Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungVon CARMEN MOLITOR: „Schön, Sie an Bord zu haben“
Portrait Sajid aus Bangladesch und Somayeh aus dem Iran machen beim Spezialchemiekonzern Evonik Industries in Marl eine Ausbildung, auf die sie vom Unternehmen vorbereitet wurden. Für Geflüchtete will Personalvorstand Arbeitsdirektor Wessel das Programm „Start in den Beruf“ deutlich ausweiten.
Von CARMEN MOLITOR
Sie wurden im Berufsvorbereitungsprogramm fit gemacht: Sajid K. aus Bangladesch und Somayeh J. aus dem Iran. Wir treffen sie im Evonik-Ausbildungszentrum im Chemiepark Marl. Beiden aus ihrer Heimat Geflüchteten gelang nach dem Starterkurs im Herbst 2016 der Sprung in eine reguläre Ausbildung. Sajid K. engagiert sich bereits in der Jugend- und Auszubildendenvertretung. „Ich freue mich, die beiden mit an Bord zu haben“, sagt Evonik-Personalvorstand und Arbeitsdirektor Thomas Wessel. „Ich bin sicher, sie werden ihre Ausbildung bei uns erfolgreich abschließen.“
„Ich komme gern in den Betrieb und bin dort glücklich“
Asylbewerberin Somayeh J. aus dem Iran macht bei Evonik in Marl eine Ausbildung zur Chemikantin. Sie liebt Chemie, Physik und Mathe, Rechnen beherrscht sie aus dem FF. Nur mit der deutschen Sprache stehe sie manchmal noch auf Kriegsfuß, seufzt die 32-jährige Somayeh J. Im Jahr 2013 war die junge Polizistin allein ohne ihre Familie und ohne ihre Tochter aus dem Iran über Italien nach Deutschland geflüchtet. Sie ist gut ausgebildet, hatte im Iran ein paar Semester Bauingenieurswesen studiert. Doch ohne flüssiges Deutsch in Wort und Schrift fiel ihr die Jobsuche hierzulande lange schwer. „Ich habe an so viele Firmen eine Bewerbung geschrieben“, erzählt Somayeh J. Auch bei der deutschen Polizei bewarb sie sich. „Aber den Aufnahmetest habe ich nicht geschafft“, sagt sie. „In Mathe habe ich alles richtig gemacht, aber in Deutsch und Politik … naja.“
Anfangs schlug sich die Iranerin mit ein paar Brocken Englisch im Alltag durch. Frankfurt am Main und Dortmund waren ihre ersten Durchgangsstationen in Deutschland. Inzwischen hat sie eine Aufenthaltsgenehmigung und lebt in einer kleinen Wohnung in Marl. Somayeh erzählt, wie sie einmal in der Apotheke auf Englisch nach einem Medikament fragte, aber harsch zurechtgewiesen wurde: „Du musst hier Deutsch sprechen, wir sind ja nicht in England!“, forderte die Apothekerin. Somayeh verließ das Geschäft und zog ziellos und entmutigt durch die Straßen. Sie setzte sich in eine große Kirche. „Da war es ruhig. Ich war verzweifelt und habe ein bisschen geweint“, erinnert sie sich. Ein Pastor sprach sie daraufhin an. Er hörte ihr zu, bot ihr Hilfe an und vermittelte Somayeh in einen mehrmonatigen Deutschkurs. Sie machte die 9. Klasse nach. Es ging voran.
Die berufliche Wende kam, als sie sich 2015 für „Start in den Beruf“ bewarb und einen Platz bekam. Jetzt konnte sie sich beruflich neu ausprobieren und einen Plan machen. Sie schnupperte in die Bereiche Elektro und Metall hinein, aber „es hatte nichts mit mir zu tun“, erklärt die Iranerin und lacht. „Ich habe es nicht so mit dem Feilen.“ Dafür weckte der Kurs ihr Interesse an der Arbeit in einem Chemielabor. Somayeh J. entschied sich für eine Laufbahn als Chemikantin. Nach dem Starterkurs bewarb sie sich auf eine Ausbildungsstelle. Mit Erfolg: Am 1. September 2016 begann sie die dreieinhalbjährige Ausbildung zur Chemikantin bei Evonik im Chemiepark Marl. „Ich komme gerne in den Betrieb und bin dort glücklich“, sagt Somayeh. Die Praxis macht ihr großen Spaß, bei der Theorie in der Berufsschule, die sie zwei Mal in der Woche besucht und den Lehrgängen im Ausbildungszentrum muss sie sich durchbeißen. Allein wegen der Sprache.
