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Magazin Mitbestimmung

: Streit um den Mindestlohn

Ausgabe 10/2006

Ein Mindestlohn muss her - finden alle Gewerkschaften. 7,50 Euro schrieb die Mehrheit der Delegierten beim DGB-Kongress auf ihre Fahnen. Die IG BCE dagegen will branchenbezogene Mindestlöhne. Sie fürchtet um die Tarifautonomie.



Von Thomas Haipeter
Dr. Haipeter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen.


Keine Frage: Das Anwachsen eines Sektors von Niedriglöhnen in Deutschland hat das Thema Mindestlohn auf die Dringlichkeitsliste gesetzt. Dabei sind sich alle Gewerkschaften einig: Für existenzsichernde Löhne und gegen Armut trotz Arbeit muss etwas getan werden. Die Wege aber sind hoch umstritten.

Die Gründe für die Zunahme eines Niedriglohnsektors in Deutschland liegen auch im System der Tarifautonomie. Bis vor wenigen Jahren wies Deutschland eine vergleichsweise geringe Lohnspreizung auf. Die Tarifbindung war hoch, die Gewerkschaften konnten innerhalb der Flächentarifverträge komprimierte Lohnstrukturen vereinbaren, und die Tarifverträge der Metallindustrie hatten als Lokomotive eine Leitfunktion für die Lohnentwicklung in den anderen Branchen. Diese Bedingungen gelten nicht mehr. So ist die Tarifbindung der Beschäftigten in Deutschland zwischen 1995 und 2003 auf etwa 62 Prozent - und damit um 10 Prozent - zurückgegangen. Nur noch rund jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland ist Mitglied einer Gewerkschaft. Mehr und mehr Beschäftigte arbeiten im tariffreien Raum.

Niedriglöhne existieren aber auch innerhalb der tariflichen Vergütungsstrukturen für bestimmte Berufsbilder und Branchen. Es gibt sie für Friseure, Floristen, Arzthelfer oder Verkäufer und für Dienstleistungsbranchen wie das Bewachungsgewerbe, das Friseurhandwerk, die Gebäudereinigung oder das Hotel- und Gaststättengewerbe, aber auch das Fleischer- oder Schlosserhandwerk.

Prekär: tarifliche Niedriglöhne und Mindestlohn

Teilweise liegen hier die von den Gewerkschaften mit ausgehandelten Stundenlöhne weit unter dem geforderten Mindestlohnniveau. "Tarifabschlüsse mit einem Niveau von fünf Euro und weniger bescheren der Forderung nach einem Mindestlohn von 7,50 Euro einen nachhaltigen Glaubwürdigkeitsverlust", räumt ver.di-Tarifpolitikerin Gabriele Sterkel ein.

Viele Faktoren haben zu einem Anwachsen des Niedriglohnsektors geführt. Die Gründe reichen vom Strukturwandel mit weniger Industrie- und mehr Dienstleistungsbeschäftigten bis hin zur Privatisierung öffentlicher Dienste. Nicht zuletzt wurden mit den Hartz-Reformen die Zumutbarkeitskriterien für Arbeitslose verschärft. Sie können auch zur Annahme von Stellen verpflichtet werden, deren Entgelt bis zu 30 Prozent unter dem üblichen Tarifniveau liegt. Auch wurde der Rahmen für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse durch Mini-Jobs und Midi-Jobs ausgeweitet, von den hier Tätigen sind nach Berechnungen des IAT knapp 80 Prozent Niedriglohnbeschäftigte.

Komplex: Einbettung in unser Regelungssystem

Strittig ist, wie der Mindestlohn ermittelt und festgesetzt werden soll. Die von der IG BCE favorisierte Strategie will die unterste Entgeltgruppe in einer Branche zum Mindestlohn machen. Sie betont den Vorrang der Tarifparteien, deren Verhandlungsergebnisse zu einem branchenbezogenen Mindestlohn erweitert und verallgemeinert werden sollen. Die andere Strategie - die von Anbeginn an ver.di und die NGG favorisieren - will einen einheitlichen Mindestlohn von nunmehr 7,50 Euro gesetzlich verankern. Zur Realisierung eines Mindestlohns werden folgende Instrumente diskutiert:

* Die Ausweitung der Allgemeinverbindlichkeit: Nach §5 des Tarifvertragsgesetzes kann der Arbeitsminister einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklären, so dass er für alle Betriebe und Beschäftigten der dadurch erfassten Branche gültig ist. Voraussetzung dafür ist, dass mindestens 50 Prozent der Beschäftigten der Branche tarifgebunden sind. Ferner haben die Tarifparteien ein Veto-Recht gegen entsprechende Erklärungen. Weil dies von den Arbeitgebern immer häufiger genutzt wird, sind heute nur noch etwa 2,5 Prozent der Tarifverträge für 1,8 Millionen Beschäftigte allgemeinverbindlich.

