zurück
Magazin Mitbestimmung

Netzpolitischer Dialog: So geht gute digitale Arbeit

Ausgabe 12/2014

Mit dem Strategiepapier für „Gute Arbeit in Zeiten des digitalen Umbruchs“ setzt die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di arbeitspolitische Akzente im netzpolitischen Dialog.  Von Lothar Schröder, ver.di-Bundesvorstandsmitglied

Die Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeitswelt, seit Langem im Gange und bereits weit fortgeschritten, erfährt derzeit einen massiven Beschleunigungsschub. Big Data und zunehmend „intelligente“ Algorithmen, die umfassende Vernetzung von Maschinen und das Internet der Dinge, der Vormarsch immer leistungsfähigerer Roboter, autonome Fahrzeuge und die (Selbst-)Überwachung von Menschen mittels mobiler Kleinstcomputer sind nur einige Erscheinungsformen der gegenwärtigen Dynamik und Totalität des technologischen Umbruchs. 

Die digitale Vernetzung lässt alte Geschäftsmodelle brüchig werden und neue entstehen, sie verändert Wertschöpfungsketten, Märkte und Branchen, und sie eröffnet eine Vielzahl an Optionen für neue Arbeitsformen. Im Zuge dieser Umwälzungen kann nachhaltige Beschäftigung entstehen und Erwerbstätigkeit in mancherlei Hinsicht besser, vor allem selbstbestimmter werden, etwa was deren räumliche und zeitliche Gestaltung anbetrifft. 

Solche möglichen Fortschritte werden sich jedoch keineswegs im Selbstlauf einstellen: Sollen die emanzipatorischen und arbeitsplatzschaffenden Chancen des Wandels möglichst vielen Menschen zugutekommen, so bedarf dies der gezielten gestalterischen Initiative, der regulierenden und flankierenden Intervention. 

Bleibt die Entwicklung dagegen allein einer kurzsichtigen Profitlogik, dem freien Spiel der Marktkräfte und vermeintlichen technischen Sachzwängen unterworfen, dann drohen gravierende Jobverluste, ein erdrückendes Kontrollregime bei der Arbeit, die weitere Ausbreitung prekärer Beschäftigung und die Steigerung der Arbeitsintensität; dies alles forciert die Zunahme psychischer Belastungen und Erkrankungen.

1. Wir wollen Beschäftigung fördern und die Beschäftigungsbilanz des Wandels möglichst positiv gestalten.

Die digitale Vernetzung wirkt als dynamischer Innovationstreiber, der eine Fülle an neuen Produkten und Dienstleistungen ermöglicht und immense Potenziale für Wertschöpfung und Beschäftigung erschließt, die es auszuschöpfen gilt. Zugleich kann menschliche Arbeitskraft durch digitale Techniken effizienter gestaltet und in vielen Fällen sogar ganz ersetzt werden. Von entscheidender Bedeutung ist es deshalb, die Beschäftigungsbilanz des Wandels durch gezielte Förderung arbeitsplatzschaffender Innovationen und eine Umlenkung von Produktivitätsgewinnen in gesellschaftliche Bedarfsfelder möglichst positiv zu gestalten, sodass insbesondere gesellschaftlich notwendige und soziale Dienstleistungen gefördert werden.

2. Wir wollen Qualifizierung forcieren: Die Rationalisierungserträge digitaler Automatisierung müssen auch der (Re-)Qualifizierung von Beschäftigten zugutekommen. 

Im Zuge der Digitalisierung entstehen neue Jobs, für viele Erwerbstätige verändern sich Arbeitsinhalte grundlegend, auch werden bisher gefragte Fähigkeiten und Kenntnisse nicht selten obsolet. Angesichts dieser Verschiebungen im qualifikatorischen Gefüge der Arbeitsgesellschaft bedarf es verstärkter Anstrengungen auf allen Ebenen des Bildungssystems, namentlich in der beruflichen Aus- und Weiterbildung, um die Beschäftigungsfähigkeit der Menschen sichern und die Beschäftigungschancen des Wandels nutzen zu können. Die Rationalisierungserträge digitaler Automatisierung müssen deshalb auch der (Re-)Qualifizierung der betroffenen Beschäftigten zugutekommen, zum Beispiel im Wege erhöhter Investitionen und verlängerter Weiterbildungszeiten.

