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Magazin Mitbestimmung

: Teuer, aber gut

Ausgabe 10/2009

INDUSTRIEPOLITIK Das Chemiedreieck zwischen Bitterfeld, Leuna und Wolfen war der Stolz der DDR - und doch völlig veraltet. Nach der Wende stand die Region vor dem Aus. Von Hendrik Ankenbrand

HENDRIK ANKENBRAND ist Journalist in Hamburg/Foto: transit

Ein absurder Gedanke: Man frühstückt, macht sich auf zur Arbeit in das Werk, in dem man jahrzehntelang geschuftet hat - und reißt dann alles ab, was einem irgendwie ans Herz gewachsen ist. So ist es geschehen in Wolfen, wo vor über 70 Jahren der Farbfilm erfunden wurde, in Bitterfeld, Leuna, Schkopau und an anderen Standorten des ehemaligen Chemiedreiecks. Nach der Wende war Schluss - die riesigen, unrentablen Anlagen der Kombinate hatten in der Marktwirtschaft keine Zukunft mehr. "Das war hart", sagt Reiner Eckel. Er war ab 1992 Betriebsratsvorsitzender des ehemaligen Hydrierwerks Zeitz, in dem aus Braunkohle Treib- und Schmierstoffe hergestellt wurden. Jetzt arbeitet er für das Qualifizierungsförderwerk Chemie (QFC) GmbH, eine Weiterbildungseinrichtung der IG BCE. Im Zeitzer Werk waren bis zur Wende 4000 Menschen beschäftigt. Dann kam der Tod auf Raten. In drei Schritten wurde die Anlage bis 1996 stillgelegt.

Einst war die chemische Industrie der Leuchtturm des Sozialismus. Hier wurde ein großer Teil der Industriegüter gefertigt, die in den Westen und in die Ostblock-Staaten gingen. Etwas zum Vorzeigen - so dachte man. Als die Mauer fiel, hatten die Arbeiter um ihren Arbeitsplatz wenig Sorgen. "Da herrschte blanke Euphorie", erinnert sich Eckel, "nicht jeder hatte die betriebswirtschaftliche Brille auf." Selbst der Westen war von falschen Statistiken geblendet, offiziell galt die DDR als zehntgrößter Industriestaat der Welt. Als die Entlassungswellen verkündet wurden, jubelten die Arbeiter sogar. Jetzt würden endlich die verhassten Parteikader gehen müssen, die in den Werken zuvor für den bleiernen Gang gesorgt hatten. "Die Einschätzung zur wirtschaftlichen Situation der chemischen Industrie in Ostdeutschland war positiv", sagt auch Helmut Krodel, der Geschäftsführer der QFC.

Dann kamen die Massenentlassungen. In der Presse wird der Standort trotzdem als eines der wenigen gelungenen Beispiele für eine erfolgreiche Rettung der DDR-Industrie gefeiert - mit massiver Unterstützung des Staats. Rund 15 Milliarden Euro wurden seit der Wende in die mitteldeutschen Chemiestandorte investiert, auch aus EU-Töpfen floss Geld. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Der Chemiepark im ehemals verseuchten Bitterfeld ist Hightech vom Feinsten. Das Park-Konzept, nach dem eine Gesellschaft die in der Chemieindustrie besonders aufwendige Infrastruktur stellt und betreibt und investitionswillige Unternehmen sich ohne sonst nötigen Aufwand niederlassen können, wird weltweit kopiert.

ZU TODE ERSCHROCKEN_ Das war 1989 keineswegs abzusehen. Denn es gab keinen Grund zur Euphorie. Da war zum einen der jämmerliche Zustand der Kombinate: Die Bausubstanz verfallen, die Produktionsanlagen hoffnungslos veraltet. Und da war die Braunkohle als Ausgangstoff, die Mensch und Umwelt gleichermaßen belastete. Die Staatsbetriebe machten Verluste. Das Buna-Werk verlor zuletzt jeden Tag eine halbe Milliarde Mark. "Als wir offen ermittelt haben, wie hoch der Investitionsbedarf ist, sind wir zu Tode erschrocken", erinnert sich Eckel. "Wir haben gedacht: Das kriegen wir nie finanziert." Schließlich waren mit dem Ende des Kalten Kriegs auch die Märkte in den Ostblockstaaten weggebrochen.