* Die Ausweitung des Arbeitnehmerentsendegesetzes: Im Bauhauptgewerbe und in verwandten Branchen werden in Tarifverträgen Mindestlöhne ausgehandelt, die entsprechend des Arbeitnehmerentsendegesetzes als allgemeinverbindlich erklärt werden. In 2003 galten diese Mindestlöhne für gut 770 000 Beschäftigte. Nach dem Entsendegesetz sind die tariflichen Arbeitsbedingungen für Arbeitgeber und Verleiher mit Sitz im In- und Ausland verbindlich. Bei einer Ausweitung auf andere Branchen müsste auch die Übertragbarkeit auf regionale Flächentarifverträge gesichert sein.

* Die Revitalisierung des Gesetzes zur Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen: Das Gesetz von 1952 definiert, wann Mindestarbeitsbedingungen festgelegt werden können, etwa wenn Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in einer Branche fehlen. Es soll vor allem dort genutzt werden, wo keine Tarifverträge greifen.

* Tarifvertrag Zeitarbeit: Gleiches gilt für den Tarifvertrag zur Zeitarbeit, den der Bundesverband Zeitarbeit (BZA) mit der Tarifgemeinschaft Zeitarbeit der DGB-Gewerkschaften abgeschlossen hat. Der erstmals 2003 abgeschlossene Tarifvertrag war unter dem Druck der Hartz-Reformen vereinbart worden, die im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vorsehen, dass die Zeitarbeitsfirmen ihren Mitarbeitern die Arbeitsbedingungen ihrer Kunden gewähren müssten, sofern kein anderer Tarifvertrag existiert. Der aktuelle Tarifvertrag der Zeitarbeitsbranche sieht ein Mindestentgelt von 7,15 Euro vor. Er gilt allerdings derzeit nur für die größeren Unternehmen der Branche, weil die mittelständischen Zeitarbeitsfirmen mit dem CGB einen anderen Tarifvertrag abgeschlossen haben, der niedrigere Lohnniveaus vorsieht.

* Der nominelle, gesetzliche Mindestlohn: Ausdruck dieser Strategie ist die Mindestlohnkampagne von 7,50 Euro. Das hat keinen Branchenbezug und ergibt sich nicht aus der Verallgemeinerung eines bestehenden Tarifvertrages. Die Befürworter eines einheitlichen Mindestlohnes können auf die Praxis des europäischen Auslands verweisen. Immerhin 18 der 25 EU-Mitgliedstaaten haben eine gesetzliche Mindestlohnregelung. Allerdings reicht die Spannbreite von gut 1500 Euro monatlich und knapp 8,70 Euro pro Stunde in Luxemburg bis hin zu 116 Euro monatlich und 0,67 Euro die Stunde in Lettland. Nur in Irland erreicht der Mindestlohn eine Höhe von 50 Prozent der durchschnittlichen Monatslöhne.

Die Gewerkschaft NGG hatte einen Mindestlohn von 1500 Euro gefordert, ver.di eine Initiative für ein Ausgangsniveau von 7,50 Euro pro Stunde (entspricht 1200 bis 1300 Euro monatlich) gestartet, das sukzessive anzuheben sei. Experten des WSI weisen darauf hin, dass es bereits zwei Normen für Mindestlöhne gebe: die Pfändungsfreigrenze von 985 Euro - sie entspricht einem Bruttoeinkommen von 1360 Euro oder 8,10 Euro pro Stunde - und das Mindestlohnniveau der Europäischen Sozialcharta von 60 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns: 1420 Euro Brutto und 8,45 Euro pro Stunde.

ver.di für Mindestlohnrat beim Arbeitsminister

Auch wer einen einheitlichen, gesetzlichen Mindestlohn favorisiert, muss ein Verfahren festlegen. Zur Wahl stehen die Indexierung, also die automatische Anpassung an Veränderungen des Lohn- und/oder Preisniveaus; die Festlegung in Verhandlungen zwischen den Tarifparteien, die Festlegung durch den Staat mit Konsultation der Tarifparteien und die einseitige Festsetzung durch den Staat. Die meisten Unterstützer des einheitlichen Mindestlohnkonzeptes votieren, wie die Gewerkschaft ver.di, für die Einrichtung eines auch mit Vertretern der Tarifparteien besetzten "Mindestlohnrates" beim letztlich die Entscheidung fällenden Bundesarbeitsministerium.