Die Iranerin weiß, dass es noch einige Jahre dauern wird, bis sie gutes Geld als Chemikantin verdienen wird. Sie will durchhalten. „Ich kenne so viele Flüchtlinge, die als Küchenhilfe jobben. So etwas will ich nicht, denn ich denke an die Zukunft“, sagt sie. Dass sie als 32-Jährige noch einmal einen Job von der Pike auf neu lernen muss, akzeptiert sie. „Wir haben hier alle sowieso bei null angefangen: Wir müssen mit einem neuen Leben, einer neuen Sprache und einer neuen Kultur fertig werden“, erklärt Somayeh. „Also mache ich jetzt eine Ausbildung. Zwar verdiene ich dabei erstmal nicht so gut. Aber in ein paar Jahren habe ich einen guten Job und kann alles machen. Dann hole ich vielleicht meine Tochter aus dem Iran nach. Sie ist jetzt neun Jahre alt.“
START IN DEN BERUF AUCH FÜR FLÜCHTLINGE
Können sich geflüchtete junge Menschen in deutsche Unternehmen integrieren? Ja, lautet die Erfahrung bei Evonik Industries. Bei dem Spezialchemiekonzern wurden 2015 im Berufsvorbereitungsprogramm „Start in den Beruf“ 30 zusätzliche Plätze für Flüchtlinge geschaffen. Nach Ende der Maßnahme machen 21 von ihnen inzwischen eine Berufsausbildung, vier besuchen weiterführende Schulen und drei haben eine Erwerbstätigkeit gefunden. Diese Bilanz zieht nach einem Jahr Thomas Wessel, Personalvorstand und Arbeitsdirektor der Evonik Industries AG. Schon seit vielen Jahren gilt das Starterprogramm, das die Sozialpartner der chemischen Industrie gemeinsam gegründet haben, mit seiner fachlichen und sozialpädagogischen Betreuung als eine zweite Chance auf dem Weg zur Ausbildungsreife – für benachteiligte Schülerinnen und Schüler. Durchschnittlich 80 Prozent der Teilnehmer gelingt so der Sprung in den Arbeitsmarkt. Das Magazin Mitbestimmung berichtete vor einem Jahr vom Start des Kurses. Und von Ali Reza M., einem 22-jährigen Afghanen, der sich alleine auf die Flucht über die Türkei und Griechenland nach Deutschland begeben hatte. Inzwischen hat er eine Ausbildung als Chemielaborant bei Evonik begonnen.
„Es ist schwer, aber interessant“
Sajid K. aus Bangladesch lernt Chemielaborant und engagiert sich in der Jugend- und Auszubildendenvertretung.
Seine Großeltern waren Weber – sein Vater Schneider, seine Mutter Frisörin. Fast alle in der Familie von Sajid K. in Bangladesch hatten etwas mit Stoffen zu tun. Niemand hätte gedacht, dass der 21jährige einmal in dem blitzeblanken Chemielabor von Evonik im Chemiepark Marl stehen und knallbunte Flüssigleiten in hohen Gefäßen vorsichtig miteinander vermischen würde. Wenn alles so gut weiterläuft wie bisher, hat Sajid K. in drei Jahren den Beruf Chemielaborant gelernt. Als Sajid K. 16 Jahre alt war, entschied sein Vater, mit der Familie von Bangladesch nach Europa zu fliehen. „Wir hatten dort Probleme“, sagt Sajid, ohne ins Detail zu gehen. Es verschlug die geflüchtete Familie zunächst ins Münsterland und später nach Gladbeck, wo Sajid K. bis heute mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder zusammenlebt.
Sein Traumberuf waren schon seit seiner Jugend die Naturwissenschaften. Sajid besuchte eine internationale Orientierungsklasse in einer Hauptschule, lernte sehr gut die deutsche Sprache und schaffte den Hauptschulabschluss. Durch ein Betriebspraktikum kam er auf die Idee, in der chemischen Industrie zu arbeiten. In Marl machte er die 10. Klasse auf dem Hans-Böckler-Berufskolleg nach und absolvierte erneut ein Praktikum im chemischen Bereich – diesmal bei Evonik. „Der dortige Chef hat mich gefragt, ob ich Interesse habe, bei ihm eine Ausbildung zu machen“, erzählt Sajid lächelnd. Er bewarb sich, schaffte aber den Einstellungstest nicht. Eine Enttäuschung. Ein paar Wochen nach der Absage kam ein Brief, in dem ihm angeboten wurde, stattdessen erst einmal bei dem Berufsorientierungskurs „Start in den Beruf“ der Evonik Stiftung mitzumachen. „So habe ich bei Evonik angefangen“, erzählt Sajid.
