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Magazin MitbestimmungVon GUNNAR HINCK: Siemens-Krise: "Die Hütte brennt überall"
Interview Der Vorstand von Siemens will 6900 Stellen streichen, die Hälfte davon in Deutschland. Jürgen Kerner, IG-Metall-Vorstand und Aufsichtsratsmitglied, über drohende Standortschließungen, anstehende Sondierungsgespräche und die Rolle der Politik.
Von GUNNAR HINCK
Herr Kerner, die Arbeitnehmer- und die Arbeitgeberseite bei Siemens haben nach der Eiszeit im November Gespräche vereinbart. Wann fangen diese an?
Die Sondierungsgespräche beginnen jetzt im Januar. Für uns ist ganz klar, dass es sich um ergebnisoffene Gespräche handelt – es sind keine Verhandlungen. Denn wir verhandeln nicht über die Schließungspläne des Vorstands, sondern es geht um alternative Lösungen.
DAS GÖRLITZER TURBINENWERK
Am stärksten ist das Turbinengeschäft Power and Gas (PG) mit über 6000 Stellen betroffen. Allein in Deutschland sollen nach den Vorstandsplänen 2600 Arbeitsplätze wegfallen. Der traditionsreiche Standort Görlitz mit 720 Arbeitsplätzen und der Standort in Leipzig sollen geschlossen werden. Die Pläne für Görlitz haben die Region in Aufruhr versetzt – eine fast 100 Jahre alte Maschinenbaugeschichte ist dadurch bedroht. Zum anderen fehlen in der strukturschwachen Oberlausitz alternative Industriearbeitsplätze.
Sie hatten im November von „kreativen Wegen des Widerstands“ gesprochen, wie der Verweigerung von Mehrarbeit. Gilt das auch für die Zeit der Gespräche?
Ja, es wird weiter Protestaktionen geben. Wenn die Gespräche konstruktiv verlaufen, werden wir die Proteste natürlich genau dosieren. Und solange die Richtung der Gespräche stimmt, wird an den Standorten selbstverständlich engagiert gearbeitet.
Sehen Sie beim Vorstand eine langfristige Strategie? Es gab zahlreiche Sparrunden. Mit dem Programm „Vision 2020“, das erst ein paar Jahre alt ist, sollte Siemens eigentlich zur Ruhe kommen. Da ist von „schlankeren Strukturen“ die Rede, aber auch von einem klaren Bekenntnis zum Kerngeschäft des Unternehmens wie dem Turbinenbereich.
Na ja, der Vorstand hat die Vision 2020 eher als Mittel gesehen, um den Finanzmärkten zu gefallen. Die Finanzinvestoren achten bei Mischkonzernen stark auf die Bewertung der einzelnen Unternehmensbereiche. Es gibt bei Siemens nun einmal Bereiche, die höher bewertet sind als die klassischen Sparten wie der Maschinenbau. Der Vorstand hat offenbar die Sorge, dass radikale Investoren bei Siemens einsteigen. Aber wenn der Vorstand in vorauseilendem Gehorsam das Unternehmen zerlegt und Teilbereiche an die Börse bringt – wie die Medizinsparte – oder jetzt beim Turbinengeschäft die Axt anlegt, ist das doch genau dieselbe Strategie wie die der Finanzinvestoren. Das können und wollen wir nicht weiter mitmachen.
Was schlagen Sie vor?
Wenn ein Geschäftsbereich strukturelle Schwächen hat, dann muss man diesen Bereich neu aufstellen und neue Geschäftsfelder entwickeln. Die Stärke von Siemens ist ja gerade, dass man neue Geschäftsideen aus dem eigenen Haus heraus umsetzen kann, weil das Unternehmen so breit aufgestellt ist. Siemens kann wegen seiner Kompetenzen im Digitalen neue Geschäftsfelder wie vorbeugende Wartungen oder Fernanalysen weiterentwickeln. Das ist gerade im Turbinengeschäft wichtig. Fest steht: Wir müssen die industrielle Breite von Siemens erhalten.
EIN BRUCH MIT DER MITBESTIMMUNGSKULTUR
Gesamtbetriebsrat und IG Metall sehen die Ankündigung als Affront und Bruch mit der Mitbestimmungskultur bei Siemens: Ein gültiger Standortsicherungsvertrag, den Siemens und die IG Metall 2010 geschlossen haben – „Radolfzell II“ genannt – gibt eine Garantie für alle Standorte und schließt einseitige Kündigungen aus. Wenn die Auslastung in einem Werk eine „kritische Größe“ erreicht hat, kann die Garantie für den betroffenen Standort allerdings zurückgezogen werden. Die IG Metall hält diese Klausel, auf die sich der Vorstand beruft, für vorgeschoben – und hat die Zahlen auf ihrer Seite: Der Bereich PG hat im Geschäftsjahr 2017 noch eine Marge von 10,3 Prozent erreicht. Nach Angaben der örtlichen IG Metall liegt die Auslastung des Görlitzer Werks bei 88 bis 95 Prozent, die Auftragsbücher sind voll.
Der Bereich Turbinen, den der Vorstand jetzt verkleinern will und der angeblich in Schwierigkeiten ist, ist laut aktuellem Geschäftsbericht bis heute sehr profitabel mit zweistelligen Renditen.
Ja, und da würden andere Unternehmen sagen: Das ist doch ein richtig gutes Ergebnis. Bei Siemens heißt es sofort, wir müssen nun restrukturieren, also abbauen. Als IG Metall können wir das nicht akzeptieren. Das könnte außerdem dazu führen, dass andere Unternehmen, die tatsächlich nicht so gute Zahlen schreiben, dann mit Verweis auf Siemens Standortschließungen ankündigen. Das wäre ein Dammbruch. Unsere klare Haltung bei Siemens ist: Eine Neuausrichtung bei einem Unternehmen mit hervorragenden Zahlen ist in Ordnung, aber wir akzeptieren keine Standortschließungen und Kündigungen.
Für den Vorstand könnte sprechen, dass die Nachfrage bei großen Turbinen tatsächlich zurückgeht.
Das ist unbestritten. Das liegt daran, dass die Energieerzeugung weltweit zunehmend dezentraler organisiert wird. Aber das ist keine neue Erkenntnis. Wir fordern seit zwei Jahren, dass neue Kompetenzen angesiedelt werden müssen. Leider ist bis heute nichts passiert. Dazu kommt, dass an den Standorten, die der Vorstand schließen oder verkleinern will, die großen Turbinen überhaupt nicht gebaut werden – weder in Görlitz noch in Berlin, Leipzig und Erfurt. Der Vorstand trägt gebetsmühlenartig ein Argument vor, um Standortschließungen zu begründen, das auf die betroffenen Standorte überhaupt nicht zutrifft. In Wirklichkeit geht es dem Vorstand um Ergebnisoptimierung.
Kann es sein, dass der Vorstand in die Belegschaft einen Keil treiben will?
Wir befürchten, dass der Vorstand genau das versucht. Das ist nicht akzeptabel. Gerade im Osten Deutschlands sehe ich für Siemens auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Ein Unternehmen wie Siemens muss und kann akzeptieren, wenn die Margen an einigen Standorten für eine bestimmte Zeit einmal ein paar Prozentpunkte niedriger liegen. Diese Zeit kann man nutzen, um neue Geschäftsfelder anzusiedeln. Wir erwarten vom Vorstand, dass er nicht nur eine China- oder eine Amerika-Strategie hat, sondern auch eine Deutschland-Strategie.
Wenn in Görlitz die Hütte brennt und ein Standort wie Mülheim an der Ruhr glimpflich davonkommt, dann ist das für eine Gewerkschaft eine schwierige Lage.
Die Hütte brennt ja überall. In Mülheim würden nach dem Konzept des Vorstands 700 Arbeitsplätze abgebaut werden – zusammen mit der aktuellen Streichwelle reden wir in Mülheim von 1000 Arbeitsplätzen weniger. Klar für uns ist: Wir wollen in den Sondierungsgesprächen für jeden Standort eine eigene Perspektive mit dem jeweils eigenen Produktspektrum entwickeln.
Arbeitsdirektorin Janina Kugel hat betriebsbedingte Kündigungen nicht ausgeschlossen. Das ist nach dem Standortsicherungsvertrag Radolfzell II nur als letztes Mittel und im Konsens mit der IG Metall und dem Gesamtbetriebsrat möglich. Der Alleingang von Frau Kugel war für Sie wahrscheinlich ein Schlag ins Gesicht, oder?