Im Herbst will Arbeitsminister Müntefering Vorschläge zur Regelung des Mindestlohnes vorstellen. Damit wächst der Druck auf die Gewerkschaften, sich (wieder) auf eine gemeinsame Position hinzubewegen. Für einen branchenbezogenen Mindestlohn muss die Allgemeinverbindlichkeit oder das Entsendegesetz ausgeweitet werden. Um die Branchen abzudecken, in denen keine Flächentarifverträge existieren, könnte dies mit einem Mindesttarif nach dem Vorbild der Leiharbeit kombiniert werden, oder man könnte auch das Gesetz für Mindestarbeitsbedingungen aktivieren.

Insbesondere die großen Industriegewerkschaften votierten für diese branchenbezogenen Modelle, während zunächst die NGG und dann auch die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn eintraten. Vor dem DGB-Kongress hat die IG Metall die Linie eines branchenbezogenen Mindestlohns verlassen. Ihre Delegierten stimmten mehrheitlich für die plakative Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro, unterstützt von einigen Wissenschaftlern aus dem WSI in der Hans-Böckler-Stiftung.

Die IG BCE reagierte brüskiert und alarmiert. Sie fürchtet Schaden für die Tarifautonomie, und "dass von einem einheitlichen, gesetzlichen Mindestlohn über alle Branchen ein Druck auf die untersten Tariflohngruppen in der chemischen Industrie ausgeht", so IG-BCE-Vorstandsmitglied Werner Bischoff (siehe auch Interview, Seite 28, Ausgabe 9/2006).

Schwächt der Mindestlohn die Tarifpolitik?

Wie sattelfest sind eigentlich die Positionen? Und sind sie tatsächlich unüberbrückbar? Die gewerkschaftlichen Skeptiker gegenüber einem gesetzlichen Mindestlohn argumentieren: Der Mindestlohn schwäche die bislang übliche autonome Lohnfestsetzung durch die Tarifvertragsparteien der Branchen und berge die Gefahr weiterer Eingriffe des Staates in die Tarifautonomie - eine Einschätzung, die auch Arbeitgeberverbände wie Gesamtmetall teilen. Außerdem könnte er die Löhne in den unteren Tarifgruppen drücken.

Und nicht zuletzt schwäche er die Attraktivität der Gewerkschaften für ihre Mitglieder, weil der Gesetzgeber und nicht mehr die Gewerkschaft Garant eines auskömmlichen Einkommens ist. Dem kann entgegnet werden, dass der Mindestlohn vor allem dort greifen soll, wo es gar keine Gewerkschaften (mehr) gibt oder wo sie sehr schwach geworden sind. Starke Gewerkschaften könnten für ihre Mitglieder dadurch attraktiv bleiben, dass sie Löhne deutlich oberhalb des Mindestlohnniveaus aushandeln. Dann wäre der Mindestlohn die untere Grenze für die Normsetzung durch die Tarifparteien nach dem Vorbild des schon bestehenden Arbeitszeitgesetzes, dessen Vereinbarkeit mit der Tarifautonomie niemand in Frage stellt.

Auf Seiten der Befürworter des gesetzlichen Mindestlohns finden sich folgende Argumente: Nur der gesetzliche Mindestlohn könne ein einheitliches Niveau existenzsichernder Löhne garantieren; nur der gesetzliche Mindestlohn könne die Lohnspreizung nach unten außerhalb und innerhalb des Tarifsystems wirkungsvoll begrenzen; nur der gesetzliche Mindestlohn könne die Zuschüsse für Kombilohnmodelle in einem kalkulierbaren Rahmen halten; der gesetzliche Mindestlohn sei schließlich ein wirksames Instrument zum Schutz gegen Deflation und zur Sicherung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage.

