Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungVon ANNETTE JENSEN: Schwarzmarkt für häusliche Pflege
Debatte Geschätzte 400 000 Osteuropäerinnen leben und arbeiten in deutschen Haushalten mit Pflegebedürftigen. Während Agenturen in Polen und Deutschland gut daran verdienen, ist die Lage der Pflegerinnen äußerst prekär.
Von ANNETTE JENSEN
Fast zehn Jahre lang hat Iwanka P. alte Leute in Deutschland gepflegt – doch eine Lohnabrechnung hat die Bulgarin dafür nie bekommen. Über die Jahre hatte sie Verträge mit vier Vermittlungsagenturen. Offiziell traten die als Arbeit- oder Auftraggeber auf. Alle hatten Unternehmensadressen in Polen. Gesehen hat Iwanka keinen ihrer Vertragspartner, alles lief immer online oder übers Telefon. In ihrem letzten Vertrag stand, dass sie weder über dessen Inhalt noch über ihre Lohnhöhe sprechen dürfe – sonst drohten ihr 2000 Euro Strafe.
1250 Euro monatlich hat Iwanka P. zuletzt erhalten und damit sogar deutlich mehr als viele Kolleginnen. Allerdings hatte Herbert H., dessen Frau schwerstpflegebedürftig war, für die 24-Stunden-Kraft 2300 Euro überwiesen. Er hatte einen Vertrag mit einer deutschen Vermittlungsagentur, die mit Iwanka P.s Auftraggeber kooperierte. Aus der Differenz sollte unter anderem Iwanka P.s Sozialversicherung in Polen bezahlt werden.
Doch die 54-Jährige wartet inzwischen über ein Jahr vergeblich auf die 250 Euro, die sie für eine Zahnbehandlung vorstrecken musste. Die Erstattung durch die polnische Krankenkasse läuft über ihren ehemaligen Arbeitgeber – und der schaltet auf Durchzug, seit Iwanka P. gekündigt hat. Dass sie jemals Rentenzahlungen aus Polen erhalten wird, hat sie noch nie geglaubt.
Hunderttausende leben in Haushalten mit Pflegebedürftigen
„Wir beobachten, dass sich der Einsatz osteuropäischer Frauen und manchmal auch Männer in deutschen Haushalten mit pflegebedürftigen Menschen immer weiter ausbreitet“, sagt Sylwia Timm, die im Rahmen des DGB-Projekts „Faire Mobilität“ Beschäftigte berät. Zuverlässige Zahlen gibt es nicht – Timm geht von 300 000 bis 500 000 Personen aus; der Verband für häusliche Betreuung und Pflege rechnet mit 400 000. In der Regel arbeiten die sogenannten „Live-Ins“ ohne Zeitlimit und garantierte Freizeit, weil sie mit den Pflegebedürftigen unter einem Dach leben und sich kaum abgrenzen können.
Osteuropäische Frauen gelten als fürsorglich und zugewandt – und auch die burschikose Iwanka P. hat Verständnis für die Lage der alten und kranken Menschen: „Wenn die Leute wach sind, muss man sich um sie kümmern. Damit habe ich kein Problem. Aber oft kann man auch nachts kaum schlafen und ist dann morgens total kaputt.“ Verträge, die sie im Laufe der Jahre abgeschlossen hat, garantierten ihr einen komplett freien Tag in der Woche, manchmal war auch eine 40-Stunden-Woche vereinbart. „Doch in der Realität geht das nicht.“
Schon die Bezeichnung der Arbeitskräfte als 24-Stunden-Pflegekräfte belegt, dass ihre Beschäftigung mit den geltenden Arbeitszeitvorschriften unvereinbar ist. Doch weder Politik noch Justiz oder Zoll kümmern sich de facto darum. Weil ohne richterlichen Beschluss die Unverletzlichkeit der Wohnung gilt, muss kein Beteiligter mit staatlichen Kontrollen rechnen – und auf dem Papier erscheinen die Verträge meist gesetzeskonform.
