Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungGriechenland: Solidarisch gegen Verarmung
Armutsbekämpfung von unten – mit Projekten der Solidarökonomie stemmt sich die linke griechische Protestbewegung, die eine Basis des Wahlsiegers Syriza ist, gegen die Austeritätspolitik. Von Lukas Franke
In der geschäftigen Akadimias-Straße in Athens Innenstadt könnte man so etwas wie das Zentrum jener Bewegung verorten, die maßgeblichen Anteil am Wahlsieg des linken Parteienbündnisses Syriza hat. Im siebten Stock eines Wohn- und Geschäftshauses eröffnet ein großer Balkon einen Blick auf das Häusermeer der griechischen Hauptstadt; drei Schreibtische in einem kleinen Büro, ein Besprechungsraum, überall Plakate, Flugblätter und sich stapelnde Infomaterialien – das ist die Zentrale des Netzwerks „Solidarity for all“.
Von hier aus koordinieren die Aktivisten, was sie den Dreiklang „Solidarität – Widerstand – Selbstorganisation“ nennen. Was mit der monatelangen Besetzung des Syntagma-Platzes in der Athener Innenstadt im Sommer 2011 begann, hat sich zu einer landesweiten Solidarökonomie entwickelt, die eng mit der Protestbewegung und den verschiedenen Gruppen in Syriza verwoben ist. So schildert es Christos Giovanopoulos Anfang Februar, wenige Tage nach dem Wahlsieg der linken Syriza-Partei, die angetreten ist, die fortschreitende Verarmung großer Teile der griechischen Bevölkerung zu stoppen, und das gegewärtige Europa als Motor der Ungleichheit ansieht.
Giovanopoulos sieht die „Märkte ohne Mittelsmänner“, die Schulen, Rechtshilfeprojekte und Solidarkliniken als Verbindungsglied zwischen dem individuellen Leben der Menschen und der Politik. „Wenn eine Familie die Schulbücher für ihre Kinder nicht bezahlen kann oder Menschen aus ihren Wohnungen geworfen werden, werden sie von unseren Strukturen unterstützt.“ Giovanopoulos ist ein politischer Intellektueller, der vom dialektischen Verhältnis von Protestbewegung und Gesellschaft spricht und immer wieder die aktive Beteiligung der unpolitischen kleinen Leute betont.
Dabei ist ihm wichtig, dass „Solidarity for all“ weder einer Ideologie folgt noch institutionell gebunden ist. Aber: „Diese Bewegung hat das Potenzial zu umfassender sozialer Transformation“, indem sie „post-kapitalistische Organisationsstrukturen“ schafft, sagt er. Es sei eine Bewegung von unten, auch der Begriff „Multitude“ fällt, der von den Stars der globalisierungskritischen Linken, Antonio Negri und Michael Hardt, geprägt wurde und politische Netzwerke als Kern des Widerstands ausmacht. „Während die Troika im Auftrag der Märkte demokratische und soziale Errungenschaften massiv beschnitten hat, wendet der demokratische Souverän das Spiel und bietet der Herrschaft des Marktes die Stirn“, analysiert Giovanopoulos mit spürbarer Euphorie. Und schildert, was kein Geheimnis ist: wie eng verwoben die Verbindungen sind zwischen der Protestbewegung gegen die Troika, der neu entstandenen Solidarökonomie und dem Parteienbündnis Syriza.
MÄRKTE OHNE ZWISCHENHÄNDLER
Im Schatten des riesigen Karaiskaki-Stadions in Piräus, der größten Hafenstadt des Landes, feiert an einem Sonntag im Februar einer jener „Märkte ohne Mittelsmänner“ sein zweijähriges Bestehen. Von Grundnahrungsmitteln über Toilettenartikel bis zu Olivenöl und Honig aus lokaler, biologischer Produktion gibt es vieles, das auch in Köln oder Berlin auf überteuerten Biomärkten angeboten werden könnte. Mit dem Unterschied, dass hier die gängigen Marktmechanismen ausgehebelt werden: Zwischenhändler gibt es nicht, die Waren kommen direkt von den Erzeugern im Umland von Athen, Preise werden durch ein Organisationskomitee im Konsens mit allen Beteiligten festgelegt.
