Quelle: IMK
Magazin MitbestimmungGlobalisierung: "Sicherheit kostet Geld"
Die Coronakrise ist nicht der einzige Störfaktor der Weltwirtschaft. Sebastian Dullien und Sabine Stephan sprechen über die Grenzen der Globalisierung und ihre Idee, die Resilienz der EU zu stärken. Das Gespräch führten Fabienne Melzer und Kay Meiners
In vielen Branchen sind die Lieferketten in Unordnung geraten und funktionieren kaum noch. Konsumgüter und Vorprodukte für die Industrie sind nicht verfügbar. Sind das Anzeichen für eine Krise der Globalisierung?
Sabine Stephan: Die Coronapandemie hat offenbart, wie verwundbar die Weltwirtschaft ist. Sie hat noch einmal gezeigt, welche Gefahren in einer ungesteuerten Globalisierung liegen. Die Risiken waren bekannt, aber man hat sie lange Zeit unterschätzt oder ausgeblendet. Für die Unternehmen stand der Effizienzgewinn, also der Kostenaspekt, klar im Vordergrund, und man vertraute darauf, auf globalen Märkten jederzeit Zulieferer oder Abnehmer finden zu können.
Sebastian Dullien: Effizienz erhielt den Vorzug vor Resilienz, also Widerstandsfähigkeit in Krisenzeiten. Dass viele Unternehmen nach dieser Maxime gehandelt haben, hat die Widerstandsfähigkeit des gesamten Systems verringert. Aber vermutlich hätte es nicht mal einer Pandemie bedurft, um die Lieferketten an ihre Grenzen zu bringen. Wir erinnern uns daran, dass vor einigen Monaten das Containerschiff „Ever Given“ sechs Tage lang im Suezkanal feststeckte, was zu einem enormen Güterstau auf hoher See und entsprechenden Lieferverzögerungen führte. In Umfragen geben derzeit viele Firmen an, dass sie ihre Lieferketten überdenken wollen.
War die Coronapandemie nur eine Art Katalysator für eine Krise, die tiefere Ursachen hat?
Stephan: In den vergangenen Jahren gab es eine Reihe von Schocks wie die globale Finanz- und Wirtschaftskrise, die Eurokrise, den Brexit und die protektionistische US-Handelspolitik von Donald Trump, die der Globalisierung kräftige Dämpfer verpasst und bereits zu einer gewissen Desintegration von Handelsbeziehungen geführt haben. Die Coronapandemie ist ein weiterer Schock, der diese Entwicklung weiter antreiben dürfte.
Wie teuer werden diese Engpässe für uns?
Dullien: Wir gehen davon aus, dass ein Drittel, vielleicht sogar über die Hälfte der Autos, die in diesem Jahr in Deutschland hätten gebaut werden können, nicht vom Band liefen. Vor Corona wurden in Deutschland rund 4,5 Millionen Autos gebaut, es fehlen also mindestens 1,5 Millionen Fahrzeuge. Bei einem Durchschnittspreis von vielleicht 30.000 Euro ergibt allein das einen Umsatzverlust von mehr als einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Aber was heißt das? Weniger Wohlstand für alle?
Dullien: Wenn man Lieferketten anders organisiert, werden viele Güter und Vorprodukte im Zweifel etwas teurer werden. Die Frage ist, ob das automatisch weniger Wohlstand bedeutet. Wohlstand definiert sich ja nicht allein durch die Möglichkeit, billige Konsumgüter aus Asien zu importieren, sondern auch beispielsweise dadurch, dass wir in der Lage sind, bei einer Krise im Gesundheitssystem relativ schnell an die notwendigen Materialien zu kommen, Schutzkleidung etwa, oder dass bei wichtigen Medikamenten wie Antibiotika die Versorgungssicherheit gewährleistet ist. Wenn man all dies berücksichtigt, sehe ich unseren Wohlstand durch eine teilweise Deglobalisierung nicht in Gefahr.
Was kann die Politik, was kann die neue Bundesregierung in dieser Situation unterstützend tun?
Stephan: Es war doch erstaunlich, dass in der Coronakrise, als plötzlich die Bänder stillstanden, von ganz vielen Seiten der Ruf nach einem Eingreifen des Staates laut wurde, also nach einer aktiven Industriepolitik. All die Jahre und sogar Jahrzehnte zuvor hat Industriepolitik bei uns kaum noch eine Rolle gespielt. Der Paradigmenwechsel, der sich da andeutet, könnte uns helfen. Angesichts der sozialökologischen Transformation haben wir einen enormen Gestaltungsbedarf. Wenn man der Krise etwas Gutes abgewinnen will, dann ist es vielleicht die Bereitschaft, wieder stärker über eine aktive Industriepolitik nachzudenken.
Wie könnte eine solche Politik aussehen?
Dullien: Es geht vor allem darum, dass wir die Fähigkeiten, strategisch wichtige Produkte herzustellen, in Europa halten oder wieder neu schaffen. Auf das Gesundheitssystem übertragen, hieße es, dass unsere Kliniken und Arztpraxen einen gewissen Anteil von Medikamenten und Medizinprodukten kaufen, die tatsächlich in Europa hergestellt wurden. Das kann man erreichen, indem man einen gewissen Produktionsanteil in der EU zur Voraussetzung der Erstattung durch die Kassen macht.
Wie das?