Genau das ist der Punkt der Eskalation der vergangenen Monate. Offenbar ist Radolfzell II derzeit für den Siemensvorstand keine Handlungsgrundlage mehr. Der Vertrag hat in den vergangenen zehn Jahren dafür gesorgt, dass Strukturveränderungen im Unternehmen ziemlich geräuschlos und effizient verhandelt werden konnten. Es ist ein Schlag ins Gesicht, dass das Erfolgsmodell Radolfzell nun in Frage gestellt wird. Wer einseitig Kündigungen nicht ausschließt, hat offenbar kein Interesse mehr an Radolfzell.
Der Vorstand bezieht sich auf eine Ausnahmeklausel: Wenn Standorte in wirtschaftlicher Gefahr sind, kann demnach von der Standortgarantie abgerückt werden.
Das ist eine Art Schlechtwetterklausel, die es in jedem Sicherungsvertrag gibt. Aber der Vertrag verlangt, dass die Arbeitnehmervertreter von vornherein mit einbezogen werden. Vor der Ankündigung der Pläne hat es kein einziges Gespräch mit der IG Metall und dem Gesamtbetriebsrat gegeben. Von einer Krisensituation kann außerdem nicht die Rede sein, da ja selbst die betroffenen Bereiche immer noch profitabel sind. Sich als Vorstand in so einer Situation auf eine Krisenklausel zu berufen, führt einen Standortsicherungsvertrag ad absurdum. Ein solcher Vertrag entfaltet seine Schutzwirkung doch erst dann, wenn es strukturellen Veränderungsbedarf gibt.
In Dax-Konzernen wie Siemens ist der Einfluss von Finanzinvestoren oft größer, als es ihrem tatsächlichen Stimmrechtsanteil entspricht. Muss die Mitbestimmung reformiert werden, damit es wieder ein Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit gibt und die Margenfixierung eingedämmt werden kann?
Nein, aber wir müssen die Stärken der Mitbestimmung wieder mehr aktivieren. Es gibt neben den radikalen Finanzinvestoren auch Investoren wie Pensionsfonds, die eher an langfristigen Entwicklungen interessiert sind. Ein Vorstand muss die Frage klären, für welche Art von Investoren ein Unternehmen eigentlich attraktiv sein will. Wir erwarten vom Vorstand, dass Siemens als breit aufgestelltes Technologieunternehmen erhalten bleibt und diese Selbstzerlegung durch Abspaltungen ein Ende hat.
Was erwarten Sie in der aktuellen Situation von der Politik?
Die Politik muss ein klares Zeichen setzen, dass die Restrukturierung ohne Standortschließungen über die Bühne geht. Und zweitens: Wenn wir in den Sondierungsgesprächen alternative Lösungen für einzelne Standorte entwickeln, brauchen wir dafür die Unterstützung der Bundesregierung und der betroffenen Landesregierungen. Dazu kann auch eine finanzielle Unterstützung von neuen Geschäftsmodellen an bedrohten Standorten gehören.
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WEITERE INFORMATIONEN
Jürgen Kerner ist Aufsichtsratsmitglied der Siemens AG. Hauptamtlich arbeitet der gebürtige Augsburger seit vier Jahren als Hauptkassierer der IG Metall und hütet damit die Finanzen der Gewerkschaft. 2011 wurde er erstmals in den geschäftsführenden Vorstand der IG Metall gewählt. Zuvor war er Erster Bevollmächtigter in Augsburg. Der 48-Jährige kennt Siemens seit Jahrzehnten: Mitte der 80er Jahre machte er am Augsburger Standort eine Ausbildung zum Informationselektroniker. Er war Jugend- und Auszubildendenvertreter und freigestellter Betriebsrat.
Die Proteste vor Ort gehen im neuen Jahr weiter. Am 19. Januar findet in Görlitz eine große Demonstration statt. Zeitgleich beginnen ergebnisoffene Gespräche von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite. Die IG Metall fordert, dass der Vorstand die Schließungsankündigung zurücknimmt. Erst dann ist die Gewerkschaft bereit zu verhandeln.