Wer etwa Kartoffeln, Bohnen und Olivenöl braucht, muss einige Tage vorher eine Bestellung aufgeben und kann seinen Einkauf dann zu einem Preis abholen, der rund ein Drittel unter dem durchschnittlichen Marktpreis liegt, ein kleines Kontingent wird auch an jene verteilt, die weniger oder gar nichts zahlen können. Rund 400 solcher Märkte gibt es in Griechenland, etwa 80 davon in Athen, jeweils organisiert auf freiwilliger und ehrenamtlicher Basis. Und weil heute zweijähriges Jubiläum ist, gibt’s Spanferkel, Brot, Wein und Livemusik – und in den Pausen erklingt die „Internationale“. Die meisten Aktivisten und Organisatoren sehen sich im programmatischen Einklang mit Syriza, viele sind Mitglied. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist es ihnen wichtig, den unpolitischen Charakter der Veranstaltung zu betonen, es gehe zuvorderst um Armutsbekämpfung, darum, der Krise zu begegnen und Hilfe zur Selbsthilfe zu organisieren. Praktischer Widerstand gegen das Spardiktat wird als willkommener Nebeneffekt betrachtet.
KLINIK DER SOLIDARITÄT
Ein paar Kilometer weiter, in Korydalos, einer der gesichtslosen Vorstädte im Moloch Athen, befindet sich mitten in einem eintönigen Wohngebiet die örtliche „Klinik der Solidarität“ in einem ehemaligen kommunalen Krankenhaus. Seit das „Reformprogramm“ rund 3,1 Millionen Griechen aus der Krankenversicherung geworfen hat, meist, weil sie länger als ein Jahr arbeitslos waren, ist die medizinische Grundversorgung zu einem der drängendsten Probleme geworden. Auf eineinhalb Stockwerken arbeiten Zahnärzte, Kinderärzte, Gynäkologen und Orthopäden, aber auch auf komplexe Ausstattung angewiesene Fachrichtungen wie Kardiologen, Radiologen und sogar Neurochirurgen im Schichtdienst, an fünf Tagen die Woche von neun Uhr morgens bis in den späten Abend. Jeder kann kommen, von der Zahnbehandlung bis zum Krebsmedikament ist alles kostenlos – wenn vorhanden. Behandlungen finden in vollgestopften kleinen Räumen statt, decken aber ein weites medizinisches Spektrum ab. Ermöglicht wird das durch ein Netzwerk von Apothekern, die Medikamente und Verbrauchsmaterialien spenden, und durch Sachspenden aus dem europäischen Ausland; auch aus Deutschland ist ein Röntgen- und Ultraschallgerät dabei. Ähnlich arbeiten rund 40 Solidarkliniken im Land, elf davon allein im Großraum Athen.
Öffentliche Zuwendungen gibt es keine, lediglich das Gebäude werde ihnen von der Kommune überlassen, und das nur, weil es hier eine Syriza-Bürgermeisterin gibt, sagt Quin Minassian. Sie ist im Hauptberuf Lehrerin und das organisatorische Zentrum der Klinik. Sie und ihr Kollege Kyriakos Psaroulis, einer von 14 Zahnärzten, wollen ausdrücklich keine Philanthropen und Wohltäter sein. Sondern politisch. So ist für Psaroulis „jede Zahnbehandlung ein Akt der Solidarität und des Widerstands gleichermaßen, der den Menschen ein Stück ihrer Würde zurückgibt und der von der EU verordneten Verarmung etwas entgegensetzt“. Er erzählt, dass er selbst Teil jener Mittelschicht sei, die unmittelbar vor dem sozialen Abstieg stehe, seine eigene Praxis sei seit der Krise um rund ein Drittel weniger ausgelastet und er „nicht mehr in der Lage, kostendeckend zu arbeiten“. Seine Arbeit in der Solidarklinik sei daher auch aus seiner eigenen Situation motiviert, er wolle der grassierenden Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts im Land etwas entgegensetzen.