Dullien: So könnte man zum Beispiel relativ schnell zumindest einen Teil der Antibiotikaproduktion, die heute überwiegend außereuropäisch stattfindet, wieder nach Europa zurückverlagern und damit die Abhängigkeit verringern. Ein anderes Beispiel ist die Elektromobilität. Hier ist die Batteriezellenproduktion von strategischer Bedeutung. Wenn man da fast komplett von Asien abhängig ist und es zu Produktionsunterbrechungen kommt, stehen unsere Autohersteller vor einem großen Problem. Deshalb fördert die Politik die Ansiedlung von Produktionskapazitäten für Batteriezellen in der EU.
Muss der Staat den Aufbau dieser Produktionskapazitäten eine Zeit lang subventionieren? Und lassen sich dadurch Industrien, die weitgehend abgewandert sind, einfach wieder zurückholen?
Dullien: Wir brauchen die Industriepolitik, um Lücken bei strategisch wichtigen Technologien zu schließen und den Anschluss an die Marktführer wieder herzustellen. China scheint das gut zu gelingen. Ich sehe keinen Grund, warum das nicht auch in Europa gelingen kann. Die USA praktizieren das ja auch, beispielsweise bei Halbleitern der neuesten Generation. Und man sieht, dass es funktioniert. In vielen Fällen werden diese Produkte nach einer Anschubphase marktfähig und profitabel sein; dann benötigt man die Subvention nicht mehr. In anderen Fällen muss man sich wahrscheinlich auf eine dauerhafte Subventionierung einstellen.
Wir sind Zeugen einer zunehmenden Systemkonkurrenz zwischen den USA und China. Wie kann sich Deutschland als kleines Land in diesem Machtkampf zwischen dem alten Multilateralismus und neuen, machtbasierten Ökonomien positionieren?
Dullien: Wir müssen europäisch denken. Nicht Deutschland allein, sondern die EU steckt mittendrin in diesem Machtkampf zwischen China und den USA um die ökonomische und systemische Vorherrschaft. Teilweise kann Europa mit den USA zusammenarbeiten. Aber da, wo die Interessen unterschiedlich sind, muss Europa auch eigenständig handeln können. Wir haben am Handelskonflikt mit Donald Trump gesehen, wie erpressbar Europa ist.
Gibt es denn Signale für eine neue Eigenständigkeit der EU?
Stephan: Ja, die gibt es. Unter dem Motto der „offenen strategischen Autonomie“ will die EU ihre ökonomischen und geopolitischen Interessen in Zukunft eigenständiger und offensiver verfolgen. Dabei geht es auch darum, Abhängigkeiten zu reduzieren, zum Beispiel beim Zugang zu knappen Rohstoffen. Anders als die EU hat China in den vergangenen Jahren eine sehr strategische Rohstoffpolitik betrieben und sich durch die Finanzierung großer Infrastrukturprojekte insbesondere in Afrika den Zugang zu wichtigen Rohstoffen langfristig gesichert.
Das chinesische Modell trägt neokoloniale Züge. China fragt nicht nach Menschenrechten, sichert sich mit Krediten Einfluss und Rohstoffe und liefert Fertigwaren. Was müsste die EU anders machen?
Stephan: Eine gute, solidarische Globalisierung auch für die Entwicklungsländer würde voraussetzen, dass die EU ihre Handelspolitik verändert. Die EU müsste zum Beispiel den eigenen Markt einseitig für Entwicklungsländer öffnen. Eine gegenseitige Marktöffnung, wie sie die EU in ihren Handelsabkommen vereinbart, macht nur bei ökonomisch gleich starken Handelspartnern Sinn. Ökonomisch schwächere Partner haben bei solchen Vereinbarungen stets das Nachsehen.
Gibt es konkrete Anstrengungen, etwas zu ändern?
Stephan: Nein, es wird zwar viel geredet, aber de facto hält die EU an ihrem bisherigen handelspolitischen Kurs fest, auch was die Entwicklungsländer angeht. Bei den großen Handelspartnern herrscht derzeit Funkstille. Weder die USA noch China haben aktuell ein Interesse an Handelsabkommen – sie sind beide stärker auf die Binnenwirtschaft fokussiert. Außerdem muss man sehen, dass das Interesse der USA an Europa ab- und am asiatisch-pazifischen Raum, dem Wachstumsmarkt der Zukunft, zugenommen hat.
Ist das eine Gefahr für unseren Wohlstand, wenn die großen Handelspartner stärker mit sich selbst beschäftigt sind und wir viel Geld für staatliche Industriepolitik und eine Re-Regionalisierung aufwenden müssen?
Stephan: Eine rückläufige Globalisierung muss nicht zwangsläufig Wachstums- oder Wohlstandsverluste bedeuten. Wenn wieder mehr regional gefertigt wird, eröffnet das Wachstumschancen für die entsprechende Region. Außerdem erwarte ich, dass im Zuge einer steigenden Bedeutung von Nachhaltigkeit und Resilienz auch höhere Preise akzeptiert werden. Dass sich an der Zahlungsbereitschaft der Konsumenten etwas ändert, zeigt sich bereits bei Textilien oder Lebensmitteln.
Dullien: Was allein der Brexit und die Ankündigung von Donald Trump, möglicherweise das Freihandelsabkommen NAFTA aufzukündigen, bei den Einkaufsmanagern ausgelöst haben, darf man nicht unterschätzen. Daher würde es mich sehr wundern, wenn wir in den nächsten Jahren eine stärkere Zunahme der Globalisierungstendenzen erleben würden. Die alte Sicherheit, dass alles gut geht, ist weg.
Sabine Stephan ist die Außenhandelsexpertin des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.
Sebastian Dullien ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.