Manche Live-Ins arbeiten nur ein paar Tage in einem Haushalt, die meisten sind zwei bis drei Monate lang im Dauereinsatz und fahren dann, meist völlig erschöpft, in die Heimat, bevor sie zum nächsten Einsatz aufbrechen. Bezahlt werden sie in diesen Phasen nicht.
Meist sind es Frauen zwischen 45 und 65 Jahren, die die anstrengende Arbeit auf sich nehmen. Viele haben Schwierigkeiten, in ihren Herkunftsländern eine Stelle zu finden – und immerhin verspricht der Einsatz in Deutschland einen zwei- bis dreimal so hohen Verdienst, als den, den sie in ihren Heimatländern an einer Supermarktkasse verdienen könnten. In vielen Fällen basiert das Einkommen ihrer Familien auf ihrem Lohn.
So tun, als ob sie keine Pflegearbeit machten
Iwanka P. hat einen dreimonatigen Kurs in Bulgarien besucht, in dem sie ein paar Grundfertigkeiten im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen erlernt hat. Die meisten Frauen bringen dagegen keine professionellen Kenntnisse mit. Obwohl von den Agenturen als 24-Stunden-Pflegekraft bezeichnet, dürfen sie offiziell nur Betreuungs- und Haushaltstätigkeiten und keine medizinischen Tätigkeiten übernehmen. Tatsächlich aber verabreichen sie Medikamente, lagern die Kranken um und heben sie – und dabei ruinieren sie oft ihre eigene Gesundheit. Immer mal wieder infiziert sich auch eine Hilfskraft, weil sie nicht über die ansteckende Krankheit eines Patienten informiert war.
Einige Live-Ins kommen über Mund-Propaganda in die Einsatzhaushalte. Viele von ihnen arbeiten schwarz, in Ausnahmefällen schließt der oder die Pflegebedürftige aber auch einen korrekten Arbeitsvertrag ab und meldet die Person bei der deutschen Sozialversicherung an. Meist läuft der Kontakt über die Vermittlungsstellen: Polen ist das zentrale Land für das Anwerben von osteuropäischen 24-Stunden-Kräften. Dort gibt es schätzungsweise 800 Agenturen, die Personal in den Ländern zwischen Litauen und Rumänien suchen. Die Kommunikation läuft ausschließlich online oder übers Telefon.
Getarnt als befristete Dienstreisen
Früher traten diese Firmen als Arbeitgeber auf und es schien so, als schickten sie ihr Personal auf befristete Dienstreisen – fast ausschließlich nach Deutschland oder Österreich. Sogenannte A1-Bescheinigungen belegten, dass die Frauen in Polen sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren.
„Inzwischen sind Auftragsverträge die Regel geworden“, fasst Timm ihre Beobachtungen zusammen. Wie bei Werkverträgen in der Fleischindustrie sind die als Pflegekräfte deklarierten Frauen in diesem Modell selbständig – und bekommen deshalb im Krankheitsfall keine Lohnfortzahlung. Die Vergütungsbedingungen sind sehr intransparent geregelt, ein Großteil der Überweisungen gelten als Spesen oder Provisionen, so dass die Beiträge zur Sozialversicherung ausgesprochen mickrig ausfallen. Für die Agenturen besteht der Vorteil der neuen Vertragskonstruktion auch darin, dass sie in Polen nicht direkt vor einem Arbeitsgericht verklagt werden können, sondern die 24-Stunden-Kräfte allenfalls zivilgerichtlich gegen sie vorgehen können – und das kostet.
„Tatsächlich klagt fast nie jemand. Es fehlt den Frauen an Kraft und Geld“, sagt Sylwia Timm. Sie weiß: Um die Beschäftigten einzuschüchtern beauftragen die Agenturen große Anwaltskanzleien. In diesem Klima der Einschüchterung ist ver.di aktiv geworden und hat über Flyer oder ambulante Pflegedienste Kontakt zu den Haushaltshilfen aufgenommen – ohne Resonanz.