FES UND DGB SEHEN CHANCEN
Im bürgerlich-wohlhabenden Teil der Athener Innenstadt deutet zunächst nichts darauf hin, dass dieser Zusammenhalt bedroht sein könnte. Elegante Boutiquen, Feinkostläden und teure deutsche Luxusautos prägen das Quartier, das bevorzugter Sitz der meisten Botschaften und international tätigen Organisationen ist, darunter auch der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Büroleiter Christos Katsioulis, Sohn griechisch-schwäbischer Eltern, war 2012 nach Athen gekommen, nachdem die Berliner FES-Zentrale ihre griechische Zweigstelle – die EU-Mission schien erledigt – krisenbedingt wieder eröffnet hatte. Katsioulis sagt im Gespräch, die Krise in Griechenland treffe mit voller Wucht einen weithin dysfunktionalen Staat und eine Gesellschaft im Umbruch. Die neue Regierung könne durchaus eine Chance sein, weil sie als erste linke Regierung in der jüngeren Geschichte des Landes weitgehend frei von alten Seilschaften sei. „Solidarity for all“ bezeichnet er als „Produkt von Syriza“, das „sehr geschickt aufgezogen“ sei und der Partei breite Verankerung und Akzeptanz in der Gesellschaft verleihe.
Katsioulis formuliert harsche Kritik an der Koalition mit den rechtspopulistischen und verschwörungstheoretischen „Unabhängigen Griechen“, zeigt aber viel Verständnis etwa für die post-keynesianischen Vorschläge des neuen Finanzministers und Ökonomen Yanis Varoufakis, an denen nichts Radikales zu erkennen sei. Er beschreibt Syriza als eher fragiles Bündnis, das ein Spektrum von linken Sozialdemokraten über pragmatisch-undogmatische Linke bis zu Gruppierungen aus der Tradition des Eurokommunismus abdecke. Trotzdem räumt er der Links-Regierung gewisse Chancen auf Erfolg ein. Voraussetzung sei einerseits, dass die neue Regierung längst überfällige Strukturreformen insbesondere im Bereich der öffentlichen Verwaltung und der Finanzadministration angehe, andererseits müsse sich auch die EU auf einen neuen Deal einlassen, der Staat und Wirtschaft wieder Luft zum Atmen lasse. Dann, so hofft er, könne die Wahl in Griechenland bestenfalls den Beginn einer Trendwende in der EU markieren, weg von der marktradikalen Politik merkelscher Prägung, hin zu mehr sozialem Ausgleich und wirtschaftlicher Vernunft.
Damit stößt der Athener FES-Vertreter in das gleiche Horn wie die Vorsitzenden der DGB-Gewerkschaften, die in einer gemeinsamen Erklärung dazu aufrufen, die griechische Wahl als Chance zu begreifen, die „Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU grundsätzlich zu überdenken und zu korrigieren“. Unter dem Aufruf www.Europa-neu-begruenden.de plädieren sie im Netz nicht nur für eine Abkehr von der bisherigen „Politik des Abbaus“ und fordern einen „europäischen Investitionsplan“, der etwa die dramatische Abwanderung hoch qualifizierter junger Arbeitnehmer aus Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern beenden solle, es geht ihnen um mehr demokratische Legitimität in der EU: „Das europäische Projekt wird nicht durch Spardiktate gestärkt, sondern nur durch die demokratische Initiative von unten für wirtschaftlichen Wiederaufbau und mehr soziale Gerechtigkeit.“
Sie wenden sich damit gegen die auch von der deutschen Bundeskanzlerin gerne bemühte Politik der Alternativlosigkeit, die vom britisch-griechischen Staatsrechtler und Philosophen Costas Douzinas als „Sozialismus für die Reichen, Kapitalismus für die Armen“ beschrieben wurde. Douzinas ist einer der Vordenker hinter „Solidarity for all“, der in Essays wie „The Mediterranean to Come“ die aktuelle Krise in einen größeren politischen und historischen Zusammenhang stellt, und im Angesicht der von Austerität und Unsicherheit geprägten griechischen Gegenwart an ein Europa erinnert, das für Humanismus, Aufklärung und universell gültige Menschenrechte steht.
