipativ gestalten“, ein Kooperationsprojekt des Zentrums für Arbeit und Politik der Universität Bremen und der Arbeitnehmerkammer Bremen, eröffnet ihnen die Chance, ihr Handeln im Betrieb auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu gründen. Wer nicht vier Jahre bis zum Master studieren will, kann die Themen Arbeit, Beratung und Organisation einzeln absolvieren. Am Ende jedes Jahres gibt es ein Zertifikat. Zum Studium kann man ohne Abitur und Bachelorabschluss zugelassen werden. Wichtig sind Nachweise von Tätigkeiten und Kompetenzen aus der Betriebs- oder Personalratsarbeit. Drei Viertel der Teilnehmenden bekommen das Studium – es kostet 19.200 Euro für den gesamten Studiengang oder 5.600 Euro für ein einzelnes Zertifikat – vollständig vom Arbeitgeber finanziert; in den meisten übrigen Fällen beteiligt er sich an den Kosten.

Michaela Hüneke studiert im dritten Studien­jahr. Sie hatte lange überlegt, ob sie Betriebsrätin werden wollte. Dann ließ sie sich aufstellen und wurde gewählt. Seit gut einem Jahr ist sie sogar oberste Ansprechpartnerin für rund 300 Beschäftigte der Bremer Tochter eines europäischen Unternehmens der Luftfahrtbranche. Und obwohl so ein Masterstudium neben dem Beruf nicht zu unterschätzen ist, ist sie froh, dabeigeblieben zu sein: „Das Studium hilft mir nicht nur bei meiner aktuellen Gremienarbeit. Es bringt meine Professionalisierung voran in einer Arbeitswelt, die in stetem Wandel begriffen ist.“

Nicht immer eine Lebensaufgabe

Eine Initialzündung gaben zwei von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Forschungsprojekte mit den Titeln „Spurwechsel“ und „Karrieren von (ehemaligen) Betriebsratsmitgliedern“. Eva Ahlene­ betreute das Projekt „Spurwechsel“ bei der Stiftung. Sie sagt: „Qualifizierungs- und Beratungsangebote zur Gestaltung von Karriereübergängen sind für Betriebsräte wichtig.“

 Genauso sieht es die Bremer Erziehungswissenschaftlerin Simone Hocke. Als sie die Laufbahnen betrieblicher Interessenvertreter untersuchte, stellte sie fest: „Jahr um Jahr häufen sie Kompetenzen an, die nirgends festgehalten werden und somit kaum nutzbar sind.“ Außerdem sei die Arbeit im Betriebs- oder Personalrat nicht immer eine Lebensaufgabe. Aus diesen Erkenntnissen entwickelte Hocke den Studiengang, den sie mit Andreas Klee leitet. „Das akademische Niveau ist uns wichtig“, betont sie. Keinesfalls solle der Masterstudiengang dem gewerkschaftlichen Fortbildungsangebot Konkurrenz machen.

Abends und am Wochenende

In Praxistransferprojekten bearbeiten die Teilnehmenden – meist abends nach der Arbeit und an den Wochenenden – Themen, die sie aus ihren Unternehmen und Organisationen mitbringen. In ihrem ersten Jahr als Vorsitzende widmete sich Michaela Hüneke moderner Betriebsratsarbeit: Wie beteilige und führe ich ein Team, dessen Vorgesetzte ich nicht bin? Wie gelingt ein Wissenstransfer im Betriebsrat? Das aktuelle Studienjahr, Schwerpunkt Arbeits- und Technikgestaltung, nutzt sie für ihr  Projekt „Transformation der Arbeitswelt und Arbeit 4.0 – Auswirkungen auf die Mitbestimmungsarbeit“.

Besprochen werden die Praxisprojekte in virtuellen Lerngruppen. Hier kommen nicht nur Betriebs- und Personalräte mit anderen Interessenvertretern zusammen, auch Akademiker und Nichtakademiker lernen gemeinsam. Der Studien­gang ist offen für alle mit Berufserfahrung und mindestens einem Jahr Tätigkeit als Interessenvertreter. Sechsmal drei Tage im Jahr trifft sich die Studiengruppe an der Universität Bremen und bekommt von Professorinnen und Professoren theoretische Grundlagen vermittelt, etwa in Arbeitssoziologie, Technikgestaltung, Organisationsentwicklung und Managementhandeln.

Pausengespräche fehlen

Der digitale Studientag wiederum ist der Pandemie geschuldet. Analoge Treffen sind sowohl den Studierenden als auch den Dozenten wichtig. „Auf die Gespräche in den Pausen und die Vernetzung möchte ich keinesfalls verzichten“, sagt Markus Becker.

Seit mehr als zehn Jahren ist er Personalratsvorsitzender im Studierendenwerk Münster – und ein Paradebeispiel für lebenslanges Lernen. Erst in der Sternegastronomie und dann auf hoher See arbeitete Becker als Koch, bevor er eine Umschulung zum Bürokaufmann begann. Noch vor dem Abschluss wechselte er in den Personalrat. Das war vor mehr als 20 Jahren. Er ist Sprecher der Bundesarbeitsgruppe der Studierendenwerke bei Verdi, ehrenamtlicher Richter und ausgebildeter Mediator.

Becker stieg in das Masterstudium ein, um seine Beratungskompetenz zu stärken. Er ist im zweiten Studienjahr. „Ich stoße immer wieder auf Wissen, das ich sehr gern früher erworben hätte,“ erzählt er. Im Kleinen, weil er dank seiner Kenntnisse in der Organisationsentwicklung plötzlich versteht, warum sich Mitarbeiter hier oder dort übergangen fühlten. Im Großen, weil er hofft, mit einer neuen Dienstvereinbarung die Personalentwicklung im Studierendenwerk Münster demnächst auf neue Füße zu stellen.

Entwickelt hat er die Dienstvereinbarung mit Kolleginnen und Kollegen nach einem agilen Projektmanagementansatz, den er im Studium lernte. „Klassischerweise wurden Dienstvereinbarungen erst einmal geschrieben und dann so lange hin und her geschickt, bis alle halbwegs zufrieden waren – fast wie ein Koalitionsvertrag,“ sagt er. Dabei sei es viel besser, wenn von vornherein möglichst viele ihre Ideen und Wünsche einbringen können. „Im Grunde ist das ja naheliegend“, sagt Becker. „Doch so ist das mit eingefahrenen Abläufen. Um sie zu verlassen, braucht es einen Anstoß. Und solche Anstöße bietet das Studium in Hülle und Fülle.“

Die nächsten digitalen Infoveranstaltungen für den Studiengang in Bremen finden am 30. März, 28. April und 30. Mai jeweils um 17 Uhr statt. Anmeldung: hocke@uni-bremen.de  

In Frankfurt am Main bietet das House of Labour Menschen aus Gewerkschaften und Beschäftigtenvertretungen gleich drei Möglichkeiten, sich wissenschaftlich weiterzubilden. Eine der drei Säulen bildet die Europäische Akademie der Arbeit, die im vergangenen Jahr 100-jähriges Bestehen feierte. Sie ermöglicht bis heute vielen Menschen ohne formellen Hochschulzugang ein wissenschaftliches Studium. Zweites Standbein ist die Academy of Labour, die 2015 gegründet wurde. Sie bietet den Studiengang Business Administration, Personal und Recht an. Es handelt sich um ein berufsintegratives Studium. Hinzu kam im vergangenen Jahr die University of Labour. Weitere Informationen unter: House-of-labour.de.

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