Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungPolen: Schattenseiten eines Erfolgsmodells
Im Wirtschaftswunderland Polen ist eine hochnervöse, kämpfende Gesellschaft entstanden, die geprägt ist von Konkurrenzdruck und Ego-Fixiertheit. Von Wolfgang Templin (Warschau)
Für viele internationale Beobachter gilt Polen als Erfolgsmodell der mittelosteuropäischen Transformation. Es nutzte die finanzielle Unterstützung als neues Mitgliedsland der EU nach 2004 gut und erreichte vor 2008 jährliche Zuwachsraten von über sechs Prozent. Eine in erheblichen Teilen modernisierte Volkswirtschaft, Exportstärke und ein großer Binnenmarkt spielten hier eine entscheidende Rolle. Der befürchtete Einbruch der polnischen Landwirtschaft trat nicht ein, da auch hier die Brüsseler Milliarden wahre Wunder bewirkten.
Diese Voraussetzungen und ein einigermaßen solide aufgestellter Bankensektor ließen Polen auch viel besser mit den ersten Auswirkungen der Finanzkrise von 2008 umgehen als nahezu alle anderen europäischen Länder. Politisch stellt sich Polen mit der Dominanz der Liberalkonservativen Bürgerplattform (PO) unter Donald Tusk gegenüber ihren nationalkonservativen, rechten Widersachern und einer nach Skandalen in Trümmern liegenden polnischen Linken als stabilisierte Demokratie vor. Proeuropäische Signale und die Bereitschaft zur Wahrnehmung internationaler Verantwortung lassen die Zeiten nationaler Alleingänge und europaskeptischer Konvulsionen unter den Zwillingsbrüdern Leszek und Jaroslaw Kaczynski verblassen.
Allerdings zeigt eine genauere Auseinandersetzung mit der polnischen Gesellschaft, den Alltagsproblemen und dem Lebensgefühl der Menschen auch die Schattenseiten und sozialen Konfliktpotenziale einer nahezu beispiellosen Aufholjagd. Alltagserfahrungen wie auch sozialpsychologische Analysen lassen das Bild einer hochnervösen und kämpfenden Gesellschaft entstehen, die geprägt ist von Misstrauen, Konkurrenzdruck und Fixierung des Einzelnen auf sich selbst und seine unmittelbare Umgebung.
Mit der polnischen Geschichte und dem problematischen Erbe der Volksrepublik Polen ist das tief verwurzelte Misstrauen der meisten Menschen in die Institutionen des Staates und der Politik verbunden. Das Jahr 1989 sah das Land als ökonomische und ökologische Ruine, um Jahrzehnte gegenüber den Entwicklungsstandards vieler EU-Staaten zurückgeworfen. Hier kommt nun (neben den politischen Akteuren der Solidarnosc) der Vater des polnischen Wirtschaftswunders, Leszek Balcerowicz, ins Spiel. Er und seine Anhänger setzten sich nach 1990 mit dem Modell einer neoliberalen Schocktherapie durch. Der wirtschaftliche Erfolg schien ihm recht zu geben, bestärkte die neuen Eliten und sozialen Gewinner der Transformation in dem Glauben an die Allmacht des Marktes und die eigene Durchsetzungsfähigkeit. Gleichzeitig wurden die sozialen Verlierer mit der Ideologie von der „Flut, die alle Boote hebt“ versorgt, damit, dass wachsender Reichtum letztlich allen zugute käme und dass jeder Schmied seines eigenen Glückes sei.
Bis heute zeigt sich Balcerowicz unbeeindruckt von den international verheerenden wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Auswirkungen einer neoliberal geprägten Dekade und deren Auswirkungen auf Polen. Ohne offizielle politische Ämter innezuhaben, gehören er und zahlreiche seiner Schüler zu den einflussreichsten ökonomischen Stimmen des Landes. Sie streben eine weitere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes an und halten das Allheilmittel der Privatisierung für das marode Gesundheitssystem des Landes und die Probleme des Bildungswesens bereit. Die Tatsache von mittlerweile mehr als drei Millionen Polen unterhalb der offiziellen Armutsgrenze, stetig steigenden Preisen bei mittlerweile stagnierenden Reallöhnen und einer Arbeitslosigkeit, die sich landesweit der 15-Prozent-Marke nähert, lassen sie unbeeindruckt.
Konfrontiert mit diesen Schattenseiten des polnischen Erfolgsmodells, zeigt die Regierung Tusk Ratlosigkeit. Um Machterhalt bemüht, jagt ein Reformversprechen das nächste, wechseln Berater und Minister in Folge. Einer Weichenstellung, die auf Erfahrungen sozialer Marktwirtschaft setzt, den öffentlichen Sektor stärkt, Reformen im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialbereich nicht mit dem falschen Rezept der Privatisierung betreibt, stehen starke Interessengruppen gegenüber. Mit dem Niedergang der Solidarnosc als politischer Bewegung und der mit ihr verbundenen Gewerkschaft kam es zu einem Bedeutungsverlust der Gewerkschaften, sodass es an einer starken Interessenvertretung der atomisierten Arbeitnehmer fehlt. Teile der postkommunistischen Linken hatten sich während ihrer Regierungszeit in den Strudel einer neoliberal geprägten Politik hineinziehen lassen, erlitten Schiffbruch und bilden bis heute kein wirksames Gegengewicht.
Was sich in Polen heute regt, ist zunehmender Widerstand der am stärksten Betroffenen. Galt es vor 2008 noch als ausgemacht, dass Qualifikation und akademische Bildungsabschlüsse ein entscheidender Schlüssel für den Lebenserfolg der nachwachsenden Generation sind, hat sich das Bild gründlich verändert. Polen leidet unter einer hohen Jugendarbeitslosigkeit, Absolventen von Hochschulen und Universitäten bewegen sich auf einem Arbeitsmarkt, der ihnen eine Flut von Angeboten präsentiert, die kurzfristig sind und keinerlei soziale Sicherheit bieten.
Gegen diese sogenannten „Abfallverträge“ hat sich eine veritable Protestbewegung formiert, die von den Gewerkschaften unterstützt wird. Es sind auch die stabileren Branchengewerkschaften der Krankenschwestern, Pfleger und Lehrer, die sich gegen den Ausverkauf des öffentlichen Sektors wenden, wobei sie für Gesundheit und Bildung als Güter eintreten, die nicht den Spielregeln des Marktes unterliegen dürfen. Immer stärker rühren sich Mieterinitiativen, die gegen den sozialen Exodus im Wohnungsbau protestieren, gegen den Verdrängungswettbewerb bis hin zur Obdachlosigkeit.
Es fehlt eine politische Kraft, die die Stimmen des sozialen Protestes bündelt, die leer gefegte linke Seite des politischen Spektrums besetzt und dazu beiträgt, aus Polen ein wirkliches Erfolgsmodell zu machen. Dabei gibt es durchaus genug Menschen, die bereit sind, auf ein besseres Miteinander zu setzen und Gesellschaft positiv zu denken.
Text: Wolfgang Templin, Direktor des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau