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Nein, wir wandern nicht aus! No nos vamos. Demonstration der Juventud sin futuro in Madrid. Magazin Mitbestimmung

Von REINER WANDLER: Spanien: Jugend ohne Garantien

Ausgabe 05/2017

Thema Was passiert in Spanien mit den Milliarden aus dem EU-finanzierten Jugendprogramm? Jobs werden bis zur Schmerzgrenze subventioniert, die Ich-AG wird propagiert und bestehende Sozialprogramme umfinanziert, damit Sozialausgaben gespart werden können. Das Magazin Mitbestimmung befragte junge Aktivisten und Gewerkschafter.

Von REINER WANDLER

Dramatische Zahlen über die hohe Jugendarbeitslosigkeit in den südeuropäischen Krisenländern führten 2013 dazu, dass Brüssel das europäische Programm „Jugendgarantie“ auflegte. Die EU stellte dafür 6,4 Milliarden Euro und später weitere 2 Milliarden zur Verfügung, damit jeder Jugendliche spätestens nach vier Monaten ohne Job, „ein qualitativ hochwertiges Beschäftigungsangebot, eine Fortbildung, einen Ausbildungsplatz oder ein Praktikum“ erhält.

Die „Garantía Juvenil“, ein traditionell gestricktes Beschäftigungsprogramm, richtete sich zuerst an 16- bis 25-Jährige und wurde dann auf die bis 30-Jährigen ausgeweitet. Heute, knapp vier Jahre und etliche Milliarden Euro später, müssen die EU-Kommission und der Europäische Rechnungshof eingestehen, dass das Programm nur bedingt Erfolg zeigt. In Spanien, das knapp ein Drittel dieser Gelder erhält, werden Stimmen laut, die ganz offen von einem Scheitern reden. Auch die zweitgrößte spanische Gewerkschaft UGT beklagt den fehlenden sozialen Dialog rund um die Jugendgarantie und warnt davor, dass das Programm so zum Scheitern verurteilt ist.

423 000 nehmen teil, 2249 bekamen einen festen Arbeitsplatz

„Ein Flop“ ist das europäische Arbeitsbeschaffungsprojekt für Miriam Morales, die Sprecherin der Gewerkschaftsjugend bei Comisiones Obreras (CCOO) in Madrid. Auch Victor Reloba, Vizepräsident des Spanischen Jugendrates (CJE) – das ist der Dachverband aller spanischen Jugendorganisationen inklusive Gewerkschaftsjugend –, findet kaum ein gutes Wort. Nach Griechenland ist Spanien das EU-Land mit der höchsten Jugendarbeitslosigkeit. „Bis Ende 2016 haben sich gerade einmal 423 000 – und damit weniger als ein Drittel der Zielgruppe – in die Jugendgarantie eingeschrieben“, erklärt der 25-jährige Reloba. Das liegt weit unter dem EU-Schnitt von 42 Prozent. „Das Programm hätte durchaus Chancen geboten, die wir leider verpasst haben“, sagt die 26-jährige Miriam Morales.

2013 lag die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien bei über 50 Prozent. Heute sind noch immer 43 Prozent der Spanier unter 25 ohne Arbeit. Die Jugendarbeitslosigkeit ist nicht etwa dank des europäischen Programms zurückgegangen: Der bescheidene Rückgang ist vielmehr die Folge ständig zunehmender, befristeter Teilzeitverträge und spiegelt die Auswanderung qualifizierter junger Arbeitskräfte in andere EU-Staaten und nach Übersee wider. So hat die Zahl der Spanier unter 30 Jahre, die im Ausland leben, von 2009 bis 2017 um 79 Prozent zugenommen. Laut Nationalem Statistikamt (INE) sind es mittlerweile 769 845 Personen. Das sind fast doppelt so viele, wie die in der Jugendgarantie Eingeschriebenen.

Sechs Monate danach wieder ohne Arbeit

Die Ergebnisse der Jugendgarantie sind bescheiden: 2016 bekamen gerade einmal 2249 junge Spanier einen festen Arbeitsplatz. 47,5 Prozent derer, die an der Jugendgarantie teilnehmen, warten vier Monate später noch immer vergebens auf ein Jobangebot. Und laut Zahlen des Europäischen Rechnungshofes waren 62,3 Prozent der jungen Spanier, die 2015 eingeschrieben waren, sechs Monate nach Ende des Programms wieder ohne Arbeit und studierten auch nicht. „Ni-ni“ – die „Weder-noch“ – werden diese jungen Menschen in Spanien genannt.

Victor Reloba vom Jugendrat zählt eine ganze Reihe von Faktoren auf, die erklären, warum das Programm in Spanien nicht funktioniert: „Es verstrich fast ein Jahr, bis es überhaupt umgesetzt wurde. Bis heute kennen viele der Jugendlichen aus der Zielgruppe das Programm nicht“, erklärt der CJE-Vizepräsident. Statt der Arbeitsämter kümmerten sich die Autonomen Regionen – vergleichbar mit den deutschen Bundesländern – um die Jugendgarantie. Erst ab diesem Jahr sind die Arbeitsämter angehalten, junge Menschen, die sich arbeitssuchend melden, direkt einzuschreiben.

EU-Gelder wurden benutzt, um Sozialhaushalt zu sanieren

Gewerkschafterin Morales spricht an, was auch der Europäische Rechnungshof beklagt: „Ein Teil des Geldes wurde benutzt, um bereits bestehende Programme zu finanzieren.“ Spanien sanierte damit den Sozialhaushalt. Unten kam oft genau das Gleiche an wie vor der europäischen Intervention. Ein typisches Beispiel ist der „Plan für junge Unternehmer“, mit dem junge Arbeitslose zu Selbstständigen – eine Art spanischer „Ich-AG“ – herangezogen werden sollen. Dieser Plan bestand bereits vor der Jugendgarantie und wurde dann in das europäische Programm integriert.

„Das Programm trägt zur wachsenden Prekarisierung junger Arbeitnehmer bei“, kritisiert Miriam Morales. Nur 20 Prozent der Gelder gehen in die eigentliche Kernaufgabe des Programms, wie persönliche Betreuung und Beratung, Weiterbildung und Vermittlung. 38 Prozent der EU-Gelder gehen in den „Plan für junge Unternehmer“. Weitere 40 Prozent der Gelder werden dazu genutzt, Anreize für die Unternehmer zu schaffen, damit sie junge Arbeitslose einstellen. Wer jemanden aus der Jugendgarantie unter Vertrag nimmt, bekommt sechs Monate lang die Sozialversicherung erlassen. „Deshalb sind viele Teilnehmer des Programms nach einem halben Jahr wieder auf der Straße. Und die Unternehmer stellen den nächsten ein“, sagt Morales und verweist darauf, dass diese Politik das Loch in der Rentenkasse weiter vergrößert.

Spanische Variante der „Ich-AG“

„Der ‚Plan für junge Unternehmer‘ zerstört die Arbeitsverhältnisse, wie wir sie bisher kannten“, sagt Jorge Moruno. Der 34-Jährige ist Soziologe und Autor des Buches „Die Fabrik des Unternehmers“, in dem er die Veränderung des Arbeitsmarktes seit Beginn der Krise 2008 untersucht. Was die Konservativen „Emprendedores“, Unternehmer, nennen, sei meist nichts anderes als ein Scheinselbstständiger, der zu wesentlich schlechteren Bedingungen Arbeiten übernimmt, die früher ein Festangestellter ausführte.

„Wenn du keine Arbeit hast, ist das ganz alleine deine Verantwortung. Sie verlangen, dass du deine eigene Marke schaffst, und im freien Wettbewerb zu allen anderen stehst und dich am besten verkaufst“, analysiert Soziologe Moruno. Die spanische Variante der „Ich-AG“ mache den Arbeiter „zum Aktionär der eigenen Arbeitskraft“. „Und wenn Du scheiterst, verdienst Du es nicht besser“, beschreibt der Soziologe die neoliberale Logik, die hinter dem viel gepriesenen „Unternehmertum“ steckt.

Ein Drittel der arbeitenden Spanier verdient weniger als 600 Euro

Moruno beobachtet eine weitere Degradierung der Arbeitsbedingungen. Zu Beginn der Krise stand der Begriff „Mileurista“, der Tausend-Euro-Verdiener, für den Niedriglohnsektor. „Ein Mileurista ist heute ein glücklicher Mensch“, erklärt Soziologe Moruno. „35 Prozent der arbeitenden Spanier verdienen weniger als 600 Euro im Monat“, zitiert er offizielle Statistiken. Schuld daran ist die Zunahme an Teilzeitverträgen, die meist auch noch befristet sind. Die Arbeitslosigkeit geht zurück. Doch immer weniger Menschen können von ihren Einkünfte vernünftig leben.

„Zwischen 2012 und 2015 stieg die Zahl derer, die trotz Arbeit in Armut leben von 10 auf 15 Prozent“, erklärt der Soziologe. „Die offizielle Begründung lautet: Je billiger (und je prekärer) die Arbeitskräfte, umso mehr Menschen werden eingestellt. Doch das ist falsch“, erklärt Moruno und verweist auf Umfragen, die zeigen, dass 93 Prozent der Unternehmer niemanden einstellen, weil sie niemanden brauchen. Durch die Krise geht der Konsum und damit die Nachfrage zurück. Schlechte Löhne verstärken diese Tendenz noch. „Nur fünf Prozent der Unternehmer geben an, dass die Kosten der Arbeitskraft der Grund für ihre zögerliche Personalpolitik sei“, fügt Moruno hinzu.

Zerstörte Träume, eine chancenlose Generation

„Diese Prekarisierung trifft junge Menschen besonders stark. Zur bisherigen Diskriminierung nach sozialer Schicht und Geschlecht kommt jetzt noch die generationelle Diskriminierung“, sagt Virginia Rodríguez. „Bis 2015 wurde die Jugendgarantie hochgelobt. Jetzt zeigt sich, dass wir damals recht hatten, als wir vor dem Scheitern warnten“, erklärt die 35-jährige Anwältin und Politologin, die die Forschungsabteilung der Stiftung Por Causa koordiniert. Das multidisziplinäre Team aus Soziologen und Journalisten bereitet Daten auf und stellt sie den Medien zur Verfügung. Eine der Studien beschäftigt sich mit der Generation „Ni-ni“ – Weder-noch. „Sueños rotos“ – zerstörte Träume – heißt das Projekt über Spaniens bestausgebildeste Generation, die keinerlei Chancen hat. „Den beiden ni muss ein drittes ni hinzugefügt werden. Weder arbeiten sie, noch studieren sie, noch bekommen sie eine Chance“, sagt Rodríguez.

„Die Jugendgarantie war nichts weiter als ein kleines Pflaster auf einer großen Wunde“, ist sie sich sicher. „Während die EU-Gelder ausgegeben wurden, gingen die Liberalisierung des Arbeitsmarktes und die Prekarisierung weiter. Sie haben eine ganze Generation überrollt“, sagt sie. Die Krise habe das Vertrauen der jungen Menschen in die Institutionen völlig zerstört, fügt sie hinzu. Der Eurobarometer gibt ihr recht. 57 Prozent der jungen Europäer geben dort an, dass die EU und die jeweiligen Regierungen nichts tun, um ihre Situation auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.

