Widerstand: Streiken für die Würde
Acht Wochen lang streikten Norgren-Mitarbeiter und bewachten ein Werk des Autozulieferers in Baden-Württemberg rund um die Uhr, um den Abtransport von Anlagen ins Ausland zu verhindern. Nun wird die Fabrik für immer geschlossen. Von Stefan Scheytt
Bizarre Szenen spielten sich ab im schwäbischen Großbettlingen nahe Stuttgart. Vor den zwei Werkstoren der Firma Norgren saßen bis Anfang Dezember Norgren-Mitarbeiter nächtens in Zelten auf Campingstühlen. Dick eingepackt gegen die Kälte spielten sie Uno, tranken Tee und knabberten Chips, im Hintergrund stapelten sich Decken auf einem Feldbett. Immer wieder sprang mitten im Spiel plötzlich einer auf, rannte nach draußen zum Werkstor, aus dem gerade rasant ein Pkw fuhr, dessen Kennzeichen und Anzahl der Insassen der Bewacher ins „Torbuch“ eintrug.
Jürgen Groß, Zweiter Bevollmächtigter der IG Metall Esslingen, verglich die Situation einmal mit einem Stellungskrieg: Draußen, in den Zelten vor den Werkstoren, bewachten die Norgren-Beschäftigten seit Anfang Oktober im Vier-Schicht-Betrieb rund um die Uhr ihre Firma, während drinnen etwa ein Dutzend Streikbrecher und Leiharbeiter die Produktionslinien am Laufen hielten. Damit die Streikenden draußen nicht in die Werkshallen schauen konnten, hatten die drinnen die Scheiben mit Kartons verklebt; und an der Pforte verschanzte sich einer der von der Firmenleitung engagierten Sicherheitsleute hinter einem aufgespannten Regenschirm gegen unerwünschte Blicke von draußen.
WIEDERHOLUNGSTÄTER
Schon 2007 und 2009 hatte die zum britischen Konzern IMI (rund 2,2 Milliarden Euro Umsatz) gehörende Norgren-Gruppe versucht, ihr Werk in Großbettlingen zu schließen, das vor allem pneumatische Fluidtechnik für die Nutzfahrzeugindustrie fertigte. Doch damals, erzählt Jürgen Groß, konnte die zu mehr als 90 Prozent organisierte Belegschaft den Plan der Firmenleitung durch Warnstreiks vereiteln. „Damals hat Norgren seine Kunden noch ‚just in time‘ beliefert, der ausbleibende Nachschub bei ZF oder MAN zeigte schnell Wirkung.“ Ende August 2013 dann kündigte die Geschäftsleitung zum dritten Mal die Schließung und Verlagerung des Werks ins tschechische Brünn an. Nur etwa 20 der rund 120 Beschäftigten in Großbettlingen – darunter 79 Festangestellte, gut die Hälfte davon sind Frauen – könne man eine Weiterbeschäftigung im Schwesterwerk im gut 40 Kilometer entfernten Stuttgart-Fellbach anbieten.
Diese dritte Schließungsankündigung, die vom Unternehmen mit einer strategischen Neuausrichtung zur besseren Auslastung und Kosteneffizienz begründet wurde, war für die Belegschaft absehbar und überraschend zugleich: Absehbar, weil Norgren an seinem Standort im niederrheinischen Alpen inzwischen ein Lager aufgebaut hatte – „absolut untypisch für einen Autozulieferer“, meint IG-Metall-Mann Groß; auch dass in Großbettlingen immer mehr Leiharbeiter beschäftigt worden seien, machte die Stammbelegschaft misstrauisch. Andererseits, sagt Betriebsratschefin Nevin Akar, „hat die Geschäftsleitung bis kurz vor der Bekanntgabe der Schließung immer so getan, als würde genau das nicht passieren, als würde man für alles eine Lösung finden“.