3. Wir wollen gesundes Arbeiten durch tarifvertragliche und gesetzliche Regelungen, die ein Recht auf Nichterreichbarkeit und Nicht-Reaktion garantieren. 

Digital vernetzte Arbeit ist häufig mit Erleichterungen und erweiterten Freiräumen für Beschäftigte verbunden, aber auch mit Entgrenzungen, Gefährdungen und Belastungen, die aufgrund steigender Arbeitsintensität und Verantwortung vor allem im psychischen Bereich zugenommen haben. Erweiterte Freiräume und Verantwortung verkehren sich bei unzureichenden Ressourcen und Prekarisierung der Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse von Chancen in – auch gesundheitliche – Risiken. 

Relevante Normen und ergonomische Standards des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, die für ortsfeste Arbeitsplätze gelten, kommen bei ortsflexibler Arbeit bislang nicht wirksam zur Anwendung. Den gesundheitsgefährdenden Folgen einer digital erweiterten Erreichbarkeit und Verfügbarkeit von Beschäftigten ist durch geeignete tarifvertragliche und gesetzliche Regelungen entgegenzuwirken, die ein Recht auf Nichterreichbarkeit und Nicht-Reaktion außerhalb zu vereinbarender Arbeits- und Bereitschaftszeiten zu garantieren haben. Erforderlich ist die Anpassung von Arbeitsschutzverordnungen sowie branchenspezifischen Vorschriften des Arbeitsschutzrechts und der Unfallversicherung an die besonderen Belastungen digitaler und mobiler Arbeit.

4. Wir wollen Persönlichkeitsrechte schützen durch Schutz- und Abwehrmaßnahmen, welche auch in einem zeitgemäßen Beschäftigtendatenschutzgesetz normiert werden müssen.

Jedwede Aktivität in digitalen Arbeitsumgebungen und sozialen Netzwerken hinterlässt einen stets größer werdenden „Datenschatten“, der durch ausgefeilte Tracking- und Analysetechniken zu Zwecken der Informationssammlung, der Durchleuchtung, Kontrolle und Steuerung des Verhaltens von Menschen genutzt werden kann – und von immer mehr Arbeitgebern auch entsprechend genutzt wird. Neue, auf dem Crowdsourcing-Konzept basierende Beschäftigungsmodelle zielen auf maximale Transparenz von Arbeit- und Auftragnehmern und setzen auf deren „digitale Reputation“ als wichtigste Voraussetzung einer erfolgreichen Vermarktung von Arbeitskraft. Die eminenten Gefährdungen, die sich aus derlei Praktiken für die Persönlichkeitsrechte von Beschäftigten ergeben, erfordern rechtliche, technische und organisatorische Schutz- und Abwehrmaßnahmen, welche u.a. in einem zeitgemäßen Beschäftigtendatenschutzgesetz normiert werden müssen.

5. Wir wollen Meinungs-, Presse- und Koalitionsfreiheit verwirklichen. Und Vertraulichkeit sichern. 

Vertrauliche Kommunikation ist die Voraussetzung für die Wahrnehmung von Grundrechten wie Meinungs-, Presse- und Koalitionsfreiheit sowie für den Schutz von Berufsgeheimnissen. Sie darf nicht durch die Einführung von Vorratsdatenspeicherung, d.h. der anlasslosen Speicherung von Verbindungs- und Inhaltsdaten, gefährdet werden. Der Staat sollte die Entwicklung einfach nutzbarer Anonymisierungs- und Verschlüsselungsverfahren fördern. Whistleblower in Unternehmen und Behörden sollten gesetzlich besser geschützt werden.

6. Wir wollen Freiräume für mehr Arbeits- und Lebensqualität erschließen, indem Tätigkeitsanteile an einem selbst zu bestimmenden Arbeitsplatz erbracht werden können.