EU ALS MOTOR DER UNGLEICHHEIT
Die Gegenwart sieht freilich anders aus. Europa wird als Motor der Ungleichheit betrachtet, die griechische Gesellschaft ist tief gespalten – nicht nur zwischen Arm und Reich. Welche Gräben sich auch zwischen offiziell befreundeten Gruppen und Lagern auftun, das zeigt sich bei einem Besuch des griechischen Gewerkschaftsbundes GSEE. Dessen an einer achtspurigen Ausfallstraße liegender Hauptsitz ist von zahlreichen bunten Klecksen verziert, wie sie Farbbeutel hinterlassen, die wütende Demonstranten zum Einsatz bringen. Zoe Lanara, Leiterin der Abteilung Internationales, beschreibt mit routinierter Empörung, was nicht nur in ihren Augen ein groß angelegter Angriff auf in Jahrzehnten erkämpfte Rechte der Beschäftigten ist: das Ermöglichen sogenannter „gelber“ Gewerkschaften, der massive Abbau von Schutzrechten, die Absenkung der Löhne, der Abbau von Sozialleistungen – kurz, all das, was der vor wenigen Jahren noch um die fünf Prozent dümpelnden Syriza einen erdrutschartigen Sieg bescherte und die Altparteien Nea Dimokratia und PASOK mit einem Paukenschlag in die Bedeutungslosigkeit verbannte.
Die schwer beschäftigte Zoe Lanara berichtet von 37 Generalstreiks und einer Reihe von Prozessen, zu denen der griechische Gewerkschaftsbund GSEE seit 2010 aufgerufen habe, „Solidarity for all“ hingegen ist für sie nur eine von vielen Nichtregierungsorganisationen, der sie keine weitere politische oder gesellschaftliche Bedeutung zuspricht. Der Syriza-Regierung steht sie abwartend-skeptisch gegenüber – während sie auf die Frage nach möglichen innergriechischen Ursachen für die gegenwärtige Krise eine klare Position hat: Schon die Frage sei „absolut falsch“ ebenso wie die Diskussion um überhöhte Tarifverträge für einzelne Berufsgruppen, schließlich seien diese freiwillig verhandelt worden.
NEUE REGIERUNG, ALTE LAGER
Lanara mag nicht für alle Lager innerhalb des Gewerkschaftsbundes der GSEE sprechen, vereinzelt gibt es durchaus Zusammenarbeit mit den neuen Initiativen, etwa im Fall einer Solidaritätsschule im nahen Piräus, die von gewerkschaftlich organisierten Lehrerinnen für Kinder verarmter Familien betrieben wird. Doch zeigt sich an den Standpunkten des GSEE, dass viele gesellschaftliche Gruppen in Griechenland noch in den alten Lagern von Nea Dimokratia und PASOK denken und zuweilen auch das Verständnis dafür fehlt, dass es durchaus nicht nur die EU ist, die für die Misere Griechenlands verantwortlich ist.
Alle müssen sich bewegen, auch Syriza und „Solidarity for all“, die nun nicht mehr Opposition und Protestbewegung sind. Offen ist, ob es der neuen Regierung in Athen gelingt, Sozialstaat und Demokratie gegen den Druck aus Brüssel und Berlin zu verteidigen und eine wirtschaftlich nachhaltige Politik zu etablieren – während sie von den deutschen Medien als „Linkspopulisten“ und „Geisterfahrer“ abgewatscht werden. Offen ist auch, ob sich andere europäische Länder dem Signal aus Athen anschließen, wie Spanien mit Podemos als neuer linker Kraft die derzeit die etablierten Parteien in den Schatten stellt.