Die harte Gangart der Firmenleitung wurde spätestens offenbar, als die Geschäftsführer Ende August die Werksschließung im Schutz mehrerer Sicherheitsleute in der Kantine bekannt gaben, während andere Wachleute die Schlösser am Eingang austauschten, die Stempelkarten von Mitarbeitern deaktivierten und die Pforte übernahmen. „Ab da wurden keine Gespräche mehr zu mir durchgestellt“, berichtet die Betriebsratsvorsitzende, die später vor Gericht auch erstreiten musste, dass sie und ihre Betriebsratskollegen einmal am Tag Zutritt zu den Werkshallen bekamen. Das herrische Auftreten dieser „Bodyguards“ aus Ostdeutschland, „die wie Neonazis aussahen und entsprechende Aufkleber auf ihren Autos hatten“, habe die Stimmung extrem aufgeheizt. „Die überwachten jeden unserer Schritte in der Fabrik, man wollte uns ganz offensichtlich einschüchtern.“ Die Firmenleitung rechtfertigte den massiven Einsatz der Wachleute als Schritt zur „Deeskalation“, erreicht hat sie damit genau das Gegenteil: Nicht nur die Mitarbeiter, auch Außenstehende wie der Bürgermeister, der von den Wachleuten trotz Anwesenheit dreier Polizisten zu einem Gespräch mit der Geschäftsführung eskortiert wurde, zeigten sich entsetzt; der CDU-Bundestagsabgeordnete des Wahlkreises nannte die Sicherheitsmaßnahmen „absurd“.
„DER EINSATZ HAT SICH GELOHNT“
Die letzten Reste an Vertrauen verspielte Norgren dann Anfang Oktober, als an einem Samstagmorgen eine Anwohnerin des Werks den Betriebsrat alarmierte, ein Lkw mit tschechischem Kennzeichen stehe vor dem Werkstor, offenbar bereit, Anlagen mitzunehmen. „Dabei hatten wir das Wort des Produktions- und des Finanzchefs, dass keine Anlagen weggeschafft werden, bis der Interessenausgleich verhandelt ist“, berichtet Gewerkschafter Groß. Mit Autos der IG Metall wurden die Werkstore blockiert, doch eine von Norgren erwirkte richterliche Verfügung mit der Androhung hoher Ordnungsgelder oder Haft veranlasste die Streikenden, die Blockade als Dauermahnwache rund um die Uhr fortzuführen. Zweimal wurden währenddessen Anlagen aus dem Werk fortgeschafft, begleitet vom Pfeifkonzert der Streikenden.
Pfiffe hörte man täglich vor der Firma – wenn leitende Angestellte, Streikbrecher oder Leiharbeiter aufs Werksgelände oder in den Feierabend fuhren. Das Klima war vergiftet. Wochenlang wurde ergebnislos über Interessenausgleich und Sozialplan verhandelt, während draußen Mitarbeiter patrouillierten, immer bereit, die Telefonkette auszulösen, um den Abtransport weiterer Anlagen zumindest lautstark zu begleiten. Anwohner brachten morgens Kaffee und mittags Kuchen, der Schützenverein hat Bratwürste und Schnitzel geschickt und der Sportverein Gaisburger Marsch, in den Streikzelten hingen Solidaritätsadressen aus anderen Betrieben und von Schulklassen („Für die Arbeiter von Norgren“); immer wieder organisierten Betriebsrat und IG Metall Kundgebungen, Menschenketten.
Großbettlingen, Anfang Dezember: Noch immer stehen die Streikenden vor den Werkstoren und begleiten mit Trillerpfeifen jeden, der ein- und ausgeht. Noch immer stehen die Zelte, inzwischen mit Adventskränzen geschmückt. Doch in den Gesichtern liegt auch Erleichterung. Das Werk wird zwar zum Jahresende geschlossen, doch vor der Einigungsstelle haben Betriebsrat und Gewerkschaft mehr erreicht, als viele zu hoffen wagten. „ Die Abfindungen richten sich nach dem vollen Monatseinkommen – Norgren hatte zunächst nur den Faktor 0,4 angeboten“, berichtet Betriebsratschefin Akar; die Transfergesellschaft hat eine Laufzeit von bis zu 24 Monaten, und für rentennahe Jahrgänge gibt es einen Ausgleich für Rentenabschläge. „Damit die soziale Schere nicht auseinandergeht, haben wir die Abfindungen gedeckelt“, erklärt Nevin Akar, „dafür bekommen die befristet Beschäftigten eine Einmalprämie und die Geringverdiener einen Sockelbetrag.“ Ihr Kollege Gerhard Nagel, der für einen Streikbrecher erst vor wenigen Wochen in den Betriebsrat nachgerückt ist, sagt: „Unser Einsatz hat sich gelohnt – finanziell, und weil wir unsere Würde bewahrt haben. Wir mussten denen zeigen, dass sie nicht alles mit uns machen können.“