Ursprünglich wollte der 21-Jährige Chemikant werden. „Durch das Starterprogramm habe ich mich aber entschieden, lieber Chemielaborant zu werden“, sagt er. Die anderen dort vorgestellten Fachgebiete erleichterten im die Wahl. Metall und Elektro fand er zwar interessant, doch keines von beiden fesselte sein Interesse. „Die Starterklasse selbst war gut“, schwärmt er. „Es gehörten die normalen Deutschen dazu, aber auch Flüchtlinge. Wir waren eine tolle Truppe.“ Nach dem Starterkurs bewarb sich Sajid für eine Ausbildung als Chemielaborant bei Evonik und bekam eine Zusage. Seine Eindrücke nach dem ersten halben Jahr Ausbildung: „Es ist schwer, viel schwerer als im Starterkurs, aber interessant.“
Bei einem Jugendtreffen während des Starterprogramms hatte Sajid erstmals Berührung mit der Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV) von Evonik. „Ich habe erfahren, was die so machen und mir gesagt: Das interessiert mich! Schon in meiner Heimat Bangladesch habe ich mich immer für andere Menschen engagiert, zum Beispiel in der Schule oder in der Kricketmannschaft“, erzählt Sajid. „2016 haben Leute von der JAV zu mir gesagt: Du machst das!“ Seitdem macht er. Seine Freundlichkeit und verbindliche und zuvorkommende Art, mit Menschen umzugehen, helfen ihm dabei.
Sajid K. hat es akzeptiert, dass er als Geflüchteter jahrelange Schleifen drehen musste, um an die Ausbildung bei Evonik zu kommen. „Ich hatte ja schon in Bangladesch die 9. und 10. Klasse gemacht, aber ich musste sie hier noch einmal machen. Das fand ich nicht so verkehrt. Man kann nicht einfach hierher kommen und in eine Schule gehen, wo man überhaupt nichts versteht. Es hat mich nicht abgeschreckt.“ Eine Lehrerin und Betreuer vom Jugendmigrationsdienst der Diakonie ermutigten ihn, weiter seinen Weg zu einem Facharbeiterjob zu gehen, auch wenn dieser weit und langwierig ist. „Wer als Flüchtling direkt arbeiten geht, kann zwar schnell mehr verdienen“, räumt Sajid ein. „Aber wenn man hier bleiben will, braucht man eine vernünftige Arbeit.“ Er hofft, dass er die Ausbildung erfolgreich abschließen kann. Denn in Deutschland bleiben, das will er auf jeden Fall.
Fotos: Karsten Schöne, Manfred Vollmer (Arbeitsdirektor Thomas Wessel)
EVONIK STIFTUNG WEITET FLÜCHTLINGSPROJEKT AUS
„Das Programm ‚Start in den Beruf‘ hat sich als Brücke in die Arbeitswelt bewährt“, sagte Arbeitsdirektor Thomas Wessel bei einem Pressegespräch in der Essener Konzernzentrale. „Jedes Jahr können wir dem ganz überwiegenden Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine berufliche Perspektive eröffnen.“ Das gelang nun auch bei den jungen Flüchtlingen. Sie wurden – wie alle anderen – in den allgemeinen Starterkurs integriert, erhielten zusätzlich Deutschunterricht. „Alle Teilnehmer durchlaufen das Projekt gemeinsam“, berichtet Wessel. „Und das funktioniert hervorragend – trotz aller Sprachbarrieren und kultureller Unterschiede.“ Das gemeinsame Lernen bringe alle voran; es sei sinnvoll für die jungen Flüchtlinge und motivierend für die deutschen Jugendlichen. „In den kommenden drei Jahren wird die Evonik Stiftung insgesamt 120 zusätzliche Plätze schaffen, davon 60 speziell für Flüchtlinge“, kündigte Thomas Wessel, der auch im Vorstand der Evonik Stiftung sitzt, eine Ausweitung des Programms an. Darüber hinaus unterstützt die Evonik Stiftung in Zusammenarbeit mit der Westerwelle-Foundation ein Projekt, dass die Fluchtursachen in Afrika bekämpfen und vor Ort Perspektiven für junge Menschen schaffen will – mit einem Startup-Haus für junge Gründer in Kigali, der Hauptstadt Ruandas. Für die Projekte in Deutschland und in Ruanda stellt Evonik in den kommenden drei Jahren insgesamt drei Millionen Euro zur Verfügung.