Meist kooperiert das polnische Unternehmen mit einer deutschen Agentur, die als Vertragspartner für die Kundschaft in Deutschland auftritt. Muttersprachliche Ansprechpartnerinnen sollen bei Problemen zwischen den Deutschen und den Osteuropäerinnen vermitteln. „Diese sogenannten Koordinatorinnen haben das Interesse, dass der Kunde nicht verloren geht“, berichtet Timm. Deshalb setzten sie die Frauen in Konfliktfällen unter Druck und suggerierten ihnen, dass sie von der Polizei ausgewiesen werden könnten.
In manchen Verträgen ist auch eine hohe Vertragsstrafe vereinbart, wenn eine Live-In einen Haushalt vorzeitig verlässt. Fast täglich melden sich Frauen aus der ganzen Republik bei Timm. Die Juristin hört sich die Klagen an, prüft die Verträge und bestärkt die Frauen darin, es abzuweisen, wenn etwa der Schwiegersohn auch noch seine Hemden gebügelt haben will. Auch erledigt sie den einen oder anderen Anruf im Namen der Frauen. Doch wirklich helfen kann sie in vielen Fällen nicht. „Unsere Beratungsstellen setzen bestenfalls bei den Symptomen an, aber nicht bei der Krankheit.“
Dabei suchen viele Familien nach Lösungen, um ihre Verwandten so lange wie möglich zu Hause zu behalten. Dabei brauchen sie Unterstützung, denn der Zeitaufwand ist immens und kaum mit voller Erwerbstätigkeit zu vereinbaren, wie die Böckler-Studie „Pflege in den eigenen vier Wänden“ belegt. Die Zeiten für Betreuung, Körperpflege, Arztbesuche, Ernährung und Haushalt summieren sich für eine Person mit Pflegestufe 1 auf fast 50 Stunden wöchentlich, bei einem Menschen mit höchster Pflegestufe sind es über 83 Stunden. In elf Prozent der befragten Haushalte war eine osteuropäische Hilfskraft im Einsatz, da die Pflegeversicherung diese Kosten nicht übernimmt, können sich nur Wohlhabendere eine solche Lösung leisten.
ver.di fordert Lösungen, in Richtung legaler Beschäftigung
Margret Steffen von ver.di verlangt, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu ändern. Zum einen müsste es für Familien und Pflegebedürftige einfacher gemacht werden, die Osteuropäerinnen legal anzustellen; eine Erweiterung der bereits existierenden Regelung für 450 Euro-Kräfte könnte ein Weg sein.
Sollte es Lohnkostenzuschüsse geben, müssten die an die Arbeitnehmerin gehen, um Mitnahmeeffekte zu vermeiden. „Außerdem gehören die dubiosen Vermittlungsagenturen auf den Prüfstand“, fordert Steffen. Sie schlägt eine Registrierung und einen Qualitätscheck vor, so wie es sie in Dänemark und Finnland gibt. Dort benötigen private Betreuer sogar einen staatlichen Auftrag. In Deutschland dagegen findet bisher alles unbeobachtet hinter verschlossenen Türen statt.
Bernhard Emunds, Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts in Frankfurt/Main, macht konkrete Vorschläge, wie sich die Beschäftigungsverhältnisse allmählich in Richtung regulärer Bedingungen verschieben lassen. Er fordert, eine gesetzliche Sonderregelung für die Arbeitszeit von 24-Stunden-Kräften zu schaffen, so wie es sie für SOS-Kinderdorfeltern auch gibt. Darüber hinaus plädiert er für einen Zuschuss von beispielsweise 500 Euro durch die gesetzliche Pflegeversicherung, wenn Angehörige eine Live-In in die häusliche Pflege einbinden und einen Arbeitsvertrag mit ihr abschließen.