Die 27-jährige Esther Herrera ist eine derer, die sich in die Jugendgarantie einschrieben. „Das war 2015. Ich war seit fast zwei Jahren arbeitslos“, erinnert sie sich. Erst nach einigen Monaten kam die Antwort, sie erfülle die Kriterien nicht. Warum? Das ist ihr bis heute nicht klar. Herrera gehört zum „Prekären Büro“, eine Gruppe von jungen Menschen, die sich mit der Situation auf dem Arbeitsmarkt beschäftigen. Sie kommen alle aus dem, was einst die Bewegung „Jugend ohne Zukunft“ (JsF) war. JsF wirkte entscheidend mit bei der Entstehung der Empörtenbewegung 2011 und bei der Gründung der Anti-Austeritätspartei Podemos 2014.

Unsere Erfahrung mit der Jugendgarantie ist, dass die Angebote nicht zu den Qualifikationen passen, erklärt Herrera. Über die Ergebnisse werde nichts bekannt, weil die Behörden keine Statistiken veröffentlichen, was auch Parteienvertreter bestätigen. „Das macht eine Bewertung des Programms unmöglich“, lautet Herreras Fazit. Die Aktivistin kritisiert, was auch die Gewerkschaften kritisieren: dass es kein programmbegleitendes Gremium gibt, in dem Jugend- und Arbeitnehmerorganisationen vertreten sind.

Selbst diejenigen, die eigentlich mit den jungen Menschen aus der Jugendgarantie arbeiten sollen, haben kaum Informationen. Eduardo Cabornero ist Lehrer und Mitglied der Direktion an einer Schule in Entrevías, einem der ärmeren Stadtteile Madrids, an der Erwachsene den Hauptschulabschluss nachholen können. „30 Prozent meiner Schüler gehören zur Zielgruppe der Jugendgarantie, aber nur fünf Prozent sind eingeschrieben“, weiß der 61-Jährige. Cabornero beobachtet eine Entwicklung, die ihm gar nicht gefällt.

Schnelle Kurse und Geschäft mit der Weiterbildung

Denn anstatt die jungen Menschen zu motivieren, den Schulabschluss nachzuholen, werden ihnen von der Jugendgarantie Kurse angeboten, die sie schnell auf ein befristetes, meist schlecht bezahltes Arbeitsverhältnis vorbereiten sollen. „Diese Kurse werden von eigens gegründeten Akademien abgehalten“, sagt er und bestätigt damit etwas, was auch Gewerkschaften und Jugendring immer wieder ansprechen. Die Jugendgarantie privatisiert einen Teil der Bildung und wird so zum Geschäft für diejenigen, die den Behörden und den Landesregierungen, die die Bildungshoheit haben, nahestehen.

„Außerdem werden mit dem Geld aus Brüssel Haushaltsposten beglichen, die bereits zuvor bestanden. So wird ein Teil der Gehälter der Lehrer an den staatlichen Erwachsenenschulen aus diesem Topf bezahlt“, sagt Cabornero. Das sei dem Zuständigen bei den Behörden auf einer Sitzung „rausgerutscht“.

Nicht genug: Spaniens konservative Regierung hat weitergehende Pläne für die Gelder aus Brüssel. Zu den bisher bewilligten 2,36 Milliarden Euro sollen weitere 900 Millionen nach Spanien fließen. Die Idee: künftig die Löhne junger Arbeitnehmer mit bis zu 400 Euro über die Jobgarantie und damit über EU-Gelder zu finanzieren. Das sieht ein Haushaltsentwurf vor, der seit Mai im Parlament diskutiert wird. Der Vorschlag stammt von den rechtsliberalen Ciudadanos, die die konservative Minderheitsregierung von Mariano Rajoy unterstützen. Für die Kritiker wäre dies eine weitere Entwertung der Arbeit. Noch hat sich Brüssel nicht darüber geäußert, ob dies zulässig ist oder nicht.

Fotos: Reiner Wandler; Titelfoto: No nos vamos, Nein, wir wandern nicht aus! Demonstration der Juventud sin futuro 2014 in Madrid.

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