In der Mangelwirtschaft der DDR war auch die hochgefährliche Chemieproduktion nicht selten Flickschusterei gewesen. Waren Rohre undicht, wurden sie notdürftig geschweißt. Meister hielten sich ihre eigenen Vorratsstätten, um das Schlimmste zu verhindern. "Die Gefahr, dass was passieren könnte, war im Werk immer vorhanden." Die extremen Umweltbedingungen waren bei den Arbeitern und ihren Familien zwar ständiges Thema beim Kaffeetisch, der im Sommer aus dem Freien ins Haus verlegt werden musste, wenn der Kuchen wieder von dieser grauen Schicht überzogen war. "Die Leute haben das in Demut ertragen", sagt Eckel.

Dass Joachim Nowak selbst fast 20 Jahre lang in einer Dreckschleuder gearbeitet hat, sieht man ihm nicht an. Er ist Betriebsratsvorsitzender der Dienstleistungsgesellschaft des Chemieparks Leuna. Zum Gespräch kommt er mit dem Rennrad, braun gebrannt, jeder Muskel trainiert. Er begann 1971 in Leuna seine Lehre als Messemechaniker. Nowak erzählt, dass eine Umweltgruppe schon zu DDR-Zeiten die Schadstoffe und Nervengifte in der Luft gemessen habe und dass die Leuna-Werke im Vergleich zu anderen "ein Luftkurort" gewesen seien. Doch auch hier bekamen die Kollegen bei der Arbeit öfter mal nach 20 Sekunden dieses taube Gefühl auf der Zunge. Auf der Krankenstation hieß es dazu: "Trink mal wieder eine Flasche Milch."

Nowak berichtet, dass es seit Anfang der 80er Jahre im Werk rapide bergab gegangen sei. Dann sagt er: "Das System hat nie funktioniert, das ist meine subjektive Meinung." Nahezu jeder zweite Beschäftigte in Leuna war in der Instandhaltung eingesetzt, weil die Anlagen komplett verschlissen waren. Die Rohrleitungen, durch die die Chemikalien schwappten, sahen aus wie Igel angesichts der vielen Holzstopfen, mit denen die Löcher geflickt worden waren. Ging etwas kaputt, wurde es wieder zusammengenagelt, die Ersatzteillage war abenteuerlich. 1987 wollte Nowak die Republik verlassen, mit der er längst innerlich abgeschlossen hatte. Aber dann zog er den Antrag wieder zurück. Gesundheitlich fühle er sich heute topfit, sagt Nowak. Aber er kennt viele Kollegen, bei denen das Phenol Leberschäden hinterlassen hat und die unter Herz-Kreislauf-Schwierigkeiten leiden.

In der Wende-Zeit, 1990, wurde Nowak gefragt, ob er sich vorstellen könne, als Betriebsrat für Leuna zu kandidieren. Was ein Arbeitnehmervertreter ist, davon hatte er allenfalls eine vage Vorstellung, wie viele seiner Kollegen. Schon 1989 hatten Beschäftigte in den Chemiekombinaten betriebsdemokratische Initiativen gestartet, die schließlich alle in den Aufbau von Betriebsräten führten. Unterstützung gab es dabei von der West-Gewerkschaft, der heutigen IG BCE. Die Westler wollten mit ihrem ostdeutschen Pendant fusionieren, um im Osten kraftvoll für den Erhalt der Chemiestandorte kämpfen zu können. Auf einer Delegiertenversammlung Ende April 1990 kam es zu heftigen Diskussionen - am Ende stand jedoch die Fusion.

Die Schlacht um das Überleben einer ganzen Region konnte beginnen. Das kam aber einem Spagat gleich: Im Osten würde es nicht ohne neue Werke gehen, das war schnell klar. Während in den vergangenen Jahren im Westen Überkapazitäten entstanden waren und Produktionsanlagen stillgelegt wurden, sollten im Osten neue Fabriken entstehen? Das machte auch manch westdeutschen Gewerkschafter skeptisch. "Da gab es einen Haufen Konfliktpotenzial", erinnert sich Eckel. Öffentlich äußerten ostdeutsche Betriebsräte den Verdacht, West-Gewerkschaften und West-Arbeitgeberverbände hätten sich zusammengetan und wollten durch den Chemie-Tarifabschluss die chemische Industrie in der DDR kaputt machen. Unter den ostdeutschen Gewerkschaftern bildete sich eine "Betriebsräteinitiative", die nach dem Motto "Erst sanieren, dann privatisieren" stand.

Auf der anderen Seite standen Birgit Breuel und die von ihr geführte Treuhandanstalt, die die Sahnestücke der alten Industriekombinate gezielt und schnell privatisieren sollten, um überhaupt noch irgendetwas zu retten. Das bedeutete aber auch Schließungen, Abriss, das Ende für viele Beschäftigte. "Das den Kollegen zu vermitteln war extrem schwierig", sagt Eckel. Auch sein Werk in Zeitz sollte stillgelegt werden. Dafür sollten später andere, neue Unternehmen angesiedelt werden. Er habe Nächte damit verbracht, sagt Eckel, sich zu fragen: Wäre es besser gewesen, 200 Kollegen vor den Werkstoren zu postieren und sich gegen die Schließung zu wehren? "Wohin hätte das geführt?", fragt Eckel. Heute sagt er zu den Privatisierungen: "Es war die einzig richtige Entscheidung."

Die QFC HAT HEUTE 35 MITARBEITER_ Von nun an traf die Treuhand direkt unternehmerische Entscheidungen - die Gewerkschafter handelten einen Branchensozialplan aus. "Die Betriebsräte mussten alles erst einmal lernen, dann haben sie schnell begriffen, wie die Zukunft mitgestaltet werden muss", sagt Klaus-Dieter Weißenborn, ehemals Betriebsrat des Buna-Werks. Von nun an ging es darum, die Kerne der Unternehmen lebensfähig zu machen - trotz rigorosem Personalabbau. "1992 sind die Kollegen das erste Mal richtig aufgewacht", sagt Helmut Krodel.

Der Gewerkschafter gründete 1994 für die damalige IG CPK die QFC, die bis heute existiert. Die Einrichtung sollte mit einer Handvoll Mitarbeitern fortführen, was zuvor die Treuhandanstalt leistete: Sie soll Entlassungen erträglicher machen, kümmert sich um die berufliche Weiterbildung der Entlassenen und verwaltet das Geld für Beschäftigungsmaßnahmen. Die gab es im Chemiedreieck in ungewöhnlicher Höhe und Dauer. Getrieben von der Idee, dass es besser sei, Arbeit zu finanzieren statt Arbeitslosigkeit, bewegten die Treuhand und die QFC sehr viel Geld, um entlassenen Beschäftigten über Qualifizierungsgesellschaften eine neue Chance auf dem Arbeitsmarkt zu eröffnen. Entlassungszahlen wie im Chemiedreieck seien in Westdeutschland halt nie vorgekommen, rechtfertigt Krodel die hohen Summen. Zwar wäre auch dort der Bergbau und die Werftenlandschaft umstrukturiert worden. "Aber das hat sich über einen wesentlich längeren Zeitraum hingestreckt als das, was hier von 1991 bis 1995 stattgefunden hat."

Die QFC leistet bis heute wertvolle Arbeit. Transfermaßnahmen machen nur noch einen kleinen Teil der Arbeit aus, ebenfalls ist die Arbeit nicht mehr streng auf die Chemiebranche beschränkt. Krodel und seine auf 35 Leute angewachsene Mannschaft schaffen in der Erstausbildung zusätzliche Ausbildungsplätze - in direktem Auftrag der Unternehmen im Chemiedreieck. Bei kleinen und mittleren Unternehmen fördern sie die berufliche Weiterbildung der Beschäftigten und zeigt Strategien zur Personalentwicklung auf. Den Jugendlichen der Region versuchen die Mitarbeiter Europakompetenz zu bringen, organisieren Sprachausbildungen und Praktika im Ausland.

Dass sie nebenbei ein bisschen Werbung machen für die Chemieindustrie, stimmt auch. Wenn die QFC-Mitarbeiter durch die Schulen in der Region laufen, sind sie erschrocken, wie wenig die Jugendlichen über den größten Industriezweig vor ihrer Haustür wissen. In den Chemieparks in Buna, Leuna, Bitterfeld und Zeitz herrscht bereits Nachwuchskräftemangel. Die Erfolgsgeschichte vom Wiederaufbau des Chemiedreiecks mag in der Wirtschaftspresse gefeiert werden. Bei den Menschen hier ist sie nur zum Teil angekommen. Das hat auch mit den Wunden zu tun, die bei vielen entlassenen Arbeitern der einst so stolzen Kombinate immer noch tief sitzen. "Oft warnen die Eltern und Großeltern die Jugendlichen", berichtet Krodel: "Geht nicht in die Chemieindustrie. Da fliegt ihr schnell wieder raus." Krodel ist überzeugt: Das ist ein Irrtum.

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