So plausibel die Argumente, so dringlich sind hier noch die Fragen der praktischen Umsetzbarkeit. Das Verhältnis des Mindestlohns zur Lohngruppenstruktur der Rahmentarifverträge ist ungeklärt. Anders gefragt: Wie passt ein Mindestlohn von 7,50 Euro zu einem tariflich vereinbarten Lohn von fünf oder sechs Euro? Und wie sollte eine Anpassung herbeigeführt werden, wenn sie den Gewerkschaften bisher nicht gelang? Sollte es dazu kommen, dass Lohngruppen unterhalb des Mindestlohnniveaus abgeschafft werden, müsste das gesamte Lohngefüge in den Branchen neu austariert werden.

Schließlich sind mögliche negative Beschäftigungswirkungen der Mindestlöhne in Rechnung zu stellen, auch wenn sich in anderen Ländern solche Effekte nicht nachweisen lassen. Gleichwohl dürfte die sofortige Einführung eines Mindestlohnes zumindest einige Betriebe wirtschaftlich überfordern. Viel spricht deshalb dafür, gesetzliche Mindestlöhne schrittweise einzuführen, den Betrieben damit eine Zeitspanne für die Umstellung zu gewähren und die beschäftigungspolitischen Folgen sorgfältig zu evaluieren.

Eine tarifpolitische Aufwertung des DGB scheint möglich

Gesetzliche Mindestlöhne sind grundsätzlich sinnvoll. Gerade weil die Regierung den Ausbau des Niedriglohnsektors stark gefördert und damit nicht zuletzt die Bindekraft der Tarifverträge aktiv geschwächt hat, steht sie nun in der sozialpolitischen Verantwortung, die Löhne nicht ins Bodenlose fallen zu lassen und eine untere Grenze der Existenzsicherung zu definieren und durchzusetzen.

Das hieße aber für die Gewerkschaften wiederum nicht, dass damit alle Organisationsprobleme gelöst wären. Gesetzliche Mindestlöhne sind kein Allheilmittel. Sie tragen nicht automatisch zur tarifpolitischen Stärkung der Gewerkschaften bei, und sie lösen auch nicht ihre Mitgliederprobleme.

Eine offene Frage ist auch die gewerkschaftliche Einbindung in die Festlegung der Mindestlohnhöhe. Würde in einem "nationalen Mindestlohnrat" der DGB die Gewerkschaften repräsentieren, käme dies einer tarifpolitischen Aufwertung des DGB gleich. Zwar gibt es dafür mit dem Tarifvertrag Zeitarbeit ein erstes Beispiel. Doch ist noch nicht absehbar, ob sich die mächtigen Einzelgewerkschaften zu einer Ausweitung ihrer Kooperation entschließen könnten.

 


 

Der Niedriglohnsektor
* umfasst jeden fünften Arbeitnehmer
Niedriglöhne beziehen 16 bis 24 Prozent der Beschäftigten (OECD-Schätzungen und WSI-Berechnungen). Damit liegt Deutschland über dem westeuropäischen Durchschnitt
(IAB-Daten).

* ist kein Sektor der Niedrigqualifizierten
60 Prozent der Beschäftigten mit Niedriglohneinkommen haben eine Berufsausbildung, 10 Prozent eine Fachhoch-
schul- oder Hochschulausbildung.

* ist in hohem Maße weiblich
13,7 Prozent der in Deutschland beschäftigten Frauen
und 6,1 Prozent der männlichen Beschäftigten beziehen Armutslöhne (weniger als die Hälfte des Durchschnittslohns).

* ist typisch für Dienstleistungen
in privaten Haushalten, im Hotel- und Gaststättengewerbe,
in der Landwirtschaft

 

 

Zum Weiterlesen
Thorsten Kalina/Claudia Weinkopf: Mindestens sechs Millionen Niedriglohnbeschäftigte in Deutschland: Welche Rolle spielen Teilzeitbeschäftigung und Minijobs?

IAT-Report 3-2006
Thomas Rhein/Melanie Stamm: Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland. IAB-Forschungsbericht 12-2006

Thorsten Schulten/Reinhard Bispinck/Claus Schäfer (Hrsg.): Mindestlöhne in Europa. Hamburg, VSA-Verlag 2006

Gabriele Sterkel/Thorsten Schulten/Jörg Wiedemuth (Hrsg.): Mindestlöhne gegen Lohndumping. Hamburg, VSA-Verlag 2006

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