Voraussetzung für die Auszahlung ist, sich von einem Wohlfahrtsverband begleiten zu lassen. Der schaut mindestens einmal im Monat vorbei und kontrolliert sowohl die Qualität der Pflege als auch die Arbeitsbedingungen und -zeiten der 24-Stunden-Kräfte. Werden Missstände festgestellt und nicht abgestellt, kündigt der Wohlfahrtsverband den Begleitungsvertrag und dann entfällt der Zuschuss durch die Pflegeversicherung. Bereits heute können Angehörige mit CariFair der Caritas oder vij-FairCare der Diakonie Verträge abschließen, bei denen die Osteuropäerinnen in Deutschland sozialversichert und ihre Arbeitszeiten geregelt sind.
Herbert H. hat sich nach dem Tod seiner Frau entschlossen, Iwanka P. als Haushaltshilfe anzustellen. Dafür musste er nicht nur eine Ablösesumme bei ihrer Agentur entrichten, sondern auch einige Winkelzüge mit dem Arbeitsamt vollführen. Iwanka P. will jetzt endlich richtig Deutsch lernen – und dann selbst eine Agentur eröffnen. Auch die deutsche Staatsbürgerschaft ist ihr Ziel. Doch die Behörden wollen ihr die vergangenen zehn Jahre nicht anrechnen, obwohl sie permanent hier gelebt hat – denn offiziell war sie als 24-Stunden-Kraft ja immer nur auf Dienstreise in Deutschland.
Aufmacherfoto: picture alliance / Westend61
WEITERE INFORMATIONEN
Literatur zur häuslichen Pflege
„Damit es Oma gut geht“ ist der Titel eines sehr lesenswerten und faktenreichen Buchs von Bernhard Emunds, in das auch die Erkenntnisse mehrerer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studien eingeflossen sind. Beim Kapitel zur „Pflege in den eigenen vier Wänden“ nimmt Emunds die Situation de osteuropäischer Frauen in den Blick, deren Jobs er als ungerechte und menschenunwürdige Erwerbsarbeit bezeichnet. Zugleich sieht der Autor, dass die Familien sich in einer existenziell schwierigen Lage befinden und beide Seiten das Arbeitsverhältnis wollen.
Er thematisiert die Rechtsbrüche bezüglich Arbeitszeiten und Mindestlohn und fordert, dass sich die Politik endlich des Themas annimmt. Dabei verlangt er keine radikalen Lösungen, sondern macht Vorschläge, wie die Bedingungen der Live-Ins nach und nach fairer und sicherer gestaltet werden können, so dass die Frauen nicht ihre Arbeit und den für sie vergleichsweise guten Lohn einbüßen. Ein 26-seitiger Aufsatz, der die zentralen Rechercheergebnisse und Forderungen zusammenfasst, ist auf der Homepage der HBS zu finden.
Bernhard Emunds: Damit es Oma gut geht, Westend-Verlag, Frankfurt/Main 2016, 224 Seiten
Böckler-Studie zum Zeitaufwand bei Hauspflege
„Pflege in den eigenen vier Wänden: Zeitaufwand und Kosten“ heißt eine von der Böckler-Stiftung geförderte Studie, die 2017 erschienen ist. Verfasst haben sie Volker Hielscher, Sabine Kirchen-Peters und Lukas Nock. Das Autorenkollektiv hat Pflegebedürftige und ihre Angehörigen befragt, welchen zeitlichen Aufwand sie oder andere Personen damit haben, die zu betreuende Person zu waschen, zum Arzt zu bringen, mit Nahrung zu versorgen oder zu betreuen. Dabei differenzieren sie zwischen informellen und professionellen Kräften. Auch der finanzielle Aufwand und die Auswirkungen auf die Erwerbstätigkeit pflegender Angehöriger wird dargestellt. Osteuropäischen Hilfskräften wird ebenfalls ein kurzes Kapitel gewidmet.