Die digitale Vernetzung hat vielfach die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen, Arbeit räumlich und zeitlich flexibler zu gestalten. Die Nutzung dieser erweiterten Freiräume darf jedoch nicht allein der Dispositionsgewalt der Arbeitgeber überlassen bleiben, sondern muss verstärkt im Interesse der Beschäftigten organisiert werden und der Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensqualität dienen. Deshalb sollten Beschäftigte durchsetzbare Ansprüche auf ein Mindestmaß an Tätigkeitsanteilen erhalten, die während der betriebsüblichen Arbeitszeiten an einem von ihnen selbst zu bestimmenden Arbeitsplatz erbracht werden können. Zur Unterstützung human gestalteter Modelle mobiler Arbeit müssen verstärkt öffentlich geförderte Projekte initiiert werden, die durch eine Arbeitsforschung zu begleiten sind, welche sich gezielt mit den spezifischen Herausforderungen örtlich und zeitlich entgrenzter Arbeit beschäftigen sollte.

7. Wir wollen eine Erweiterung der Mitbestimmungsrechte von betrieblichen Interessenvertretungen bei Out- und Crowdsourcing, Near- und Offshoring. 

Die betriebliche Mitbestimmung basiert heute noch immer weitgehend auf rechtlichen Grundlagen, die lange vor Beginn des digitalen Umbruchs entstanden sind. So stehen beispielsweise den erheblich erweiterten Optionen von Arbeitgebern zur Verlagerung von Arbeitsvolumina und Standorten – auch über nationale Grenzen hinweg – keine adäquaten Mitbestimmungsmöglichkeiten der Interessenvertretungen gegenüber. 

Es bedarf einer Erweiterung der Mitbestimmungsrechte von betrieblichen Interessenvertretungen bei Out- und Crowdsourcing, Near- und Offshoring, um der Gefahr gravierender Einflussverluste von Betriebs- und Personalräten zu begegnen. Darüber hinaus ist die Mitbestimmung durch einen erweiterten Arbeitnehmerbegriff, der der steigenden Anzahl von externen, durch digitale Vernetzung längerfristig in betriebliche Prozesse eingebundenen Erwerbstätigen Rechnung trägt, zu modernisieren.

8. Wir wollen neue Arbeitsformen sozial gestalten, indem für Arbeit auf Netzplattformen (Crowdsourcing) Mindeststandards vereinbart werden. 

Ermöglicht durch die Fortschritte der digitalen Technik, finden derzeit zunehmend neue Arbeitsformen wie „Crowdworking“ Verbreitung, welche sich in ihren Bedingungen erheblich von den Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen klassischer Prägung unterscheiden. Einerseits eröffnen sich hier Erwerbs- und Einkommenschancen für Freelancer, andererseits fehlt es bei diesen – meist über Vermittlungsplattformen im Internet organisierten – Modellen in aller Regel an jedweden Mindeststandards hinsichtlich Bezahlung, Arbeitszeit, Arbeitsschutz und rechtlicher wie sozialer Sicherheit für die Betroffenen. Deshalb droht sich Crowdworking als vornehmlich prekäre, nicht selten 
ausbeuterische Sphäre der Erwerbstätigkeit zu etablieren, von der ein erheblicher Absenkungsdruck auf die Einkommens- und Arbeitsbedingungen der regulär Beschäftigten ausgehen kann. Soll „gute Arbeit“ auch für „die Crowd in der Cloud“ möglich werden, so müssen die genannten Schutzlücken geschlossen und entsprechende Mindestbedingungen rechtlich verankert werden.

9. Forschung fördern!

Zur Unterstützung human gestalteter Modelle mobiler und digitaler Arbeit müssen verstärkt öffentlich geförderte Projekte initiiert werden, die durch eine Arbeitsforschung zu begleiten sind, welche sich gezielt mit den spezifischen Herausforderungen örtlich und zeitlich entgrenzter sowie digitaler Arbeit im Allgemeinen beschäftigen sollte.

Der Beitrag wurde zu Ihrem Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen